Glücklicherweise hat das norwegische Friedensnobelpreiskomitee etwas dazu gelernt und Merkel den erhofften Friedensnobelpreis versagt. Apropos Versagen. Merkels Versagen in der Deutschlandpolitik, dem zugleich schwerste Belastungen Europas innewohnen, ist ein deutscher Sonderfall. Ihr notorisches Versagen in der Außenpolitik ist kein deutscher Sonderfall. Da segelt Merkel geschmeidig, unauffällig und in der Attitüde des sich Heraushaltens (Libyenkrieg) auf dem westlichen Dickschiff mit, das Käpt’n Obama seit seinem Amtsantritt 2009 auf Arabischem-Frühlingskriegskurs und Bürgerkriegskurs hält.
Im Angesichte ihres deutschlandpolitischen Versagens will Merkel nun hastig auf eine höchst nebulöse Weise die in Gang gesetzte Völkerwanderung umkehren, indem sie für eine politisch und humanitär erträgliche Lage in Syrien, im Irak, in Afghanistan und sonst wo sorgt. Wie dilettantisch ist das denn?
Die nun wirklich nicht neue Idee, dass ohne Obamas vergleichsweise plötzlichem Auftritt auf der politischen Weltbühne (mit seinen „Yes, we can“-Sprüchen und „Change“ und viel Dynamit) die alte Ordnung in der Region mit Ben Ali in Tunesien über Gaddafi in Libyen, über Mubarak in Ägypten bis hin eben zu Assad in Syrien auch heute noch bestünde und viele 100.000 Menschen ihr Leben nicht teils sehr grausam verloren hätten, ist ins Zentrum eines politisch erneuerten Denkens im Westen zu rücken. Das ist Step Nr. 1.
Der Hauptverursacher ist als solcher auszumachen und in Haftung zu nehmen. Es sind die USA, die dank des außenpolitisch unerfahrenen Obama – sicher in bester Absicht, aber sehr dilettantisch, was meist noch gefährlicher ist als die pure Bosheit, mit dem Willen die westliche Demokratie zu verbreiten, am besten mit Yasmin-Duft – eine nachhaltig gefährliche Lage im Maghreb und im Nahen und im Mittleren Osten geschaffen haben. Sie haben die Konsequenzen ihrer verfehlten Politik vorrangig zu tragen.
Der Guantanamo-Fortsetzer, der seit sechs Jahren sein Wahlversprechen bricht, das Gefängnis auf Kuba zu schließen (jetzt allmählich soll Guantanamo abgewickelt werden), der wenig befriedigende Verhältnisse im Irak übernommen hat, administriert in den Jahren seiner Amtszeit eine beispiellos katastrophale Politik der systematischen Staatsauflösung des Irak.
Obamas Afghanistanpolitik und Iranpolitik: mangelhaft
Obama hat Libyen mit freundlicher Unterstützung von Cameron und Sarkozy, die sich besonders hervortaten, ins Chaos gestürzt und hat in Ägypten einen zarten Laizismus des Diktators Mubarak beseitigt, wie soll man es sonst bezeichnen?
Obama hat die in Ägypten, einem Land mit Massenanalphabetismus und entsprechender religiöser Ausrichtung, sehr demokratische (Achtung Ironie!) Wahlen befördert, die den Moslembruder und Erdogan-Intimus Mursi an die Macht brachten. Mursi ist inzwischen, obwohl vom Westen wegen seiner (Achtung Ironie!) demokratischen Legitimation und Gesinnung unterstützt, von einer westlich ausgerichteten Militärregierung, die im Westen wegen fehlender demokratischer Legitimation gehasst wird, abgesetzt worden.
Im Iran hatte Obama 2009, gerade im Amt, junge demokratisch eingestellte Enthusiasten ermuntert, gegen das Mullah-Regime aufzustehen. Dann hatte derselbe Obama seine jungen demokratischen iranischen Freunde der oft tödlichen Rache des Regimes feige überantwortet.
Die USA sind jetzt aufgefordert, die Völkerwanderungsströme aufzunehmen
In Syrien hat Obama seine militärischen und strategischen Machtmittel endgültig überschätzt und ein gigantisches Chaos angerichtet. Seinen erklärten Feind Assad konnte Obama weder offen und direkt noch durch Stellvertreter-Rebellen, sogenannte gemäßigte moderate Rebellen, Terroristen und Revolutionäre beseitigen, was sein eigentliches Ziel war, an dem er bis heute starrsinnig festhält.
Obama und seine USA haben die Hauptursachen für den heutigen politischen, wirtschaftlichen Status quo, für den Bürgerkrieg, um den es sich handelt, und auch für das auslösende Moment der Völkerwanderung gesetzt. Die USA sind jetzt aufgefordert, in einer großen Aktion „Big lift“ die Völkerwanderungsströme aufzunehmen und in die USA zu bringen und dort zu entscheiden, ob sie aufgenommen werden, vorübergehend, dauerhaft, ob sie nach Syrien zurück gebracht werden.
Wer ganze Armeen in Millionenstärke an alle Plätze der Welt transportieren kann, und das schon seit Jahrzehnten, der kann auch Millionen Auswanderer in sein eigenes Land holen. Der in Sachen Völkerwanderung zugeknöpfte Obama muss von den im Moment vor allem betroffenen Europäern und deren Regierungen in die Pflicht genommen werden. Das ist Step Nr. 2, Mister President!
Erdogan wird von der westlichen Politik geschützt und hofiert
Obama hat offenbar die falschen Berater. Ob der großosmanische Phantasierer Erdogan sein Pferdeflüsterer ist, ist hier nicht bekannt. Dass Erdogan die Türkei immer weiter von Europa, dem Westen und der Nato entfernt, ist evident. Obwohl er die Türkei für die Nato immer verzichtbarer macht, wird Erdogan von der westlichen Politik wie ein heiliges Kalb geschont, gestützt und hofiert. Eine neue realistische klare politische Kante gegen Erdogan muss in die westliche, vollkommen verschwiemelte Türkeipolitik Einzug halten, das ist Step Nr. 3.
Die Türkei hat mit der Verfolgung ihrer eigenen, keineswegs völkerrechtlich lauteren Politik in Sachen Syrien wesentlich zum Status quo beigetragen. Das zu erkennen und anzuerkennen und in der westlichen Politik auch zum Tragen zu bringen, ist Step Nr. 4.
Die Türkei ist aus eigenem, vorangegangenen Tun verpflichtet, Aus-und Einwanderer nicht nur an der Grenze in unbewohnten Gebieten in Zelten oder Containern zu parken, sondern diese auch vernünftig zu versorgen, und zwar auf eigene Kosten. Fehlschläge in seiner osmanischen Reichspolitik muss Erdogan selbst hinnehmen und kann sie nicht Richtung Europa sozialisieren. Die Türkei kann auch nicht die Völkerwanderung nach Europa durchreichen und dann sagen: Einbahnstraße. Die semipermeable Grenzpolitik der Türkei ist menschenverachtend und europafeindlich. Die Verpflichtung der Türkei, die Völkerwanderung aufzunehmen und aus eigenem Recht anzuerkennen, dass sie als wesentlicher Mitverursacher der Krise haftet, ist Step Nr. 5.
Die türkische Kurdenpolitik ist nicht permanent zu vernebensächlichen, sondern gehört auf den Prüfstand westlicher Politik. Das ist Step Nr.6.
Die türkische Isis/Anti-Isis-Politik gehört auf den Prüfstand der westlichen Politik. Das ist Step Nr. 7.
Im selben Atemzug gehört auch die amerikanische Isis/Anti-Isis-Politik schonungslos auf den Prüfstand. Haben die USA das Entstehen und Wachsen von Isis aktiv und duldend unterstützt? Oder haben sie Isis bekämpft? Wie konsequent bekämpfen die USA den IS?
Das ist eine Frage, die von den Bündnispartnern der USA, demokratisch und rechtsstaatlich, wie es sich gehört, geklärt werden muss. Die Amerikaner müssen gezwungen werden, ihre Karten offenzulegen. Das ist Step Nr. 8.
Erdogan träumt gewiss vom Verschwinden Assads. Das Machtvakuum in Syrien, das Assads Verschwinden erzeugte, ist Erdogans Leckerbissen. Großosmanien denkt er gewiss nicht besonders kleinlich.
Bleibt die der westlichen Politik entglittene, ins Kosmische reichende, den Blick auf die Realitäten versperrende und nur noch mit psychischen Ausnahmezuständen erklärbare Verteufelung Assads. Man hat den Eindruck, dass die westlichen Politfürsten im Anti-Assad-Rausch rotieren und im Assad-muss-weg-Wahn, koste es, was es wolle, und sei es, dass die Welt unterginge, schwelgen, bevor sie überhaupt in der Lage sind, über Politik in der Region nachzudenken.
Nach zwei Jahren frustrierender Syrienpolitik ringen sich die westlichen Politiker mühsam dazu durch, zwar bei ihrem Mantra „Assad muss weg“ zu bleiben, aber gleichzeitig zu bekunden, mit Assad auch sprechen zu wollen. Die Realität Assad als solche anzuerkennen, ohne sich gleichzeitig in Psychoverrenkungen zu ergehen, das ist Step Nr. 9.
Bis Putin vor knapp zwei Wochen mit Luftschlägen in das syrische Geschehen eingriff, war Russland ein eher passiver und reaktiver Randbeteiligter, was das Geschehen im Nahen und Mittleren Osten und auch in Syrien anbelangt. Der große Verursacher der aktuellen gigantischen Katastrophe im Nahen Osten kann Putin, selbst wenn er der Teufel in Person sein wollte, nicht sein.
Putin und sein Russland, das die zweitstärkste Atommacht der Welt ist, sind ein real existierendes Faktum
Die westliche Politik muss aufhören, sich darin zu ergehen, Putin zu einem Ungeheuer zu reden. Das sind eigene Psychoverklemmungen der westlichen Politiker, die da zum Zuge kommen. Putins Rolle in der Region anzuerkennen, die übrigens auch räumlich Russland sehr viel näher liegt als Amerika, ohne Wenn und Aber, das ist Step Nr. 10.
Putin zu kritisieren ist mehr als legitim, mit Russland gemeinsam eine rasche Lösung der Syrienkrise und der Irakimplosion zu erzwingen, das ist gekonnte Realpolitik. Und gekonnte Realpolitik zur Lösung der Syrienkrise, Irakkrise und anderer Krisen, die im Kontext stehen, zu beginnen, das ist Step Nr. 11.
Putin stabilisiert Assad, der seinerseits, ungeliebt, eine faktisch-positive Rolle bei einem Wiederaufbau Syriens spielen kann. Die USA führen ihre seltsame Anti-Isis-Allianz, die sie mit seltsamen Freunden und Finanzierern von Isis, zu denen sie auch schon selber gehörten, gemeinsam gebildet haben, zu dem angeblich angestrebten Sieg über Isis. Und mit dieser Arbeitsteilung ermöglichen Russland und die USA eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung in der Region, und Assad geht in ein selbst gewähltes Asyl. Das ist Step Nr. 12.
Der Westen hat nolens volens schon oft mit Regimen verhandelt, an deren Händen sehr viel mehr Blut klebte als an Assads Händen kleben kann. Es geht immer um die Zukunft und nicht um rückwärtsgewandte Rechthaberei.
Es gab keine Auswanderung
Schaut man nicht mit ideologischer Verklemmung in die Zeit zurück, als die vom Westen unterstützten Regime von Tunesien bis Syrien noch funktionierten, dann steht eines fest. Es handelt sich um Diktaturen, die gigantische Mehrheiten tatsächlich hinter sich hatten. Die Menschen hatten sich eingerichtet und auf ihr persönliches Fortkommen geachtet. Und anders als die DDR-Bürger konnten die Menschen auch ihre Länder verlassen und reisen, wenn sie das Geld dazu hatten. Auswandern wäre für den Einzelnen ein Leichtes gewesen, aber es gab keine Auswanderung.
Die Hauptgegner im Inneren waren unterdrückte Islamisten, die keine demokratischen oder rechtstaatlichen Motive im Kopf hatten. Die Rechte der Frauen wurden von den Diktatoren eher gefördert als unterdrückt. Die Rechte religiöser Minderheiten, etwa der Christen, waren weitgehend gewahrt. Darauf wies der Grandseigneur der SPD, Klaus von Dohnanyi, jüngst in einer Diskussion konkret in Bezug auf Assad ausdrücklich hin.
Und wie sieht es nach Obamas Aufmischen der Region heute mit den Rechten der Frauen und den religiösen Minderheiten aus? Wie sehen heute die Prognosen der wirtschaftlichen Entwicklung aus?
Makaber: Heute lassen die männlichen Auswanderer die Frauen im Stich und der Gefahr ausgesetzt, von religiösen Fanatikern bedrängt zu werden.