Am Sonntag waren es 28 % der Franzosen, die Marine Le Pen und ihrer oder ihrem Front National (das „der“ oder das „die“ geht im öffentlichen Sprachgebrauch kunterbunt durcheinander) ihre Stimme gaben. Jeder zweite Franzose ist nicht zur Wahl gegangen und dies wohl weniger aus Desinteresse als vielmehr aus hilfloser Unzufriedenheit und Resignation.
Nach allem, was sich zurzeit erkennen lässt, ist die Wählerschaft Le Pens, soziologisch betrachtet, nicht sehr weit entfernt von dem, was man den Durchschnitt des Landes nennen könnte. Bei jungen Franzosen konnte sie punkten, ebenso bei kleinen Leuten, bei Mittelständlern und sogar in geringerem Maße in der Oberschicht. In sozialistischen Hochburgen, alten Arbeiterrevieren schnitt Marine le Pen überdurchschnittlich gut ab. Interessant: Die Gruppe der Menschen jenseits des Rentenalters scheint am wenigsten von Le Pen angefixt zu sein.
Es trifft zu, dass die Regionalwahlen ganz überwiegend von den Themen Migration, Integration, Einwanderung, Terrorismus, Arbeitslosigkeit und dem Niedergang der französischen Wirtschaft bestimmt waren und umgekehrt regionale Themen, über die allein die Regionalparlamente Entscheidungen treffen könnten, eine untergeordnete Rolle spielten. Die Grande Nation mit ihrer im Zweifel recht klapprigen Force de frappes und ihren immer noch nicht ganz begrabenen Träumen von Weltgeltung, von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Laizismus, von Égalité und Fraternité, diese Grande Nation hat seit den Tagen ihres großen alten Mannes, Charles de Gaulles, kontinuierlich verspielt, was verspielbar war.
Kontinuierlich verspielt, was verspielbar war
In einer schon an Borniertheit grenzenden Selbsteinschätzung haben die französischen Regierungen, und das heißt vor allem ihre Präsidenten, die Dinge laufen lassen und stets den Weg des allergeringsten Widerstandes gewählt. Frankreich mit seinen Bürgern, die so leidenschaftlich und kontrovers politisch diskutieren, ist in seinem ganz speziellen nationalen politischen Mainstream abgesoffen.
Die kommunistisch oder sagen wir gnädigerweise eurokommunistisch dominierten Gewerkschaften hatten ihre Jahrzehnte, in denen sie die politische Kultur und schließlich auch die reale Politik wesentlich beeinflussten. Und die spezielle Ausprägung der Westlinken in Frankreich, die man auch dort 68er nennt, haben das Land und die sogenannte politische Elite seit damals bis heute komplett im Würgegriff und dies noch ärger als in Deutschland und ohne jede minimalkritische Diskussion über die verheerenden Verwerfungen, die diese Bewegung in Frankreich hervorgerufen hat und bis heute hervorruft.
Der Staat ist schon lange zu einem Selbstbedienungsladen für alle möglichen Interessengruppen für Arbeitnehmer, für Staatsdiener, für die Agrarwirtschaft, für die Industrie, für Kapitalisten und viele Gruppen mehr geworden und auch ein El Dorado für Migrantenfunktionäre. Am gesellschaftlichen Machtgefüge lässt sich vom Elysee Palast aus, der mit für deutsche Verhältnisse außerordentlichen Machtbefugnissen ausgestattet ist, kaum etwas ändern. Die Chose ist schon lange ziemlich verfahren und das betonfest.
Die pädophilen Exzesse im linken Lager wurden nie ernsthaft aufgearbeitet. Das Thema des linken Terrorismus, der sich zu einem großen Teil nur in Frankreich abspielte, aber kein originär französischer war, wurde nie aufgearbeitet. Und die vielen Exzesse der 68er werden bis heute glorifiziert, unter anderem auch als heldenhafter Antikommunismus, denn als solche Antikommunisten stellen sich die Popkommunisten und 68er-Ikonen Frankreichs von Cohn-Bendit bis Andre Glucksmann gerne selber dar. Selbst das „Schwarzbuch des Kommunismus“, das die Verbrechen der Kommunisten in der Sowjetunion und China auflistet und anprangert, ist von ehemaligen französischen Maoisten verfasst worden, die ihre frühere ideologische Brille nicht ganz absetzen konnten. Jemand anderes als ein Renegat hätte allerdings in der französischen Gesellschaft, in der das Wort „Revolution“ zur Muttermilch gehört, auch keine Chance gehabt. Das Wort „Revolution“ wird in den Köpfen der meisten Menschen nun einmal blutrot geschrieben.
In Frankreich ist das Wort „Revolution“ Bestandteil der Muttermilch
Das Land, in dem es vergleichsweise viele Hyperkapitalisten gibt, dreht links und dies völlig unabhängig davon, ob zuletzt ein Sarkozy oder ein Hollande, zwei eigentlich ziemlich gegensätzliche Typen, auf dem Präsidententhron saßen. So ist Frankreich, das Mutterland der Revolution, schon lange in einer intellektuell miefigen Eindimensionalität erstickt. Eine immer trashiger werdende Selbstglorifizierung hat dem schönen und lebenswerten Frankreich und seinen sympathischen Bürgern arg zugesetzt.
Beispiel Fernsehen. In Deutschland ist das Fernsehen von den öffentlich-rechtlichen bis zu den „Unterschichtensendern“ niveaulos genug, was an der Allmacht kaum etwas ändert. Wer in Frankreich vier Wochen Fernsehen genossen hat, kann leicht Heimweh kriegen. Und das will wirklich etwas heißen.
Frankreich ist ein Land mit Hunderten von Brennpunkten, in denen das tatsächliche physische Brennen Routine ist. Frankreich ist ein Land mit aufgegebenen No-Go Areas. Der Integrationsstand ist wahrhaft unzureichend. Der französische Staat lebt über seine Verhältnisse, die französische Volkswirtschaft belastet den Euro und leidet unter dem Euro. Bürgschaften der Bundesrepublik für den französischen Staat, beispielsweise unter dem Dach der sogenannten Rettungsschirme, sind Wechsel mit höchstem Risiko und es widerspricht dem Stolz der französischen Seele, an einem ausländischen Tropf, gar an einem deutschen Tropf, zu hängen.
Das Wort „Reformen“ ist angesichts der französischen Entwicklung der letzten sechzig Jahre ein Dauerbrenner in der sozialistisch durchfluteten französischen Gesellschaft. Die maroden, überaus großzügigen Sozial-und Rentensysteme, die üppige rechtliche Ausgestaltung der Verfassung des Arbeitsmarktes durch unendlich viele Regeln, die eine Wohltat auf die vorangegangene setzten, schränken die Fähigkeit zu den immer und überall geforderten Reformen auf nahe Null ein.
Der Karren ist ziemlich fest gefahren
Das ist der Humus, auf dem ein Front National wächst: so die eine Betrachtungsweise. Die andere, wahrscheinlich realistischere, ist die Annahme, dass es immer mehr und auch gerade immer mehr jungen Franzosen richtig stinkt, den maroden Status quo der etablierten politischen Parteien und Institutionen jeden Tag aufs Neue zu fressen.
Macht kaputt, was euch kaputt macht – diese bei Mao Tse Tung geklaute Wunderformel der einst von der Grünen Claudia Roth gemanagten Band „Ton, Steine, Scherben“ könnte ein Gefühl vieler Franzosen beschreiben, die sich sagen, dass die verkrusteten Strukturen aufgebrochen werden müssen und dies nahezu koste es, was es wolle.
Die Marie-Antoinettes im Elysee Palast sollen abdanken. Die wahrhaft royale Finanzausstattung des französischen Präsidenten ist ein Symptom für die Verderbtheit des Systems. In Saus und Braus leben, links reden, rechts das Geld aus dem Fenster werfen, dieses System hat in Frankreich tatsächlich abgewirtschaftet. Wie tief muss Frankreich noch sinken, um aus seiner selbst gebauten Falle, so es noch Möglichkeiten gibt, heraus zu kommen.
Dieses Frankreich ist in Wahrheit eine Hypothek für Europa und darin unterscheidet es sich nicht von der Gesellschaft manch eines anderen Eurolandes. Wer Europa einen Dienst erweisen will, muss sich nicht mit Symptomen und auch nicht mit Marine Le Pen allzu lange aufhalten, sondern muss radikal, das heißt an die Wurzel gehend, erforschen wo die Probleme liegen. Er muss unideologisch versuchen, die Realität zu erfassen, und dann unideologisch Therapien entwickeln. Die Zahl der Franzosen, die kapieren, dass der Karren gegen die Wand fährt, wächst und das obwohl, um auf die Wahl von vergangenem Sonntag zurück zu kommen, der von 28 % gewählte Front National im öffentlichen Raum gebetsmühlenartig oder besser maschinengewehrartig dämonisiert, diffamiert, diskreditiert und beschossen wird.
Die verdächtige monströse Verteufelung Le Pens ist kostenlose Werbung
Damit kommt man automatisch zu einem besonders düsteren Kapitel historischen Versagens der von der Pressefreiheit geschützten, sich selber für die vierte Gewalt im Staate haltenden Medien.
Die permanente, ziemlich verdächtige monströse Verteufelung Le Pens, die in den Medien ununterbrochen zur Schau gestellt wird, nützt Le Pen wie kostenlose Werbung. Die Zeiten, in denen die Mediengeiferei der Front National schadete und ihren Aufstieg bremste, sind längst vorbei und man hat den Eindruck, dass die Helden von der Anti-Le-Pen-Front zwar sich selbst mühselig als politisch korrekt präsentieren wollen, aber mancher insgeheim das abgewirtschaftete System von einer starken Le Pen, die möglichst Andere an die Macht bringen sollen, gerettet wissen will.
Die Lässigmanie, die in den Medien Platz greift, ist dekuvrierend. Überall schwadronieren Kommentatoren, dass die französische Elite seit Jahrzehnten versagt hätte, ohne, dass irgendein konkretes Versagen benannt wird, geschweige denn konkrete Lösungen angeboten werden. Die Feigheit der Medien ist grenzenlos. Es wird vom Niedergang Frankreichs geredet, den die Eliten seit Jahrzehnten nicht verhinderten, von aufgegebenen Regionen, hoher Arbeitslosigkeit. Aber Niemand traut sich in dem hochideologisierten Mainstream die heißen Eisen anzupacken. Und da ist die wieder, die gespenstische Einigkeit der Medien, dass alles Schlimme in Frankreich furchtbar schlimm wäre, beinahe schon Untergang, aber dass Le Pen mit ihrem Front National noch schlimmer wäre als der Niedergang Frankreichs, schlimmer wäre als Terrorismus, Islamismus, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Verwahrlosigkeit, Entwertung, Kriminalität, alles auf einmal.
Jeder mag Le Pen nach Herzenslust ablehnen, ihr allerdings einen solchen Stellenwert einzuräumen, sie als „gefährlichste Frau“ Europas oder gar der ganzen Welt mit extraterrestrischer Zerstörungskräften zu bezeichnen, ist uneingeschränkt sinnlos.
Die Feigheit der Medien
Wie schon ausgeführt, erweckt die umsubstantiierte Maßlosigkeit, in der sich die durch und durch zerstrittenen etablierten Parteien von konservativ bis links ergehen, genau wie dies auch seinen Wiederhall in den Medien findet, den Eindruck, als hätte Le Pen auch bereits viele Köpfe im Establishment längst auf ihre Seite gezogen. Den von eigentlich allen geforderten Kurswechsel in der französischen Politik, besser Paradigmenwechsel, von dem viele träumen, trauen viele ihrer Kritiker insgeheim nur noch der gehassten starken Frau zu.
Der Sozialist Hollande mit dem Hang zum Luxus adaptiert Vorschläge oder Vorstellungen Le Pens, ohne, dass es ihm bisher nützte. Die Grünen und die Kommunisten haben bei der Wahl am vergangenen Sonntag verloren. Die politische demokratische Auseinandersetzung mit dem Front National, die nicht nur irgendein Privileg für irgendwelche politischen Lager ist, sondern die ein Gebot in einem Verfassungsstaat darstellt, fehlt in Frankreich wie auch im Rest Europas. Dumpfes, einfallsloses Verteufeln und selber alles dazu beitragen, dass die Dinge offenkundig in die falsche Richtung laufen, ist kein werthaltiger Kampf gegen Le Pen.
Sowohl die sozialistische Tageszeitung „L’Humanitain“ als auch der konservative „Figaro“ titelten am Tag nach der Wahl mit den Worten „Le choc“. Da zeigt sich der Gleichklang der Einfallslosigkeit , die beide politischen Lager beherrscht. Dass die sich für geschockt erklärten Medien in Wahrheit natürlich gar nicht geschockt sind, sondern nur noch bedienen, wovon sie glauben, was von ihnen erwartet wird, ist ziemlich offensichtlich: Vorgestanzte Empörung, die allerdings saft-und kraftlos und vorallem geistlos rüber kommt.
Ein knappes Drittel der französischen Wähler, die aus allen Schichten und Altersgruppen kommen, als „rechtsextrem“ zu brandmarken, ist so verlogen wie der längst verkommene und verderbte Kampf gegen irgendein diffuses Rechts, das man in Frankreich wie auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern als potemkinsche Fassade vor sich herführt. Wer Le Pen weghaben will, muss sich der Realität stellen. Wie die Rohrspatzen auf sie los schimpfen und „rechtsextrem, rechtsextrem, rechtsextrem“ schreien, ist zu primitiv – ein Rohrkrepierer.
Deutsche Welle ergeht sich in Le Pen-Psychologie
Die deutsche Welle, jenes eigentümliche Auslandssprachrohr der Bundesregierung mit journalistischer Unabhängigkeit, hat sich den größten Unfug erlaubt. Sie psychopathologisiert gemeinsam mit einem einschlägigen französischen Psychotherapeuten die Familie Le Pen und ergeht sich in abstrusen „Vatermord“ und „Tantenmord“-Phantasien, was an selbstentlarvender Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten ist.
Das dort verbreitete Geschwülste ist nicht mehr nur flachgeistig, sondern schlimmer, es ist komplett verwirrt. Da verbreitet die Deutsche Welle ernsthaft, dass die heute 25 jährige Marion Maréchal-Le Pen, Nichte und Mitstreiterin von Marine Le Pen schon als „Zweijährige“ auf den „Armen“ ihres Großvaters Jean Marie Le Pen „für den Front National“ geworben habe. Altgriechisch tragödial echauffieren sich der Herr Psychologe und die Deutsche Welle gemeinsam und konstruieren einen erbbiologischen Sippenungeist. So schließt der erbbiologische Sippenbericht mit den Worten des Psychoanalytikers: „Dieses familiäre System ist ja das Abbild einer bestimmten Ideologie des Front National“ (…) „Das ist eine Ideologie, die alles Andersartige ablehnt. Man bevorzugt die Endogamie, schläft lieber mit der Schwester und Kusine als mit der Nachbarin.(…)“ Damit begeben sich sowohl die Deutsche Welle als auch der Psychologe als offenkundige Komplettlaien auf ein Terrain, auf dem schon viele Ungeister gestrauchelt sind. Dieses Interview der deutschen Welle zeigt aber exemplarisch, wie sich Medienmacher an allen Inhalten vorbei geradezu persönlich an Le Pen und ihrer Partei reiben. Bloß nicht über Politik reden.
Mag sein, dass im kommenden zweiten Wahlgang die Vertreter des Front National von manch einer Rechts-Links-Koalition ausgetrickst werden. Die Probleme Frankreichs, die auch die Probleme Europas und des Westens sind, bleiben. Die Tatsache des Zuspruches für Le Pen durch ein knappes Drittel der französischen Wähler bleibt und die politische Auseinandersetzung mit der Le Pen-Partei ist alternativlos.
Allerdings: Die entideologisierte Wahrnehmung der politischen Realitäten und eine logikbasierte Suche nach Lösungen und Verbesserungen der aus dem Ruder laufenden Realität sind auch ohne Alternative.