Helmut Kohl ist der Mann, ohne den der Wiedervereinigungsprozess Deutschlands 1989/90 in Turbulenzen geraten wäre. Helmut Kohl hatte schon 1982, als er durch sein erfolgreiches Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt Bundeskanzler wurde, auf seine ganz persönliche Art, wenig intellektualistisch, aber sehr straight die verworrene Hinterlassenschaft der sozialliberalen Koalition Helmut Schmidt/Hans-Dietrich Genscher geordnet. Die Republik wurde durch sein So-Sein in ruhigere Gewässer gesteuert.
Da hilft ein Blick zurück auf den hysterisierten Fanatismus, mit dem die jungen Grünen und altgewordenen 68er den sogenannten Nato-Doppelbeschluss bekämpften: Es ging um Nachrüstung durch Installation von Pershing II-Raketen auf dem Boden der Bundesrepublik gegen die Vorrüstung der sowjetischen Seite durch Installierung von SS 20-Raketen auf dem Gebiet der DDR. Dagegen tobte der Kampf: auf den Straßen, in den Universitäten, in Kirchen, Gewerkschaften und überall im Land. Das hat die Bundesrepublik damals wenig günstig beeinflusst; und der Mechanismus der kollektiven Erregung hat sich seither perfektioniert und das Land destabilisiert.
Die Gesellschaft war schon damals gespalten. Es ging um nicht weniger als den atomaren Weltfrieden oder besser, um das Gleichgewicht der gegenseitigen atomaren Abschreckung. Das „linke“ Lager, in dem auch damals Ostberlin noch propagandistisch mitmischte, hatte die Gesellschaft regelrecht enthirnt. Helmut Schmidt hatte seine SPD nicht mehr im Griff; ein gewisser Oskar Lafontaine und der Säulenheilige Erhard Eppler und die ihren hatten die SPD entkernt. Auch die FDP war damals Stasi-unterwandert, siehe das unheilvolle Spiel ihres Stasi-Bundestagsabgeordneten William Borm und seinen Leuten, die sich de facto für die atomare Überlegenheit des Unrechtsregimes Ostblock damals einsetzten. Sie alle scheiterten an Kohl.
Heutzutage tönen viele, dass die Mehrheit der Gesellschaft friedensbewegt, pazifistisch gegen die Nato-Nachrüstung gewesen wäre, was ich entschieden bezweifeln möchte. Der laute Teil der Gesellschaft war tatsächlich gegen die Nachrüstung, die sich aus der Rückschau unbestreitbar als richtig und als einzige Handlungsalternative erwiesen hat.
Kanzler Helmut Kohl brachte die Sache, die Helmut Schmidt formuliert und begonnen hatte, im Dezember 1983 zum Abschluss. Pershing II-Raketen und Cruise-Missiles, die wurden nachgerüstet. US-Präsident Ronald Reagan, das rote Tuch der Linken weltweit und eben auch Kanzler Helmut Kohl hatten im Kalten Krieg dem Warschauer Pakt gezeigt, dass der Westen abwehrbereit ist und sich nicht durch irregeleitete Kräfte im eigenen Land so einfach destabilisieren läßt.
Helmut Kohl hat dem Westen einen großen Dienst erwiesen. Auch beim Krisenmanagement in Sachen Vereinigung von BRD und DDR war er der Mann, den die Geschichte in der Stunde brauchte.
SPD-Kanzlerkandidat Lafontaine, der die SPD nachhaltig in eine historische Krise getrieben hat, von der sich die gute alte Tante bis heute nicht erholt hat, hätte jedenfalls den Wiedervereinigungsprozess torpediert und verstümmelt.
Helmut Kohl war der Kanzler, der die Grünen und die 68er aussitzen wollte – die dann allerdings ihn erfolgreich ausgesessen haben. Joschka Fischer, erster grüner Vizekanzler und Außenminister, sagte mir in einem Interview im April 1998, das er mir in seinem Bonner Abgeordnetenbüro gegeben hat, ganz klar im Hinblick auf die anstehende Bundestagswahl: Wir schicken die Konservativen jetzt in die Opposition! Zu diesem Zeitpunkt kämpfte Helmut Kohl nach 16 Jahren Regierungszeit noch ernsthaft um seine Wiederwahl. Er hatte die Zeichen der Zeit nicht mehr erkannt.
Ich habe Helmut Kohl im Januar 2000 im Abgeordnetenhaus der CDU Unter den Linden/Wilhelmstraße getroffen. Obwohl Merkel bereits die CDU-Fäden in der Hand hielt, residierte Helmut Kohl noch in der Königinnen-„Suite“: Das Gebäude war das Bildungsministerium einer gewissen Margot Honecker gewesen, und Helmut Kohl hatte sein Büro in eben dem Bonzentrakt Margot Honeckers aufgeschlagen. Edel, aber nur noch geduldet.
Ich hatte Kohl um ein Strategiegespräch gebeten, weil ich wissen wollte, wie er und die CDU die Lage einschätzten, wenn ich meine Recherchen zu der extremen Gewaltvergangenheit Joschka Fischer veröffentlichen würde und ob überhaupt eine solche Veröffentlichung gegen die eiserne Mehrheitsmeinung in den deutschen Medien machbar ist.
Helmut Kohl hatte sich Zeit genommen, war hoch interessiert und voller Elan. Ihn drückten damals schwarze Kassen der CDU. Helmut Kohl bezeichnete diesen Joschka Fischer mir gegenüber als ein „Krebsgeschwür“ im Deutschen Bundestag. Ein sehr hartes Wort. Für ihn waren die Fronten klar. Für seine Nachfolger nicht mehr. Dabei ging es weniger um Personen, sondern um eine Haltung zu Staat und Gesellschaft. Seither folgt die Union wie willenlos jeder grünen Regung, nimmt sie, wie die Energiewende, sogar vorweg.
Helmut Kohl war, wie in den Pressekonferenzen seiner letzten Amtsjahre schon zu besichtigen war, ein launiger Typ. Ich war überrascht, wie gelassen und frei er von allen 68er-Blessuren war. Kohl war weder positiv noch negativ angefixt, obwohl er zu diesem und jenem Protagonisten eine sehr klare Meinung hatte. Und er wusste auch einiges zum Beispiel über die Unterstützerkreise der RAF, die, wie er sagte, auch an der Hamburger Elbchaussee saßen und anderen vornehmen Orten der Republik.
Er erzählte mir, wie sich die 68er, Journalisten, Politiker, Karikaturisten – man erinnert sich an den Dauerwitz, dass die „Birne“ nicht lange im Amt bleiben würde – in allen Medien an Kohl abgearbeitet hatten. Er lachte darüber. Vielleicht unterschätzte er den rot-grünen Mainstream, der nach ihm vieles mitgerissen hat und noch weiter mitreißt.
Damals habe ich auch mit vielen hochrangigen Politikern über das Thema gesprochen, unter anderem mit Wolfgang Schäuble oder mit Wolfgang Gerhardt, den damaligen FDP-Chef und Fraktionschef im Bundestag, aber auch mit Michael Glos, Johannes Rau und Gregor Gysi und mit vielen Mediengewaltigen, Chefredakteuren, Intendanten wie WDR-und ARD-Chef Fritz Pleitgen. Sie alle waren in Sachen Grün, in Sachen 68 betroffen. In seiner Gelassenheit zeigte sich die Ausnahmepersönlichkeit Helmut Kohls.
Helmut Kohl hat den Euro durchgesetzt. Jedenfalls wäre der Euro ohne oder gegen ihn nicht zustande gekommen. Er wollte den europäischen Traum mit dem schnöden Mammon zusammenschweißen, sicher in bester Absicht, aber gewiss auch um der eigenen Unsterblichkeit willen. Leider ist der Euro für die einen Volkswirtschaften zu teuer und für die anderen zu billig, was zu einer ständigen Zerreißprobe in der Eurozone führt. Kohl hat die Wirkung eines falschen „Bimbes“ unterschätzt. Das war vermutlich sein historischer Fehler. Es gibt einen zweiten.
Denn wir verdanken ihm ja alle auch noch Kanzlerin Angela Merkel, die eben nicht, wie gescherzt wird, die letzte Rache Erich Honeckers ist, sondern viel eher die letzte Rache Helmut Kohls. Er war der letzte Kanzler vor rot-grün. Gertrud Höhler schreibt zu Recht in Ihrem neuesten Buch: Angela Merkel habe das Kunststück fertig gebracht, dass die CDU wieder Wahlen gewinnt, aber die SPD regiert. Kohl wird darüber in seiner gelassenen Art laut gelacht haben.