Streng nach den Regeln der in Europa wenig demokratisch entstandenen Antidiskriminierungsgesetze, die nur nachbeten, was die Verfassungen ihrerseits bereits hinreichend regeln, dürfen private Firmen Musliminnen das Tragen des Kopftuches nach den dort genannten Regeln verbieten, so der europäische Gerichtshof in Luxemburg in seiner Entscheidung von vergangenem Montag.
Dieses Urteil des EuGH steht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus 2015 allerdings diametral entgegen:
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2015 in einer schlecht formulierten, sehr durchsichtig auf einen gewollten Erfolg hin begründeten Entscheidung das Tragen des Kopftuches, weitestgehend uneingeschränkt im öffentlich-rechtlichen Bereich, konkret für Lehrerinnen an einer Schule, nämlich gerade gestattet, oder besser, durchgesetzt.
Das Bundesverfassungsgericht hat damit, um es etwas überspitzt zu formulieren, den Weg für die erste Burka am Richtertisch des allerobersten deutschen Gerichtes in absehbarer Zeit freigemacht, indem es wesentlich auf die subjektive Wahrnehmung der religiösen Kopftuchtragepflicht der betroffenen Musliminnen abhob. Das Urteil aus 2015 liest sich auch heute noch so, als hätten die Richter sich selber unter Druck gesetzt, das Kopftuch im öffentlichen Raum unter allen Umständen durchzudrücken und damit auch ein Urteil des eigenen Gerichts aus 2003 irgendwie „wieder gut zu machen.“
Das damals ebenfalls klar formulierte und zu Ende gedachte Minderheitenvotum der beiden Verfassungsrichter Schluckebier und Hermanns (siehe unten), die sich dem Mehrheitsvotum des Senats des Bundesverfassungsgerichtes nicht angeschlossen haben, deklassierte allerdings die Mehrheitsentscheidung des Senats.
Das Kopftuch per se könne nicht sprechen
Es ist ein bekanntes Phänomen: Je nach politischem Diskurs und aktuellem Kontext hört man regelmäßig von denselben Diskutanten unterschiedlichste und einander widersprechende Meinungen stets im Brustton der Überzeugung und mit viel Moralin angereichert.
Im Genderdiskurs gibt es bekanntlich keine Männer und keine Frauen, der biologische Unterschied sei reine Imagination im Auge des seit 100.000 Jahren (!) verblendeten Betrachters. Das Kopftuch allerdings ist ein religiöses Bild, Zeichen oder Symbol, das nur Frauen angeht. Es ist also eine frauenspezifische Körperbedeckung. Nix Gender. Oder haben Sie schon einmal einen kopftuchtragenden Mann gesehen?
Die Inbrunst der nichtmuslimischen Verteidiger des Kopftuchs in den Medien, in Politik und Gesellschaft, vor allem männlicher Provenienz, gleichsam die Inbrunst des „bösen weißen Mannes“, ist verräterisch. Die meisten wissen nicht, wovon sie sprechen und dies weder, was das Tragen eines Kopftuchs, noch was die Religion, noch offenbar, was die Verfassung anbelangt.
Das Bundesverfassungsgericht befasst sich in seiner Entscheidung zum Kopftuch von 2015 wiederholt mit der Frage der Rechtsstellung der Frau in der Gesellschaft. Allerdings nur pro forma, verklausuliert und gänzlich inhaltsleer. Warum sich eine Religion nicht dem Grundgesetz anzuschließen oder warum das Grundgesetz sich der Religion zu beugen hat, was das Kopftuch genau ist oder sein soll, was es bewirkt, sozial wie individuell, soziologisch, kulturell, damit mag sich das Bundesverfassungsgericht nicht auseinandersetzen. Es verweist auf „zwei Stellen“, auf die sich Kopftuchträgerinnen berufen hätten, allerdings zitiert das sonst zitierwütige Bundesverfassungsgericht diese Stellen nicht und liefert folglich auch keine wissenschaftlich exakte Exegese.
Bilder sagen mehr als tausend Worte, das ist eine allgemeingültige Weisheit, die der Realität entspricht. Das wussten schon frühe Religionsstifter besonders gut. Bilder, Symbole und hier vor allem visualisierbare einprägsame Bilder, haben de facto sehr leicht und sehr schnell normative Wirkung.
Die implizite Behauptung des Bundesverfassungsgerichtes, das Kopftuch per se spreche ja noch nicht und könnte deswegen auch nicht bei einem Staatsvertreter eine gegen die staatliche Neutralität verstoßende beeinflussende Wirkung, selbst im Verhältnis Lehrer-Schüler nicht, entfalten, ist lächerlich:
Zwischen Staat und Bürger gibt es anerkanntermaßen ein öffentlich-rechtliches Subordinationsverhältnis. Das macht Staatsgewalt aus. Es gibt aber den Staat nicht wirklich, sondern es gibt einen Staat, der erst durch seine Staatsdiener Wirklichkeit wird. Dieser Tatsache geschuldet fühlen sich ja manche Staatsdiener auch wie Ludwig der XIV: L’État, c’est moi!
Zwischen Lehrern und Kindern gibt es aber nicht nur dieses allgemeine öffentlich-rechtliche Subordinationsverhältnis, sondern es gibt auch das faktische Subordinationsverhältnis Erwachsener gegenüber Kind, Lehrer mit Schulnoten- und Versetzungskompetenz gegenüber Schüler, weshalb dem schon erwähnten Minderheitenvotum, das diese Tatsache anspricht, zuzustimmen ist. Deswegen ist die bloße Behauptung des Bundesverfassungsgerichtes, dass das Kopftuch der Lehrerin im Frontalunterricht unter Neutralitätsgesichtspunkten des Staates irrelevant wäre, ziemlich absurd.
Kinder wissen noch nicht einmal, welches ihre eigenen Interessen an einer neutralen Erziehung ihrer selbst sind. Sie gehen in die Schule, um sich vom Lehrer belehren zu lassen, das ist die Schuldynamik und da achten sie, wie jeder Mensch, auf jedes Zeichen und reagieren mit Nachahmung, sich lieb Kind machen, sich vor Zensuren fürchten und mit Neugierde usw.usw. Wie lang muss die Schulzeit bei den Verfassungsrichtern her gewesen sein, dass nur zwei von acht Richtern sich daran erinnert haben?
Privater und öffentlicher Raum sind miteinander verzahnt
Das Bundesverfassungsgericht wollte 2015 das Kopftuch gegen den nordrheinwestphälischen Gesetzgeber, gegen die nordrheinwestphälische Verwaltung und gegen die Vorinstanzen durchdrücken und das war es. Formaljuristisch – und darauf heben viele Kommentatoren ja auch derzeit ab – spielt die dissonante Musik des Bundesverfassungsgerichtes im öffentlich-rechtlichen Bereich, in dem die Verfassungsbindung recht absolut ist. Das jetzt gefällte Urteil des EugH bespielt dagegen den privaten Sektor und regelt die Kopftuchverhältnisse zwischen privatem Arbeitgeber und privaten Arbeitnehmern. Das ist formal beides richtig und doch hängen die beiden Urteile viel enger miteinander zusammen, als gemeinhin angenommen. Die Antidiskriminierungsgesetze verklammern den öffentlichen und den privaten Bereich in Sachen Diskriminierungsverbot 1:1, so dass dieser Unterschied zwischen den Anwendungsbereichen der beiden genannten Gerichtsentscheidungen zu einer bloßen Marginalie verkommt.
Wenn im öffentlich-rechtlichen Bereich gerade der zur Neutralität verpflichtete Arbeitgeber seinen eigenen Repräsentantinnen das Tragen des Kopftuches nicht verbieten darf, weil sich der öffentlich-rechtliche, viel schwerwiegendere Eingriff als unangemessen gegenüber der die Religionsfreiheit hochhaltenden Kopftuchträgerinnen auswirkte, dann ist vernünftigerweise nicht ersichtlich, warum der eigentlich viel mildere privatrechtliche Eingriff erlaubt sein soll. Oder umgekehrt:
Wenn der private Arbeitgeber, der zweifelsfrei nicht dem öffentlich-rechtlichen Neutralitätsgebot in Sachen Religionen unterliegt, das Kopftuch in seinen Reihen unter den genannten Voraussetzungen verbieten kann, ist nicht ersichtlich, wieso der öffentliche Arbeitgeber, der dem Neutralitätsgebot verfassungsrangig unterliegt, nicht erst recht in seinem Hoheitsbereich das Kopftuch verbieten dürfte oder, bei zutreffender gesamtgesellschaftlicher Wertung, verbieten müsste.
Ein Kopftuch per se spricht noch nicht
Das Bundesverfassungsgericht hat indirekt Ansätze geliefert, wann in Ausnahmefällen, mit denen das Gericht aber offenbar nichts zu tun haben möchte, ein öffentlich-rechtliches Verbot verfassungskonform sein könnte, wenn nämlich durch das Tragen religiöser Symbolkleidung eine konkrete Gefährdungslage, gemeint wahrscheinlich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, eintreten könnte. Und das alles in dem Wissen, dass es sich bei all dem Gerede um einen großen Irrealis handelt. Würde eine Kopftuchträgerin in der Öffentlichkeit wegen ihres Kopftuches einen Tumult auslösen, würde eher die Bundeswehr zum Schutz des Kopftuches ausrücken, als dass der Trägerin das Kopftuch untersagt würde.
Das Urteil erwähnt in seiner Begründung und vor allem in seinem Minderheitenvotum, das sich klar gegen die Mehrheitsentscheidung positioniert, spezielle Situationen oder Orte, an denen das Kopftuch für Probleme sorgen könnte. Wahrscheinlich haben die Richter, wenn auch nicht zu Ende, an die gelegentlichen Problemzonen oder auch Brennpunkte oder auch No-Go-Areas oder auch bestimmte außer Kontrolle geratene Schulsituationen, die es hierzulande geben soll, gedacht, wo der Clash der Kulturen tobt. Wenn sie aber diesen Clash der Kulturen im Hinterkopf hatten, dann wird die Mehrheitsentscheidung der Richter umso unverständlicher.
Bleibt festzustellen: Beide Gerichte vermeiden es, sich mit der Frage, wie religiös ist das Kopftuch, wieviel bloße Tradition, Sitte oder Gebrauch, auseinanderzusetzen. Beide Gerichte vermeiden es, sich mit der Realität der vielen täglichen Konflikte der Religionen in und mit der Gesellschaft auseinander zu setzen. Beide Gerichte verweigern de facto den Religionen dieser Welt Aufklärungs- und Reformationsprozesse zu durchlaufen, in dem sie in diesem Fall im Jahr 2017 das im Westen nicht tradierte Kopftuch ad infinitum festschreiben helfen.
Das Kopftuch und intensivere Bedeckungen
Das neutrale Gerede des Bundesverfassungsgerichtes von religiös konnotierter Kleidung oder Bedeckung kann man nur makaber nennen. Das Kopftuch oder intensivere Bedeckungen der Frau sind in den Gesellschaften des Westens streitkonnotiert. Das Kopftuch und intensivere Bedeckungen sind zur Verzerrung des Dialogs der Menschen untereinander durchaus geeignet.
Bedeckungen, die einen Menschen schwerer erkenntlich machen – sollen diese auf dem Passfoto das zur Erkennung des Inhabers dienen soll, vorhanden sein oder nicht?
Ist die Rechtsfindung für oder gegen einen verhüllten Menschen in identischer Weise möglich wie gegen einen unverhüllten Menschen? Staatsanwälte und Richter wollen die Menschen immer ganz genau sehen und beurteilen, ob sie es können oder nicht. Jedenfalls wird die Beurteilung eines Menschen durch die Frage, ob er sich uneingeschränkt mit freiem Hals und Kopf oder nicht unter Umständen beeinflusst. Je verhüllter ein Mensch ist, desto geringer ist die Zahl der Daten, aus denen ein Dritter sein Urteil bilden kann.
Klar, jede Frau, die ins Kopftuch hinein geboren wird, kann sich im Zweifel gar nichts anderes vorstellen. Ist das die Vorstellung der Integrationspolitik? Das ist eine andere Frage. Die Welt nur aus der Sicht der Kopftuchträgerin zu beurteilen, kann ebenso wenig verfassungskonform sein, wie die Welt nur aus der Sicht von Nicht-Kopftuchträgerinnen zu sehen.
Leider vermeiden, wie gesagt, beide Gerichte die Gretchenfrage: wie halten wir es eigentlich mit den Religionen? Wie halten wir es eigentlich mit dem Grundgesetz, das mehr ist als die Religionsfreiheit.
Das Kopftuch ist weit weniger dezent als die vom Gericht erwähnte Kippa, die bestenfalls eine Glatze kaschiert oder ein Kettchen um den Hals, an dem ein Kreuz bammelt. Das Gericht vergleicht Dinge und setzt Dinge gleich, die nicht vergleichbar sind. Das Gericht offenbart zudem mit seinen Bedeckungsvergleichen ein geradezu gefährliches Ausmaß an Ignoranz. Die Kippa, ein Symbol der ältesten, gleichsam Ur-Religion des Judentums, ist das Symbol einer Religion, die keine Mission kennt und will, weshalb die Religion auch auf die Ursprungsgemeinschaft beschränkt geblieben ist. Die jüngste der Religionen, die man monotheistisch nennt, hat sich in Schüben stets rasant verbreitet, sie ist Mission. Der Gedanke, andere an seinem Glauben teilhaben zu lassen, manchmal mit dem Argument und manchmal mit Gewalt, ist im Christentum und im Islam nicht gänzlich unbekannt. Insofern ist der Vergleich von einer dezenten jüdischen Bedeckung mit dem einen Teil der Persönlichkeit verdeckenden Kopftuch der muslimischen Frauen geradezu hinterhältig irreführend.
Oder anders ausgedrückt: wenn das Kopftuch den „schnöden“ Arbeitgeberinteressen weichen muss, wieviel mehr muss dann dasselbe Kopftuch den überragenden Interessen von Schülern, Angeklagten und Zeugen im Gericht, Gewaltopfern im Krankenhaus, Verdächtigten auf der Polizeistation oder sonst von der Verwaltung leicht beeindruckbaren Menschen weichen.
Der große irrlichtende Franz Josef Degenhardt würde heute als überzeugter aufrechter Kommunist singen: Ja, Grundgesetz, ja Grundgesetz, ja Grundgesetz, Sie reden hier ja permanent vom Grundgesetz, sind Sie eigentlich Islamist?
Licht am Ende des Tunnels: Mädchenrat in Saudi-Arabien
Der modern gewordene Philo-Islamismus im Westen beeinflusst offenbar auch die höchsten Gerichte. Immerhin, Licht am Ende des Tunnels: Im durchaus als weithin für fundamentalistisch erachteten Saudi-Arabien wurde gerade ein mit 13 bärtigen Männern besetzter Mädchenrat gebildet, dessen Aufgabe es ist, die Stellung der dort streng verhüllten Frauen zu verbessern.
In einem Nachbarraum durften einige Frauen per Videoschalte der ersten Sitzung des männlichen Weiberrates beiwohnen. Hintergedanke der saudischen Regierung ist es, dass weibliche Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen zu können. Es sollen gut 140.000 Heimarbeitsplätze entstehen, also Arbeitsplätze, für die Frauen das Haus nicht verlassen müssen und keinen physischen Außenkontakt brauchen. Und: die Verhüllungspflicht gilt schließlich nicht zuhause, also auch nicht im Homeoffice. Für wahr, kleine Fortschritte, aber immerhin.
Im Westen läuft die Sache oft genug rückwärts. Der symbolische Druck, den das Kopftuch im Westen auf sich geladen hat oder der dem Kopftuch übergestülpt wurde, kann eine durchaus gesellschaftlich belastende Wirkung entfalten. Dagegen ist ein partieller Verzicht einzelner Frauen, das Kopftuch im Dienst zu tragen ein vergleichsweise weniger schwerwiegender Aspekt.