Am Montagabend ging bei der Mainzer Staatsanwaltschaft Erdogans Strafantrag wegen Beleidigung gegen Böhmermann ein. Ziel des Anstoßes war das Schmähgedicht, das Jan Böhmermann in seiner Sendung Neo Magazin Royale am 1. März 2016 persönlich verlesen hatte.
Die Türkei driftet weg – Merkel will Vollmitgliedschaft?
Wo soll man anfangen? Bei Erdogan und dessen Politik, die die Türkei immer wieder von Europa und der Nato entfernt oder bei Merkel, die höchst auffällig-unauffällig auf einem strammen Kurs in Richtung einer privilegierten Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU voranschreitet? Oder gebührt der erste Blick dem inzwischen allseits bekannten und viel diskutierten Schmähgedicht, das der Fernsehkabarettist Jan Böhmermann dem türkischen Staatsoberlenker Erdogan gewidmet hat? Oder soll man mit der Feigheit des ZDF, das das Böhmermanns Gedicht flugs aus seiner Mediathek entfernte?
Bundeskanzlerin Merkel, das empfinden viele Deutsche sicherlich als schmeichelhaft, gilt als die mächtigste Frau der Welt. Ergo gebührt das erste und wesentliche Augenmerk der Betrachtung eben dieser Kanzlerin, der Madame „Nicht hilfreich“. Dass Erdogan mit der Presse der Türkei auf eine Art umgeht, die allen Regeln der westlichen Verfassungen eklatant widerspricht, ist bekannt. Dass Erdogan auch sonst konstitutionelle Selbstverständlichkeiten des Westens für sich und die Türkei ablehnt, ist auch bekannt. Deswegen muss an dieser Stelle auf das teils krasse erdogansche, immer europafeindlichere Politversagen nicht weiter eingegangen werden.
Merkels Türkei-Deal ist Satire. Wie ihr Verfassungsverständnis
Für Europa und die Bundesrepublik ist Merkels hereinholende Akzeptanzpolitik gegenüber der Türkei eine Katastrophe. Formal geht es Merkel angeblich nur um eine privilegierte Partnerschaft am Ende eines noch längeren Entwicklungsprozesses in der Türkei. Tatsächlich ist Merkels Politik wohl eher mit einer Wegbereitung des Erdoganschen Durchmarsches nach Europa zu vergleichen.
Merkel hat sich selbst und leider auch rund 510 Millionen EU-Bürger mit ihrer Erdogan-Türkeipolitik umzingelt. Mit ihrer aktuellen Schmähgedicht-Politik hat sie sich ganz aktuell aber auch selber in die Nesseln gesetzt. Erdogan ist ein Mann, der die klare Kante liebt und wohl auch nur diese versteht. Erdogan zu hätscheln und mit immer neuer Nachgiebigkeit und allzeitiger Bereitschaft zum Kuschen europa-, vertrags- und gleichsam grundgesetztauglich bekommen zu wollen, ist eine Politik, die erkennbar das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen will.
Merkels Türkei-Deal, also der Ringelpiez mit Anfassen, ich geb‘ dir einen illegal eingereisten Syrer, du gibst mir einen legal einreisenden Syrer, ist lächerlich angesichts der Völkerwanderungsbewegungen, die aktuell in Gang gesetzt sind. Die Frage danach ist berechtigt, wie Merkel mit dieser Nummer bei 28 EU-Staaten überhaupt durchkommen konnte. Und: Funktioniert der Vertrag, der seit dem 4. April in Kraft treten sollte? Nein. Werden Einwanderer von Griechenland in die Türkei zurückgebracht? Im Prinzip nein. Braucht es also irgendeines Wohlwollens Erdogans? Nein.
Wenn man sich den wirkungslosen Türkei-Deal genau ansieht, gibt es keinen Bedarf für eine Rücksichtnahme auf Erdogan. Im Moment wird der Flüchtlingsstrom vor allem durch die mazedonische Grenze in Idomeni und durch das Verhalten anderer europäischer Länder der Region, die Grenzen ziehen, aufgehalten. Würde die Balkanroute geöffnet, stiege der Druck sofort wieder. Und der Druck steigt, ganz an Erdogans und Merkels Türkei-Deal vorbei, auf der Libyenroute. Also was soll der Türkei-Deal?
Erdogans indifferentes Verhältnis zum islamischen Terror
Überhaupt: Seit wann müssen Vertragspartner der EU, die sich zur Erfüllung ihrer vertraglich übernommenen Aufgaben verpflichtet haben, noch hinten und vorne begöscht werden, damit sie sich vertragstreu verhalten? Erdogan hat auch schon vor der Böhmermannschen Schmähkritik den noch sehr jungen EU-Türkei-Deal in Frage gestellt. Recht brüsk verlangte er schon mal das Geld aus Europa, immerhin insgesamt 6 Milliarden Euro (für was eigentlich genau?), weil er sonst keine Lust mehr auf den Vertrag hätte.
Während der Türkei-Deal verhandelt wurde, hat er in seinem eigenen Land Demonstrationen niedergeschlagen, Journalisten verhaftet, die Frauenrechte erneut beschnitten und alle Verfassungswerte des Westens bewusst und ostentativ mit Füßen getreten, nachdem Motto: Schaut her, das mache ich einfach so und ihr fresst mir trotzdem aus der Hand!
Seit Erdogan seinen 1.000 Zimmer-Palast hat errichten lassen, scheint er endgültig außer Rand und Band zu sein und seit der von ihm gewiss mit verursachten sogenannten „Flüchtlingskrise“ ohnehin. Mal eben schnell den Nato-Verteidigungsfall beinahe auslösen und einen russischen Kampfjet vom Himmel holen, so etwas gehört zu dem kleineren Fingerübungen Erdogans. Ein indifferentes Verhältnis zum islamistischen Terror, eine menschenverachtende tätliche Kurdenpolitik, eine befremdliche Religionspolitik, eine befremdliche Frauenpolitik, eine wenig genderfreundliche Politik, ein anmaßendes Hineinregieren nach Europa und speziell nach Deutschland durch vielfältige suggestive Ansprachen türkischstämmiger Menschen in Europa – dies und viele Punkte mehr auf der langen Liste des Versagens müssen hier allerdings dann doch kursorisch angesprochen werden, um das größtmögliche Versagen der Merkelschen Politik gegenüber Erdogan hervorzuheben.
Falls der Türkei-Deal Merkels großartiger und geheimnisvoll in zwei Anne-Will-Sendungen angekündigter Lösungsplan (Merkel: „Ich habe einen Plan“) gewesen sein soll, dann muss man feststellen, dass er schon vor seinem Inkrafttreten am 4. April wertlos war.
Türkische Medien beleidigen die Kanzlerin
Auf türkischem Staatsgebiet gab es widerholt schwerste Beleidigungen eben dieser Angela Merkel, die mit Hitler und dessen Rassenwahn, also mit einem Völkermörder gleichgesetzt wurde. Am 2.September 2007 schrieb, um nur ein Beispiel zu nennen, die in der Türkei erscheinende islamistische Tageszeitung Anadolu’da Vakit (Vakit): „Merkel ist der zweite Hitler“. „So wie seinerzeit Hitler versucht habe, die Deutschen zu einer überlegenen Rasse zu machen, so wolle nun Angela Merkel dieses Projekt fortsetzen, schreibt der Vakit -Kolumnist Hasan Karakaya (…) Unter der deutschsprachigen Losung „Türken raus“ steht eine gezeichnete Angela Merkel mit Hitlerbärtchen und Vampirzähnen, von denen Blut tropft. Hinter ihrem schwarz-rot-goldenen Kleid hält sie einen Stab, an dessen Spitze ein bluttriefendes Hakenkreuz abgebildet ist(…)“, referierte damals die Zeit.
Einen Merkel-Hitler-Vergleich hat Erdogan offenbar nicht als einen beleidigenden Angriff auf einen ausländischen Regierungschef angesehen, der nach türkischem Strafrecht verfolgt gehört. Das zeigt, dass Erdogan die Relationen, allerdings mit Hilfe seiner europäischen Amtskollegen und mit duldender Hilfe Merkels vollkommen aus den Augen verloren hat.
Hätte Merkel mit ihrer verfehlten Einwanderungspolitik nicht die Bodenhaftung verloren, dann hätte sie sich dieser erneuten Fehleinschätzung jetzt im Fall Böhmermann nicht hingegeben: Erdogan routinemäßig Honig um den Bart schmieren und einen Erdogan missliebigen deutschen Satiriker, dessen Kopf Erdogan symbolisch durch eine Verurteilung wegen Beleidigung seiner Majestät rollen sehen will, über die Klinge springen lassen – das geht selbst in der im unpolitisch vor sich hin vegetierenden modernen Bundesrepublik nicht einfach glatt durch. Böhmermann, der Shootingstar unter den deutschen entertainenden Kabarettisten, ist beliebt.
Den auch von den Medien lange Jahre gehätschelten Erdogan finden immer mehr Leute nervend; da ist das Fass eben übergelaufen und die deutsche Medienseele entdeckt die Karikatur und ihren eigenen Heldenmut plötzlich ganz neu. Satire darf außer Mord und Totschlag eben so ziemlich alles, und deswegen explodiert die Solidarität vieler Menschen und auch vieler namhafter Menschen mit Böhmermann vollkommen zu recht. Matthias Döpfner und jetzt auch Didi Hallervorden haben für Jan Böhmermann Partei ergriffen. Und die Solidarität wird, darüber muss sich Merkel im Klaren sein, steigen.
Die Liste der Erdoganschen Verfehlungen lässt nicht nur die Merkelsche Türkeipolitik alt aussehen, sie rückt auch das Schmähgedicht des Jan Böhmermann in eben diesem Kontext in ein völlig anderes Licht. Der Wortlaut sei „bewußt verletzend“ wusste Merkel eilig in Übereinstimmung mit Erdogan zu berichten. Wenn sich da die beiden Oberen mal nicht irren.
Böhmermanns Gedicht zerfetzt Merkels Türkei-Deal
Dass es keine Faktizität in dem Böhmermannschen Gedicht gibt, ist eindeutig. Verleumdend ist das Gedicht schon mal nicht. Aber auch beleidigend ist das Gedicht mitnichten, denn es ist eine maßlos überdrehte Übertreibung eines Aversionsgefühles gegen Erdogan, der allerdings kraft seiner tagtäglichen Politik alles zur Erzeugung von Aversion selber beiträgt. Der allgemeine Gedanke des Rechtes, des Naturrechtes, des Verfassungsrechtes, der im deutschen Strafgesetzbuches unter dem Stichwort der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ zum Ausdruck kommt, sagt, dass jemand, der sich daneben benimmt, für angemessene Reaktionen Dritter selber verantwortlich sein kann. Oder umgekehrt:
Böhmermann zeigt Erdogan de facto satirisch die Grenze, die Merkel Erdogan schon seit Jahren klar hätte gesetzt haben müssen. Insofern hätte sich das Schmähgedicht mit noch besserem Grund an Merkel direkt gerichtet haben können/sollen.
Böhmermanns Schmähgedicht zerfetzt Merkels sogenannten Flüchtlings-Türkei-Deal in der Luft. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Merkel unsouverän reagiert hat. Regierungssprecher Seibert musste gestern in einem sehr kurzen Statement zur Sache gleich mehrfach betonen, dass seine Vorgesetzte Merkel den Artikel 5 des Grundgesetzes (Meinungs-Kunst und Wissenschaftsfreiheit) voll und ganz und oben und unten und hinten und vorne und überhaupt hochhielte.
Indes gilt: Ob Merkel Artikel 5 gut findet oder nicht oder achtet oder nicht, gegen Erdogan verteidigt oder nicht, ist allerdings so unwichtig wie ihr Geschmack bezüglich des Schmähgedichtes. Die Rechtsmacht des Grundgesetzes einzuschränken, möchte man Herrn Seibert sagen, hat seine mächtige Chefin schlechterdings gar nicht. Es war keine Sternstunde der Kanzlerin, was ihr Regierungssprecher bezüglich deren Haltung zu Art. 5 in der Bundespressekonferenz ablieferte.
Merkels Türkei-Politik ist gescheitert
Ihr Türkeideal war von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Jetzt hat Merkel, die die von ihrem Sprecher Seibert angedeutete Bedenkfrist von einigen Tagen nicht ausnutzen muss, noch die Möglichkeit die Schmähkritik-Sache mit einem Gong zu beenden und Erdogan mitzuteilen, dass sie seinem Ersuchen auf in Gang setzen eines deutschen Ermittlungsverfahrens nicht entspricht. Punkt. Keine Begründung. Fertig aus.
Und Böhmermann selbst, dem verständlicherweise das Herz kurzfristig Richtung Hose gerutscht war, sitzt hoffentlich an einem Stück, wie es in Europa ohne Merkel und Erdogan jetzt oder bald weitergeht. Die Geschichte ist bekanntlich offen für vieles.