Sitte und Anstand ist ein gern genutztes, aber eigentlich nicht kongruentes Wortpaar. „Streng genommen“, so schreibt die geschätzte Kollegin Brigitte Haertel in der neuen Ausgabe von „theo – das katholische Magazin“, „gehören die Begriffe gar nicht zusammen: Sitten sind verhandelbar, Anstand nicht.“
Und eben das ist es, was wir jeden Tag sehen, hören, fühlen: die Sitten haben sich verändert mit der Zeit, haben größeren Spielraum und weitere Grenzen rausverhandelt mit einer diesbezüglich lockerer gewordenen Gesellschaft. Es geht mehr, es geht anderes als früher, unsere „Leitkultur“ ist deutlich dehnbarer geworden. Immer aber finden die veränderten Sitten ihre Grenzen im wirklichen Anstand, der eben mehr ist als ein bisschen gutes Benehmen, wirklicher Anstand komme, so Haertel im eingangs erwähnten Essay, „aus einer inneren Haltung, die mit Echtheit, mit dem Gewissen und ja! mit Moral zu tun hat.“
Vielen Zeitgenossen hat sich dieser Unterschied nicht erschlossen oder sie leugnen ihn nach Kräften. Die Haltung „ich rede und schreibe, wie ich immer schon geredet und geschrieben habe“ ist vielleicht kompatibel mit den neuen Sitten in den sozialen Medien, aber sprachlicher Unflat bleibt in den überwiegenden Fällen eben Unflat und deswegen unanständig. Die designierte Vorsitzende der SPD, Andrea Nahles, hat die für sie vielleicht sogar erstaunliche Erfahrung gemacht, dass man eben nicht reden kann, wie einem der eiflerische Schnabel gewachsen ist. „Und ab morgen kriegen sie in die Fresse“, „Bätschi, Bätschi“ und ähnliche erlesene rhetorische Perlen der neuen Frontfrau mögen sich vielleicht im Augenblick gut „versenden“, sind aber in Wahrheit in den Augen der meisten Bürger dieses Landes erfreulicherweise auch heute noch schlicht schlechter Stil. Auch und gerade Sprache hat etwas mit Würde und Benehmen zu tun. Es mag ja bei Politikern (übrigens ähnlich wie bei Sportlern auch) aus der Mode gekommen sein, die von anderen zugemessene Vorbildfunktion auch wirklich annehmen zu wollen und damit dann auch ausfüllen zu können. Aber wer sich im öffentlichen Raum bewegt, wird aller neuen Sitten zum Trotz dennoch als Vorbild gesehen, im guten wie im schlechten Sinne. Das scheint nicht verhandelbar zu sein und das macht Mut!
Die Haltung „wo ich bin, ist vorne“ ist eben keine noch zu tolerierende neue Sitte, sondern schlichter und meistens unerträglicher Chauvinismus und Egoismus. Es ist eine neue „Sitte“, dass an Unfallorten nicht mehr geholfen, sondern gegafft wird. Ärzte und Polizisten wie auch das oft sogar ehrenamtliche Personal der Hilfsorganisationen an Unfall-und Einsatzorten werden behindert, beschimpft, bespuckt und geschlagen. Es geht um das „ich“, das sehen will, aus der ersten Reihe gaffen, filmen, wie im Heimkino ganz vorne dabei. Rettungsdienste und Polizei führen inzwischen so selbstverständlich wie ihre übliche Ausrüstung große Sichtschutzplanen bei jedem Einsatz mit. Ihr Freunde des Unfall- und Einsatz-Spektakels: diese neue Sitte ist eben nicht verhandelbar, mit Bürgern dieses Landes ebenso wenig wie mit solchen aus einem anderen Kulturkreis, wo man vielleicht nicht gewohnt ist, sich unmittelbar für durch einen Unfall Verletzte einzusetzen, sondern dies eher professionellen Diensten überlässt. In einer solidarischen Gesellschaft wie der Unsrigen hat vorurteilsfreie Hilfeleistung etwas mit Gewissen und Moral zu tun und eben das ist Anstand, siehe oben!
Nur weil der Begriff der „Leitkultur“ von Falschen und im falschen Zusammenhang gebraucht wurde, ist er noch nicht falsch. Vor allem aber sollten wir uns von Falschen nicht ins Boxhorn jagen lassen: dieses Land braucht eine Leitkultur wie jede entwickelte Gesellschaft eine hat und eine braucht. Oder wie der Nicht-mehr so-Jungstar der CDU, Jens Spahn, es ausdrückt: „die Vermittlung von Anstand und Tugenden muss Teil einer Leitkultur an Deutschlands Schulen sein. Mindestens genauso wichtig wie Fakten über Geschichte und Gesellschaft ist die Frage, ob wir jungen Menschen vermitteln, wie wir zusammenleben wollen. Da geht es um Anstand, Werte, Tugenden.“ Leitkulturen müssen weiterentwickelt werden, weil Sitten und Gebräuche sich mit den Zeitläuften eben auch ändern, weil Sitten „verhandelbar“ sind. Die Hoffnung allerdings, dass eine neue Große Koalition sich hier zu großen neuen Ufern aufschwingt, sollten wir schnell fahren lassen. Vielleicht aber auch ganz tröstlich: eine solche Initiative muss ohnehin aus der Mitte der Gesellschaft kommen oder sie kommt nicht!