Es ist also soweit – die Bürger der Europäischen Union haben gewählt, und die einzige halbwegs direkt demokratisch legitimierte politische Instanz der Union erfährt nunmehr eine neue politische Zusammensetzung. Was hat sich geändert? Am Alltagsleben des EU-Parlaments nicht viel – die Brandmauer gegen rechts wird wohl noch ein paar Jahre halten, und der bisherige Kurs fortgesetzt werden. Der eigentliche Paukenschlag kommt aber aus Frankreich und aus Ungarn: Aufgrund der historisch schlechten Wahlergebnisse kündigt Macron Neuwahlen an. Ob er auch als Präsident zurücktritt? Oder ist das Ganze nur ein vergiftetes Geschenk? In Ungarn hingegen läßt Viktor Orban empfindlich Federn. Ein Schuß vor den Bug, oder der Anfang vom Ende?
Aber der Reihe nach. Wie sehen die Resultate aus? Zunächst die nicht unerwartete Grundfeststellung: Der angebliche, seit Monaten in allen europäischen Medien beschworene „Rechtsruck“ ist, im Ganzen betrachtet ausgeblieben – wieder einmal. Zwar haben die Gruppen „Identität und Demokratie“ mit 62 Sitzen anstatt 49 ebenso wie die „Europäischen Konservativen und Reformer“ mit 78 statt 69 gewisse Zugewinne verbuchen können, auf die wie später eingehen werden – und ich muß hier betonen, daß diese Resultate immer noch teilweise provisorisch sind.
Was bedeutet das alles also? Eigentlich nicht viel, wenn es um die grundlegende Zukunft unseres Kontinents geht, aber doch einiges, was die einzelnen Länder betrifft, wie wir sehen werden.
Die unmittelbar bevorstehende Frage ist nach den Wahlen natürlich ebenso in der Schwebe wie vorher: Wo wird Ursula von der Leyen ihre Mehrheit herbekommen, um sich erneut zur Kommissionspräsidentin küren zu lassen? Die eigene Partei reicht dafür nicht aus, und von den linken und liberalen Partnern ließ sich verständlicherweise bislang keine verpflichtende Erklärung vernehmen. Und da auch letztesmal die verschiedenen Gruppen im EU-Parlament nicht blockartig abgestimmt haben, sondern höchst unterschiedliche Stimmergebnisse je nach nationalen Befindlichkeiten zustandegekommen sind, wird von der Leyen wohl auch diesmal eine Zeit lang bei den bösen Rechtspopulisten, allen voran der EKR, antichambrieren müssen, um sich erneut in ihren Sessel hieven zu lassen. Ob sie nach ihrer Wahl daran denken wird, Giorgia Meloni und Jarosław Kaczyński ihre Dankbarkeit zu bekunden? Man darf daran zweifeln.
Was aber nun die großen Zeitfragen unserer Epoche betrifft, wird das „neue“ Parlament wohl die Politik des alten mit einem beherzten „Weiter so“ fortführen. Weiter mit dem „Green Deal“, weiter mit den Zensurgesetzen, weiter mit der Entwicklung von obskuren Überwachungsinstrumenten wie dem „Grünen Paß“, weiter mit der Verbrämung eigener außenpolitischer Machtlosigkeit hinter ebenso markigen wie moralinhaltigen Parolen, weiter mit der gesteuerten Diskreditierung eines jeglichen Konservatismus als Rechtsextremismus, und so weiter. Es wäre eigentlich zum Heulen, wenn man nicht ohnehin schon weitgehend abgestumpft wäre und Politik mittlerweile eher unter anthropologischen als zeithistorischen Perspektiven betrachtet. Aber es sind bei diesen EU-Wahlen durchaus interessante Symptome des Wandels zu spüren, die aber wohl erst durch den Filter der Nationalstaaten und nicht direkt durch das Parlament Auswirkungen auf die EU haben werden – am deutlichsten in Frankreich, aber auch in Ungarn.
Den deutschen Leser und Zuhörer interessieren vornehmlich die Resultate in seinem eigenen Heimatland, auch wenn sich hier de facto konkret wohl nur sehr wenig ändert. Es gibt keine wesentliche Überraschung im Vergleich zu den Umfragen der letzten Tagen. Die CDU/CSU erlangt 30,3 % der Stimmen, die AfD ist, wenn auch weit entfernt, zweitstärkste Kraft mit 15,6 %, die SPD erlangt 14,1 %, die Grünen 12 %, die FDP kommt nur noch auf 5,3 %, und dem Bündnis Sarah Wagenknecht gelingt eine recht beeindruckende Entrée in das Europaparlament mit 5,7 % der Stimmen, während die Linke nur noch 2,6 % einfährt.
Und wie steht es mit den anderen europäischen Ländern? Hier scheinen die Dinge, von rechts betrachtet, erheblich dynamischer zu sein. Schauen wir auf Frankreich, die Niederlande, Italien, Österreich, Polen und Ungarn.
Ein Schlüssel könnte jedenfalls in den Resultaten der Niederlande liegen: Geert Wilders kann im Vergleich zu 2019 von 3,5 % auf 17,7 % steigen und damit eine exponentielle Vermehrung seines Zuspruchs verzeichnen, während die Liberalen um Rutte ihren Abwärtstrend fortsetzen und von 14,6 % auf 11,6% fallen. Thierry Baudet gar, einstmals der große Shooting Star der niederländischen Rechten, ist auf 2,5 % zusammengeschrumpft. Allerdings ist die Partei „Grün-Links“ mit 21,6 % gegen vormals 10,9 % überraschend die stärkste Kraft geworden, nachdem sie bei den Parlamentswahlen nur 15,7 % einfuhr – ganz offensichtlich ein großer Mobilisierungserfolg gegen den sogenannten „Rechtsruck“, der sich unter der neuen Regierung abzeichnet, und eine taktische Hoffnung, die vielleicht auch Macron bei seiner gestrigen Entscheidung beseelte. Noch sollte man das Fell des grünlinken Bären also nicht verkaufen.
Auch nach Italien sollten sich unsere Blicke nun richten. Fast alle Parteien verlieren, am stärksten Salvini, der 2019 auf stolzen 34 % stand und nun wohl nur noch 9 % einfahren wird. Klarer Gewinner: Giorgia Meloni, die 27 % und somit einen Zugewinn von 20 % im Vergleich zu 2019 verbuchen kann; ein Resultat, das ebenso wie das der Lega in etwa dem der italienischen Parlamentswahlen 2022 entspricht und eines beweist, was in vielen rechten Kreisen Europas, die den Namen „Meloni“ zu einem Schimpfwort degradiert haben, nur sehr ungern gehört wird: Die italienische Bevölkerung ist mit der Politik ihrer gegenwärtigen Mehrheitsregierung offensichtlich so zufrieden, daß diese ihre Zustimmungswerte perfekt halten kann – in der jüngeren Geschichte des Landes eine alles andere als selbstverständliche Entwicklung.
Ein kurzes Wort zum Nachbarn Österreich: Hier ist die FPÖ mit 25,7 % der klare Wahlgewinner; ein Zuwachs von nahezu 10 % im Vergleich zu den EU- wie auch den Nationalratswahlen von 2019, während die ÖVP von damals 37,4 % respektive 34,6 % auf nur noch 24,7 % abstürzt und mit den Sozialdemokraten gleichzieht. Ganz offensichtlich konnte hier die Scharte der weitgehend als Medienintrige enttarnten Ibiza-Affaire ausgewetzt und durch die Politik der Professionalisierung unter Kickl erneut Vertrauen gewonnen werden, während die ÖVP sich von den Problemen um die Absetzung der Regierung Kurz II und dem unpopuläre Bündnis mit den Grünen nicht wirklich erholt.
Während in Westeuropa die Rechte also einen gewissen Aufwind hat, scheint im Osten ein Gegentrend zu herrschen; schauen wir uns Polen und Ungarn an.
Was Polen betrifft, so stabilisiert die PiS ihren Abwärtstrend, kann aber keinen Neuaufstieg auf den Weg bringen: Einstmals bei stolzen 45 %, liegt sie nunmehr nur noch bei 35,7 %. Dies entspricht weitgehend den Resultaten der letzten Parlamentswahl, bleibt aber weit hinter den Erwartungen, sich angesichts der autoritären Politik Tusks als glaubwürdige Oppositionskraft zu positionieren. Der hingegen profitiert nun voll von der weitgehend vollständigen Kontrolle über die privaten wie staatlichen Medien des Landes, der uneingeschränkten Unterstützung der EU-Institutionen und der Auszahlung der lange zurückgehaltenen Covid-Gelder: Während er 2019 in einem oppositionellen quasi-Allparteienverbund nur 38 % gegen die PiS in Stellung bringen konnte, liegt er nunmehr ganz alleine mit seinen Liberalen bei 37,4 % – auch im Vergleich zur polnischen Parlamentswahl des letzten Jahres eine beachtliche Steigerung, wo Tusk nur 30 % auf sich vereinen konnte. Weiterer Verlierer der Wahlen ist der „Dritte Weg“, jene zentristische Partei, die durch ihr Bündnis mit Tusk dessen Regierung überhaupt erst ermöglichte und von 14 % bei den letzten Parlamentswahlen auf 7,3 % bei den EU-Wahlen abstürzt – aus der Traum, die „PiS“ zu beerben. Die Rechts-Außen-Partei Konfederacja hingegen, die bei den letzten Parlamentswahlen 7 % und bei den letzten EU-Wahlen nur 5 % errang, liegt nun allerdings bei satten 11,8 %.
Ein letztes Wort zu Ungarn schließlich: Dunkle Gerüchte, die von der Regierungspartei immer wieder weggewischt wurden, sprachen bereits von einer bösen Überraschung für Viktor Orbán. Denn offensichtlich bröckelt seine Macht: Zum ersten Mal in 20 Jahren vereint Fidesz weniger als die absolute Mehrheit der Stimmen bei einer Europawahl: Sie erhielt nur 44,3 % (2019: 51,5%), während 30 % für die Partei des absoluten Newcomer Peter Magyar stimmten, der mit einem rechten, aber angeblich „sauberen“ Programm zu punkten wußte. Das mag ein Schuß vor den Bug sein – es könnte aber möglicherweise auch den Anfang vom Ende des Systems Orbán darstellen und hier eine ähnliche Trendwende einleiten wie in Polen.
Insgesamt also unübersichtliche, aber nicht uninteressante Resultate, die zumindest in wichtigen westlichen Nationalstaaten eine klare Tendenz hin nach rechts zeigen und suggerieren, daß eine Politik der Entdämonisierung, der Professionalisierung, der Zusammenarbeit und der Abwendung vom primären Europaskeptizismus offensichtlich langfristige Früchte trägt. Der Osten der Union hingegen scheint nunmehr in eine Phase einzutreten, wo eine gewisse Rückabwicklung des bisherigen, noch in unmittelbar postkommunistischen Kategorien verankerten Konservatismus festzustellen ist. Auf europäischer Ebene allerdings wird dies vorläufig herzlich wenig ändern; ein durch die EU-Wahlen provozierter französischer Regierungswechsel würde allerdings, Seite an Seite mit einer stabilisierten Regierung Meloni und einer von Wilders dominierten niederländischen Regierung, ein echter Game-Changer in wichtigen Fragen wie Migration, Identität und Subsidiarität werden können – aber auch den Eintritt in eine sehr chaotische und volatile Phase darstellen, die Auswirkungen auf alle anderen Länder hätte.