Enthusiastisch, aber wenig originell titelte die FAZ, Polen sei „zurück in Europa“, und entsprechende Äußerungen durchziehen nicht nur die deutsche, sondern auch die internationale Presse. Es stellt sich nur die Frage, welches „Europa“ gemeint ist.
Falls „Europa“ bedeutet, weiterhin Masseneinwanderung, die Abschaffung nationaler Demokratien, die Entchristlichung des Abendlands, die Ausdünnung des Mittelstands, die Auslagerung der Industrie nach Asien, die Verbreitung unbestätigter Klimapanik, die Banalisierung von Zensur und elektronischer Überwachung sowie die Verbreitung absurder intersektioneller Gender-, LGBTQ- und Rassismustheorien zu fördern, dann steht in der Tat zu fürchten, dass die neue Regierung Tusk Polen in dieses „Europa“ zurückzuführen beabsichtigt.
Der Enthusiasmus der deutschen Medien ist also überaus bezeichnend. Bislang war Polen, zusammen mit Ungarn, der langjährige Beweis, dass es auch ein anderes „Europa“ geben kann. Eines, das sich weniger auf „EU“, sondern vielmehr auf „Abendland“ reimt und Werte wie christliche Tradition, Patriotismus, Familie, Solidarität, Meinungsfreiheit und Bürgerlichkeit in den Vordergrund stellt. Dass in Polen ein solches Modell nicht nur über viele Jahre existierte und regelmäßig von den Bürgern demokratisch bestätigt wurde (auch jetzt ist PiS immer noch die bei weitem stärkste Partei), sondern auch höchst geschickt den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes gewährleistete und zu allem Überdruss nicht müde wurde, seine Unterstützung einer (freilich anders definierten) europäischen Einigung zu betonen – das passte nicht ins vorgefertigte Narrativ der linksliberalen deutschen Medien und stellte einen gefährlichen Präzedenzfall für den eigenen Bürger dar.
„Traditionelle“ Werte, so steht angeblich fest, müssen unbedingt (wieso auch immer) in Diktatur, Zensur, Verarmung und Nationalismus führen. Wenn aber einmal das offensichtliche Gegenteil geschieht und der Gegner einem selbst auch noch den Spiegel entgegenhält und viele unschöne Fragen stellt, entsteht eine kognitive Dissonanz, die nur durch Leugnen, Lügen und Feindseligkeit überwunden werden kann – also genau das, was die deutschen Leitmedien (unterstützt durch die polnische „Oppositionspresse“) in den letzten Jahren fleißig betrieben haben.
Jetzt ist es also so weit: Der Störenfried ist weitgehend abserviert, und aus Polen werden in den nächsten Jahren weder Beispiele kommen, wie ein anderes und wohl auch besseres Europa aussehen könnte, noch Stimmen unterstützt werden, welche den Westen damit konfrontieren, was er gegenwärtig dank woker ideologischer Lufthoheit zu werden im Begriff steht. Und glaubt man den überall schon verkündeten politischen Zielen der neuen polnischen Regierung, wird das Land in absehbarer Zeit auch aufhören, ein echter Vergleichsmaßstab dafür zu sein, dass der Niedergang des Westens eben nicht alternativlos sein muss. Banalisierung der Abtreibung, LGBTQ-Gesetze, Rückkehr linker Richtereliten, Förderdung der Massenmigration, Dechristianisierung, Abschaffung des Kindergelds, Turboliberalismus, Säuberung der Staatsmedien von konservativen Elementen, Rücknahme der militärischen Aufrüstung, Anpassung an die deutsche Ampelpolitik und natürlich an die Direktiven aus der EU: All das ist keine irre Dystopie, sondern explizites Wahlprogramm.
Bereits ein Blick in die Zusammenstellung der neuen Regierung zeigt, dass diese Ziele sehr ernst genommen werden und die neue Regierung sich hierbei ganz bewusst linksradikaler Kräfte bedient, um ein übles „good cop, bad cop“-Spiel in Gang zu bringen und den liberalen und den zentristischen Koalitionspartnern in den Augen der Wähler eine weiße Weste zu bewahren. Obwohl „Lewica“, welche das Spektrum von Mitte-Grün-Links bis zum Linksradikalismus vereint, nur 8,61 Prozent der Stimmen erzielte und somit im Vergleich zu den letzten Jahren 4 Prozent verlor, wird sie (zusammen mit einigen anderen linken Kleinstparteien) in der neuen Regierung das Ministerium für Digitalisierung, das Ministerium für Erziehung, das Ministerium für Familie, Arbeit und Soziales, das Ministerium für Wissenschaft und Forschung sowie schließlich das (neugeschaffene und in seiner Bedeutung völlig unklare) Ministerium für „Gleichheit“ besetzen, also so ziemlich alle Kernpositionen für den identitären Umbau der polnischen Gesellschaft, wie die schmerzhafte Erfahrung Westeuropas in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat.
Denn dass all das, was Schröder einmal verächtlich „Gedöns“ nannte, in Wirklichkeit Schlüsselpositionen darstellt, um eine ganze Zivilisation auf den Kopf zu stellen, wird wohl kaum jemand bezweifeln, der einen Blick auf statistische Daten aus Frankreich oder Deutschland wirft. Daher kann man sich in etwa vorstellen, was aus der bisherigen Familienpolitik werden wird; welche Stoffe künftig in die Schulbücher Eingang halten werden; welche Prioritäten bei universitärer Forschungsförderung und -steuerung gesetzt werden; in welche Richtung der Staat seine Möglichkeiten der Digitalisierung von Verwaltungen leiten wird; und unter welchen Auspizien fortan angebliche „Gleichheit“ durch diverse Quoten konstruiert werden soll …
Es würde zu weit führen, hier nun auch die anderen Ministerien mitsamt ihrer Inhaber aufzuführen; klar ist jedenfalls auch hier, dass die Regierung Tusk kein frischer „Neuanfang“ ist, sondern auch personell unmittelbar an die vor 8 Jahren abgewählte letzte Regierung Tusk anknüpft, die damals vor allem aufgrund des berüchtigten Abhörskandals in Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt worden war, da die Arroganz, Korruption und Zynik höchster Regierungsvertreter eine Fortführung ihrer politischen Karriere unmöglich machte – zumindest für einige Jahre. Auch in Polen scheint die Erinnerung der Wähler nicht sehr weit zurückzureichen, während die Frustration mit den einzelnen Fehlern der scheidenden christlich-sozialen Regierung umso frischer ist und, allem voran, der Druck durch EU-Sanktionen und internationale Medien so unerträglich, dass er schon fast einer Erpressung glich.
Wie geht es jetzt weiter? Glücklicherweise hat sich die polnische Bevölkerung schon immer durch eine gewisse Widerständigkeit ausgezeichnet, man könnte sogar von einem Hang zur Anarchie sprechen, sodass zwar viele gute Ideen und Reformen aufgrund einer gewissen prinzipiellen kollektiven Oppositionshaltung im Sand stecken bleiben, somit aber auch schlimmere Transformationen lange ausgebremst werden können – nicht auf dem Papier, aber doch in der Realität. Kein Wunder, dass bereits heute, am 15. Dezember 2023, hunderte Polen vor dem Sitz des polnischen Fernsehens TVP gegen die Pläne der neuen Regierung demonstrierten, die polnischen Medien durch eine Kombination aus Auflösungen und Neugründungen auf Linie zu bringen und „Hatespeech“-Gesetze zu verabschieden. Noch ist Polen also nicht verloren.
Trotzdem: Globalisierung und europäische Integration haben Fakten geschaffen, welche den Nationalstaat, so widerständig er auch sein mag, eines großen Teils seiner Handlungsfreiheit berauben. Und es steht zu befürchten, dass die neue Regierung Tusk in vielen Bereichen Weichen stellen wird, die später kaum noch zurückzustellen sein werden, umso mehr, als die sich hier abzeichnenden Tendenzen eben auch einem Zeitgeist entsprechen, der vom gesamten Westen Besitz ergriffen hat, allen voran einer polnischen Jugend, die dank Smartphones, Netflix, TikTok und beginnender Wohlstandsverwahrlosung kaum noch etwas von jenem Geist trägt, der in Gestalt der Solidarność einst den Sturz des Kommunismus in Gang brachte.
Wird es den konservativen Kräften gelingen, die vielgefürchtete Implosion zu vermeiden und endlich jene glaubwürdige und auch jungen Menschen zugängliche Verbindung zwischen Konservatismus und Moderne zu schaffen, die ihnen in acht Jahren Regierung nicht gelungen ist? Man kann es nur hoffen. In der Zwischenzeit ist Polen allerdings „zurück in Europa“ – und jenes Europa wird alles tun, dass dies auch so bleibt.