Tichys Einblick
Der verweigerte Grenzschutz

Wunschziel Deutschland: Die sekundäre Asylmigration aus Osten und Süden zieht an

Im September hat sich der Migrationsdruck von Belarus her auf Litauen und Polen auf die deutschen Ostgrenzen verlagert. Daneben wächst die Sekundärmigration in die südlichen Bundesländer. Die Erstaufnahmen füllen sich. Es mehren sich die Berichte von aktiven Schleusernetzwerken, die oft aus hier lebenden Migranten bestehen.

Kürzlich haben etliche Hundert Migranten illegal die Grenze aus Belarus überquert, um ins Nachbarland Litauen zu kommen

picture alliance / FotoMedienService | Ulrich Zillmann

Das zentrale Erstaufnahmelager des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt ist an seine Kapazitätsgrenze gelangt. Normalerweise biete die Einrichtung Platz für 1.100 Migranten, derzeit sind laut Einrichtungsleiter Olaf Jansen 1.061 Plätze besetzt. Schleunigst hat man also Platz für 270 weitere Bewohner geschaffen. Auch in Eisenhüttenstadt – wie zuvor in Litauen – wurden deshalb Zelte und Container aufgebaut, um die Ankommenden aufzunehmen. Allein im August und September kamen rund 900 irreguläre Migranten über die östliche Landesgrenze, bei steigender Tendenz.

Doch gerechnet wird derzeit mit einem Vielfachen, auch wenn man nicht weiß, woher Einrichtungsleiter Olaf Jansen eine solche Zahl schöpft: »In den nächsten Wochen erwarten wir noch Tausende.« 8.000 meist arabische Migranten sollen sich derzeit in Polen aufhalten. Diese Zahl könnte der Schätzung zugrundeliegen. Die Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt müsste folglich zur Durchgangsstation werden. Diese Zahl an Migranten kann wohl selbst mit weiteren Zelten und Containern nicht aufgenommen werden.

Jeden Tag greifen deutsche Bundespolizisten dutzende illegal einreisende Personen auf, häufig stammen sie aus dem Irak, Syrien, der Türkei. Daneben sind zahlreiche mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. Bei vielen wird durch die Passeinträge klar, dass sie erst über die Türkei nach Weißrussland reisten, um dann von dort über Polen nach Deutschland zu gelangen. Verhindern darf die Bundespolizei die Einreise aber nicht. Dagegen spricht aus Sicht der Bundesregierung das EU-Recht. Dabei könnte man jederzeit zur Dublin-Regelung zurückkehren, deren Anwendung die amtierende Bundeskanzlerin einst grundlos ausgesetzt hat. Die EU-Verordnung regelt genau, welcher EU-Staat in jedem Fall für ein Asylverfahren zuständig ist.

Neu gegenüber 2015: Migranten helfen ihren Landsleuten als Schleuser

Polen hat seinerseits tausende Soldaten entsandt, um seine Grenzen zu sichern. Außerdem wurde ein lokaler Ausnahmezustand ausgerufen. Die polnischen Grenzer berichten von 3.500 versuchten illegalen Grenzübertritten im August, im September waren es bisher schon 5.000. Inzwischen sind laut Euronews mehrere Todesopfer an der Grenze zu beklagen. Nachdem am Sonntag vier Leichen an der Grenze aufgefunden wurden, verstarb nun ein Mann vermutlich an einem Herzinfarkt, nachdem ein polnisches Krankenwagenteam versucht hatte, ihn wiederzubeleben.

Im Unterschied zu 2015 können sich die Migranten heute auf ein ausgedehntes Schleusernetzwerk verlassen. Laut Welt am Sonntag beteiligen sich in Deutschland lebende Iraker an der illegalen Einschleusung ihrer Landsleute. Mitte September kam es zu drei Festnahmen.

Als zentrale Figur des Geschehens muss man daneben den weißrussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka ansprechen, denn Migranten aus dem Irak, Syrien, dem Libanon, der Türkei, dem Iran und Jordanien erhalten Visa für eine Reise in die weißrussische Hauptstadt, wo die Schleuser außerdem Hotelzimmer für sie buchen. Danach geht es laut Bild mit Taxis oder zu Fuß weiter Richtung EU, bei Gesamtkosten von bis zu 5.000 Dollar (entsprechend etwa 4.250 Euro). Doch das Schleusergeschäft endet natürlich nicht an der EU-Außengrenze. In Polen geht es häufig mit Taxis weiter nach Deutschland. Neben Irakern und Syrern scheinen auch Afghanen die weißrussisch-polnische Strecke zu frequentieren, zumindest wenn man den Berichten der Migranten glaubt.

Zunehmende Sekundärmigration aus dem Süden

Doch auch die Sekundärmigration aus Südeuropa nimmt nicht ab. Griechenland hat seinen Grenzschutz im vergangenen Jahr deutlich verbessert, doch auch in diesem Jahr zählte Frontex noch 11.000 illegale Ankünfte in der Ägäis und am Evros, also 25 Prozent weniger im Vergleich zum Vorjahr. Meistens handelt es sich um Syrer, Afghanen und türkische Staatsbürger. Derweil wurden die überfüllten Insellager zu einem Großteil geleert. Doch die etlichen zehntausend Migranten, die bereits dort waren, mussten irgendwohin gebracht werden, solange Abschiebungen noch immer weitgehend unpraktikabel sind. In den letzten zehn Monaten sind schätzungsweise 27.500 zusätzliche Migranten so nach Deutschland gelangt, die in diesem Fall schon Asyl oder einen Status als Geduldeter in Griechenland erhalten haben.

Über die Zuständigkeit für diese anerkannten oder geduldeten Asylbewerber ist nun ein Streit zwischen den beiden Ländern entbrannt, der damit endete, dass Innenminister Seehofer den »Flüchtlingen« in Griechenland Unterstützung versprach. Aber auch eine solche Zusage hält den Zustrom wohl nicht auf. Beliebt ist auch hier die Flugroute über Warschau, um die strengeren Flughafenkontrollen der Bundespolizei zu vermeiden. Bekanntlich machen deutsche Gerichtsentscheidungen Abschiebungen nach Griechenland unmöglich, weil die Sozialleistungen in dem Land nicht auf bundesdeutschem Niveau sind.

Mindestens ebenso groß dürfte der Sekundärmigrationsdruck sein, den die Bundesrepublik aus Italien, Spanien und vom Westbalkan erfährt. Diese Regionen blieben auch dieses Jahr die Haupteinfallstore für illegale Migranten nach Europa. Vor allem über das zentrale Mittelmeer kamen laut Frontex rund 41.000 illegale Migranten, also zehn Mal so viele wie nach Litauen. Unter Mario Draghi hat Italien – weitgehend freiwillig – jede Kontrolle über die ankommenden Boote verloren, deren Insassen am häufigsten aus Tunesien, Bangladesch und neuerdings Ägypten (+542 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) stammen. Italien ist auch als Tor nach Norden wichtig für die Schlepper und illegalen Migranten, die nicht nur von Süden, sondern auch von Osten – aus Griechenland und der Türkei – anlanden.

Inzwischen mehren sich auch die Hinweise auf Schleuserkriminalität zwischen Italien und Deutschland. Anfang September war laut Welt am Sonntag ein Schlepperring hier lebender Afghanen entdeckt und angezeigt worden. Zehn Afghanen, die aus Kabul evakuiert worden waren, wurden in einem Bus nach Norddeutschland gebracht, obwohl die zehn bereits in Italien Asyl beantragt hatten.

Bayern und Baden-Württemberg sind höheren Zufluss gewohnt

Über den Westbalkan gelangten bis Ende August über 27.000 irreguläre Migranten in den Schengen-Raum, vor allem Syrer, Afghanen und Marokkaner. Die westliche Mittelmeerroute und die Westafrika-Kanarenroute steuerten weitere 19.000 Personen bei, vor allem Algerier, Marokkaner und Subsahara-Afrikaner, von denen auch nicht gesagt ist, dass sie im Erstankunftsland Spanien bleiben. Im August sahen vor allem die zentrale Mittelmeer- und die Westbalkanroute starke Steigerungen von 90 bzw. 119 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im gesamten Jahr waren es im zentralen Mittelmeer +61 Prozent, auf dem Westbalkan +99 Prozent, also eine Veranderthalbfachung bzw. eine Verdoppelung im Vergleich zum Jahr 2020.

In Deutschland wurden dieses Jahr laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis Ende August 85.230 Erstasylanträge gestellt. Im Juli und August lagen die Erstanträge damit wieder deutlich über der Zehntausender-Marke, nämlich jeweils bei rund 12.000. Doch die im Süden der Republik ankommenden Migranten treffen dort auf Aufnahmesysteme, die schon seit Jahren an den nicht enden wollenden Zufluss in das bundesdeutsche Asylsystem gewöhnt sind. Bayern und Baden-Württemberg haben den Augenblick ihrer Überlastung lange hinter sich und sind auf den beständigen Zustrom schlichtweg eingestellt.

Das Land Baden-Württemberg berichtet von einem spürbaren Anstieg der neu registrierten »Migranten und Migrantinnen«: Im ersten Halbjahr 2021 waren es demnach 5.345 im Vergleich mit 3.197 im ersten Halbjahr 2020. Damit ist man auf dem besten Wege zu Prä-Pandemie-Ständen: 2019 wurden 8.478 Migranten im Südwestland registriert, von denen das Land aber nur rund 5.000 in seinen Einrichtungen ›behielt‹. Der Rest wurde in andere Bundesländer weiterverteilt.

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