Wladimir Bukowski ist 78 Jahre alt. Er lebt in einem Häuschen mit wild bewachsenem Garten am Rande von Cambridge, wo er als Neurophysiologe eine akademische Karriere machte. Weltweit bekannt wurde der Dissident, als er die Unterbringung politischer Gefangener in psychiatrischen Anstalten ans Licht der Öffentlichkeit brachte. Immer wieder angeklagt, verbrachte er viele Jahre in Gefängnissen und Lagern der ehemaligen Sowjetunion, bis er vor 43 Jahren schließlich gegen den chilenischen Kommunisten Luis Corvalán ausgetauscht wurde.
Nach der Wende war Bukowski einige Monate als Berater von Präsident Boris Jelzin tätig. 2004 gründete er mit Boris Nemzow und dem früheren Schachweltmeister Garri Kasparow das liberale „Komitee 2008“. Nach Bekanntwerden des Abu-Ghraib-Folterskandals gehörte er zu den schärfsten Kritikern der amerikanischen Regierung. 2007 wollte er bei den russischen Präsidentschaftswahlen kandidieren, wurde aber vom zentralen Wahlkomitee abgelehnt, weil er im Ausland lebte. 2010 gehörte er zu den Mitunterzeichnern des Aufrufs „Putin muss gehen!“ der russischen Opposition.
Nach einer guten Zeit waren nun auch die vergangenen Jahre wieder schwierig für ihn, sowohl persönlich (Krankheiten, eine Herzoperation, vor der sein Arzt ihm mitteilte, die Chance, sie nicht zu überleben, liege bei 60 Prozent, zugleich eine – letztlich eingestellte – polizeiliche Untersuchung wegen angeblichen Herunterladens von „unanständigen Bildern“) als auch politisch. Der Westen, in den er vor 43 Jahren freigelassen wurde, entschied sich, so Bukowskis Analyse, dass er weniger Freiheit möchte als bisher. Das macht ihn traurig. Ein Gespräch.
Tichys Einblick: Gelbwesten, Trump, Brexit, Italien, Krise der EU-Integration – hat das alles irgendeinen gemeinsamen Nenner?
Wladimir Bukowski: Ja, es handelt sich um eine Art Aufstand. Es ist eine Revolte der normalen Leute gegen die Eliten. Sie gelten als Schöpfer des Akronyms EUdSSR. Was haben die Europäische Union und die UdSSR gemeinsam? Ist ein solcher Vergleich zulässig? Natürlich ist der Vergleich überzogen, was ich ja gleich in das Buch hineinschrieb, in dem Pavel Stroilov (junger russischer Historiker, politisches Asyl in Großbritannien – Anm. d. Red.) und ich diesen Begriff in Umlauf gebracht haben. Die EU ist nur eine blasse Kopie der Sowjetunion, ist nicht so repressiv, nicht blutig. Aber bezüglich der Strukturen bestehen Ähnlichkeiten, und ich sehe keinen Grund, sie zu ignorieren. Die EU-Komission ist ein Äquivalent des sowjetischen Politbüros. Ein nicht gewähltes Organ, das Politik macht. Das einzige Organ wiederum, das gewählt wird, das Europäische Parlament, kann nichts Wichtiges entscheiden. Die EU-Architektur ist ein Versuch, an der Demokratie vorbeizugehen. Zweitens: Das System bietet keine Alternative. Mehrmals stimmten die Leute in verschiedenen Ländern gegen eine weitere Integration in der Europäischen Union – und bekamen doch eine. Drittens: Es ist praktisch unmöglich, das Imperium zu verlassen. Die UdSSR konnte man nicht verlassen, obwohl es formal allen Sowjetrepubliken möglich war. In der Tat war es eine Phrase in der Verfassung. Die EU hatte lange Zeit kein Austrittsprozedere, worüber sie mit dem Artikel 50 des Lissaboner Vertrags zwar inzwischen verfügt, aber am Brexit sieht man, dass der Artikel 50 sich in die politische Wirklichkeit fast nicht implementieren lässt.
Wer die EU kritisiert, hat allerdings kein physisches Risiko zu tragen …
Da wäre ich mir nicht mehr so sicher. Elemente von Drohung und Einschüchterung gibt es inzwischen auch hier. Europol, EU-Haftbefehl, EU-Staatsanwalt, bisher nur im Keim vorhanden, gewiss, aber das kann sich schon noch entwickeln. Hier kommt nämlich zur EU-Struktur die zweite Komponente hinzu: politische Korrektheit. Was ja inzwischen offene Einschüchterung ist.
Historisch betrachtet laufen in Europa zwei gegensätzliche Strömungen. In den 1980er-Jahren wurde im Osten ein Prozess eingeleitet, in dem die Leute ständig mehr Freiheiten erwarben – langsam, schmerzvoll, aber immerhin. Ungefähr zur gleichen Zeit fing der Westen an, seine Freiheit zu verlieren, freiwillig und von sich aus. Er wurde von niemandem dazu gezwungen, diesen Schub hat seine eigene Linke geschafft. Neben der klassischen Linken, die sich seit dem 19. Jahrhundert um das Paradies auf Erden bemüht, haben wir es mit einer starken grünen Bewegung zu tun, mit der Neigung, das Leben der anderen zu kontrollieren, ihre persönlichen Freiheiten zu beschränken, ihnen die eigene Meinung aufzuzwingen. Politische Korrektheit (PC) ist im Grunde nichts anderes als marxistischer Revisionismus.
So etwas wird normalerweise als plumper Kurzschluss abgetan.
Die meisten Leute wissen es heute nicht mehr, aber wer sich die Entwicklungen der PC anschaut, findet die ersten Spuren in der Frankfurter Schule. Da besteht eine direkte Verbindung. Herbert Marcuse wird als Ideologe der Unruhen in den 1960ern verstanden, tatsächlich ist seine geschichtliche Rolle aber noch viel größer. Das Essay „Repressive Toleranz“ war ausschlaggebend. Hier schreibt Marcuse, dass unsere Toleranz in Wahrheit ein Versuch der Mehrheit ist, die Minderheiten zu unterdrücken. Die 70er und 80er waren eine Suche nach der neuen revolutionären Klasse, denn dank der technologischen Revolution ist das Gegenteil von dem eingetreten, was Marx einst prophezeit hatte. Nicht nur dass die Proletarier die Macht nicht übernahmen, sie lösten sich sogar auf.
Erinnern Sie sich noch, wann Sie zum ersten Mal mit Political Correctness konfrontiert wurden?
Ja, in Kalifornien, 1985 oder 1986: Ich ging gerade zu meinem Institut in Stanford zurück, aus dem Gebäude kamen zwei Damen, und ich hielt ihnen aus Höflichkeit die Tür auf. Purer Hass schlug mir entgegen. Eine von den beiden fing an: Du männliches chauvinistisches Schwein! Im Institut fragte ich dann meine Kollegen, welches Schwein gemeint sein könnte, und die lachten sich fast tot: Ach, die beiden waren bestimmt aus Berkeley. Die Staatsuniversität Berkeley war in Kalifornien eine Hochburg der extremen Linken. Also die Damen versuchten zu beweisen, dass ich sie unterdrückte. Dahinter stand der Gedanke, dass sie gleichwertig mit Männern wären, wenn man sie nicht als Frau behandelte. Damals bin ich zum ersten Mal auf so etwas gestoßen, und es hat mich total verwirrt. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nur dadurch zu beschreiben, wie sich die Gesellschaft zu der Person verhält, ist aus Sicht jedes professionellen Wissenschaftlers unhaltbar. Trotzdem ist daraus eine Mode, ein Tabu entstanden. Sag etwas dagegen, und gleich bist du Faschist.
Vor sechs Jahren waren Sie in Prag bei einer Diskussion in der Václav-Havel- Bibliothek. Ich erinnere mich, wie ein lokaler Intellektueller Sie in den höchsten Tönen lobte für Ihre Taten in der Sowjetunion und Ihnen gleichzeitig Ihren Euroskeptizismus übel nahm. Passiert Ihnen so was öfter?
Das passiert mir wahrscheinlich mein ganzes Leben lang. Aber es ist mir egal. Mich interessiert nicht, was rechts, links, was Mitte ist, ich habe ein anderes Kriterium: Ist das wahr oder nicht?
Nach England kehrten Sie aus Kalifornien im Jahr 1987 zurück. Wie lang hat es gedauert, bis Sie auch dort von der PC eingeholt wurden?
Das geschah nicht sofort. Als Erstes kam der aggressive Feminismus aus Amerika herüber. Allmählich nahm der Trend zu Freiheitsbeschränkungen verschiedene Formen an, wie zum Beispiel das Rauchverbot, für das auch unwissenschaftliche, lächerliche Behauptungen benutzt wurden, die man schon damals nicht öffentlich anzweifeln durfte. Dann wurden die Minderheitenrechte über das Recht der Mehrheit gestellt. Am Ende kamen wir schließlich da an, wo Marcuse uns haben wollte: Die bewahrte Ordnung wurde auf den Kopf gestellt. Der Unterschied ist, dass in Amerika in der Regel eine intellektuelle Mode bleibt, was in Europa in Gesetze überführt wird. In Gesetze, die Orwell Gedankenverbrechen nennen würde. Es wird nahezu unmöglich, dagegen zu kämpfen, weil Sie dann gegen das Gesetz kämpfen. Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen in England, wo etwa Christen bewusst provoziert werden, damit sie Hassrede-Verbrechen begehen. Ein Straßenprediger irgendwo an der Straßenecke versucht neue Gläubige anzuwerben – in einer freien Gesellschaft eigentlich normal. Aber es kommt jemand auf ihn zu und fragt, was die Bibel zur Homosexualität sage. Der Prediger zitiert die betreffende Passage – und wird laut dem Hassrede-Gesetz sofort zum Verbrecher. Am Ende haben wir ein Paradox: Vor dem britischen Gericht schwören Sie auf die Bibel, das heißt auf ein Buch, dessen Inhalt neuerdings rechtswidrig ist. Und überhaupt – wenn es Hate Speech gibt, gibt es dann auch so was wie Love Speech? Das Ganze ist nur noch lächerlich.
In Schweden wurde unlängst eine Rentnerin zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, die im Internet ein paar dumme Bemerkungen über eine Muslim-Invasion nach Europa schrieb.
Passiert hier auch. Tausende Leute in Großbritannien werden jedes Jahr fest genommen und verhört für etwas, was sie im Internet geschrieben haben.
Regt sich Widerstand?
Leider nicht, zumindest nicht in Großbritannien. Das konservative Lager hier befindet sich im reinen Chaos. Diese Typen bringen nicht den Mut auf, Schritt für Schritt nehmen sie alles hin. Als David Cameron aus der Politik ausschied, war er am meisten darauf stolz, dass er die Homoehe durchgesetzt hatte. Ein Führer der Konservativen! Damals machte ich den Vorschlag, man sollte ihn von jetzt an Decameron nennen.
Und Theresa May?
Die konformste Person, die wir je im Amt des Ministerpräsidenten hatten, gleich nach John Major.
Sehen Sie denn Hoffnung? Steht Trump für die kulturelle Gegenrevolution?
Sicher. Hier in England war der Ausdruck einer Revolte gegen die Eliten der Brexit. Trump ist die amerikanische Variante. Wie weit es gehen wird und mit welchem Erfolg, das werden wir noch sehen.
Was halten Sie eigentlich von Trump?
Nicht besonders viel. Als Mensch interessiert er mich nicht. Ein Egomane, zu sehr auf sein Image bedacht. In mancher Hinsicht erinnert er mich sogar an Chruschtschow. Gleichzeitig kommt aber durch Trump, ähnlich wie durch Chruschtschow, ein Wandel, möglicherweise stärker, als ihm bewusst ist. Trump berührte gewisse Saiten in der Psyche der Gesellschaft, verhalf den normalen Leuten zu Selbstbewusstsein, was gut ist. Die Gesellschaft leistet Widerstand und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Ich finde, das ist das bedeutendste Ereignis der letzten Jahre.
Haben wir heute eine Internetzensur?
Klar, von außen wie auch von innen. Zum Glück ist das Netz eine bereits so komplexe Bestie, dass es nicht mehr machbar ist, es langfristig zu kontrollieren. Okay, es gibt ein paar Monster wie Google, die man bewachen könnte. Und diese Monster wiederum können versuchen, Sie zu manipulieren. Das Wesen des Internet liegt aber in der Verbindung von inzwischen Millionen kleiner Gruppen, Organisationen, Menschen. Dagegen hat niemand die kleinste Chance. Schauen Sie sich den Bit-Torrent-Tracker Pirate Bay an: eine höchst interessante Geschichte, wo man die Ungebundenheit des Internets studieren kann.
Große IT-Firmen sind in der Lage, einen Großteil der Gesellschaft in ihrem Sinn zu manipulieren. Wenn wir die Indoktrinierung in den Universitäten hinzurechnen, ist das nicht eine tödliche Mischung?
Die Bildung ist tot. Während der letzten 20 Jahre geriet sie unter eine ideologische Überwachung. Ich lebe ja in Cambridge und kann aus der Nähe beobachten, wie sogar in den Spitzenfachbereichen das Prinzip des offenen Ergebnisses verloren geht. Das Konzept der akademischen Freiheit ist weg, wahrscheinlich für immer. Bestimmte Hypothesen dürfen Sie nicht mehr anzweifeln, oder Sie bedrohen Ihre Karriere. Zu sagen, dass die meisten Frauen bestimmte Fächer nicht studieren wollen, wie das einmal der Harvard-Präsident tat, geht nicht. Wie er verliert man dann umgehend seine Stelle.
Noch ein paar persönliche Fragen. Vor vier Jahren leitete die Polizei eine Ermittlung gegen Sie ein wegen Herunterladens von Kinderpornografie aus dem Internet. In welchem Stadium ist die Sache jetzt?
Sie wurde eingestellt. Der Richter sagte, eine Fortsetzung der Ermittlungen würde den Interessen der britischen Justiz nicht dienen. In diesem Fall ging man von einer Reihe falscher, irreführender Informationen aus; beispielsweise behauptete die Polizei, ich hätte manche Fotos selbst gemacht, was sie dann zurücknahm. Der Anlass zu der Ermittlung kam über Europol, und wir haben starke Indizien, dass der Anstoß aus Russland kam. Ich kann es aber vor Gericht nicht beweisen, weil keine Verhandlung stattfinden wird.
Warum haben Sie die Fotos überhaupt auf ihren Computer heruntergeladen?
Es hat einen prosaischen Grund: In Russland wurde damals ein Gesetz gegen die sogenannte Gay-Propaganda beschlossen. Mich interessierte, ob und inwieweit eine solche Propaganda sexuelle Orientierung wirklich verändern kann. Damit wurde das Gesetz in Russland begründet. Ich bin Neurophysiologe, daher auch mein Interesse. Es lässt sich aber schnell beweisen: Einen solchen Zusammenhang gibt es nicht, Gay-Propaganda kann eine solche Wirkung nicht entfalten. Ich hatte übrigens in meinem Rechner viel weniger Bilder als ursprünglich behauptet wurde. Das Gesetz wurde auch damit begründet, dass Homo-Propaganda die Kinderprostitution befördere. Was ebenfalls Unsinn ist. Prostitution ist kein sexuell bedingtes, sondern ein kommerzielles Phänomen. Dass es in Russland zwei Millionen Kinderobdachlose gibt, ist ein Grund der Kinderprostitution, nicht Gay-Propaganda.
Sie glauben, der russische Geheimdienst ist in Ihren Computer eingebrochen, weil er wusste, was Sie alles drinhaben?
In dieser Hinsicht sind die tatsächlich sehr gut. Es hat sich schon in mehreren Fällen gezeigt, auch in meinem. Sie nisten sich in Ihrem Computer ein, und Sie selbst entdecken das nicht. Auch bei der britischen Polizei dauerte es eine Weile, bis ihr einleuchtete, wie leicht es für einen russischen Geheimdienst ist, in einen Computer irgendwo in England einzudringen. Als sie begriffen, dass sie zum Instrument des russischen Geheimdiensts geworden waren, schlossen sie meine Akte lieber in aller Stille.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Ach, mein Alltag wird für Ihre Leser nicht interessant sein. Ich bin krank. Schon ein paar Jahre. Vor drei Jahren musste ich mich einer sehr schwierigen und gefährlichen Herz-OP unterziehen, übrigens in Deutschland. Ich habe mich seither nicht richtig erholt. Kann nicht gehen, bin auf den Rollstuhl angewiesen, also verlasse ich mein Haus kaum mehr. Die Welt beobachte ich nur noch durch das Internet.
Das Interview ist in Ausgabe 04-2019 von Tichys Einblick erschienen.