Im Irak stehen 2019 noch 5.000 amerikanische Soldaten – nach 170.000 im November 2007. Während sich alle Augen auf die türkischen Massaker in Syrien richten, sterben im benachbarten Irak Anfang Oktober 2019 über 180 Protestierer im Kugelhagel schiitischer Spezialeinheiten unter Führung iranischer Kommandeure. Weitere 7.000 werden verletzt.
Bloß keine Aufregung, würden versierte Berichterstatter einwerfen. Recht haben sie. Allein zwischen 1961 und 2017 absolviert der Irak – und das ist eine konservative Zählung – zehn Kriege und Bürgerkriege. Etliche gehen einher mit Völkermorden. Es beginnt 1961 mit antikurdischen Gemetzeln durch irakische Araber und endet 2017 mit dem Ende das Kalifats, bei dessen Niederwerfung viele tausend Kurden ihr Leben verlieren. Mindestens 600.000 Menschen kommen im Gesamtzeitraum durch die Kampfhandlungen um.
Und doch gibt es keine Kampfesmüdigkeit. Das kann nur solange verwundern, wie die Demografie ausgeblendet bleibt. 1960 hatte der Irak 900.000 Jünglinge im Kampfalter von 15 bis 29 Jahren. 2019 sind es mit 5,7 Millionen mehr als sechsmal so viele. Was vorne in den Schlachten fällt, wird aus den Entbindungskliniken in der Etappe keineswegs nur ausgeglichen, sondern gleich vielfach übertroffen. Es sind nicht mehr sechs bis sieben Kinder pro Frauenleben wie zwischen 1960 und 1970, aber immer noch vier bis fünf. Durchgehend können die Geburtenraten die Sterberaten haushoch schlagen. 2035 kann der Irak 7,7 Millionen Jünglinge im Alter von 15 bis 29 Jahren ins Feld stellen. Das ist das Achteinhalbfache von 1960 und reicht für alle nur denkbaren Fraktionen, deren Namen selbst in Bagdad niemand mehr überschaut.
Beim Verteidigen seines Syrienrückzugs erwähnt Trump auch die sieben oder acht Billionen Dollar, die seine Steuerzahler bisher in den Irakfeldzügen verloren haben. Das wird ihm als Demagogie ausgelegt. Es bestätigt aber, dass er längst nach einem Zeitpunkt für einen weiteren Kriegsverzicht Ausschau hält. Werden seine Kritiker die heimgeholten amerikanische Jünglinge wieder ins Feuer schicken, wenn sie an der Macht sind?
Das ist eine Frage für die Zukunft, also für Amerikas Jugend. Sie umfasst im Alter unter 15 Jahren gut 60 Millionen Kinder, von denen 20 Millionen übergewichtig sind. Ihnen stehen allein im arabischen Raum knapp 140 Millionen Gleichaltrige gegenüber. Im benachbarten Südamerika sind es 160 Millionen. Im ferneren Subsahara-Afrika drängen sogar 460 Millionen nach vorne. Viele werden im Zorn heranwachsen und kaum weniger werden nach Amerika übersiedeln wollen. Richtig gefährlich aber wird es nur, wenn man seine einzigen Söhne zu ihnen in den Krieg schickt. Eine ernsthafte Konkurrenz hingegen bilden gleichzeitig 250 Millionen junge Chinesen, die von den Hightechindustrien alle übernehmen wollen und das vom Verstand her auch können: Das Reich der Mitte hat „nur“ viermal so viel Menschen wie die USA, aber achtmal so viele MINT-Absolventen.
Alles in allem geht es um eine milliardenstarke Jugend, die den 60 Millionen der Führungsmacht gegenübersteht. Kann da verwundern, dass selbst die etwas Älteren einfach nicht mehr antreten wollen? Gegenwärtig möchte die Hälfte der US-Millennials (Jahrgänge 1981-1994) und der Generation Z (ab 1995) lieber sozialistisch als im Kapitalismus leben. Wer ihre Stimmen gewinnen will, wird Trump zwar lautstark als Verräter schelten, seine Politik aber entschlossen weiterführen.
Siehe auch: Wer wird Weltpolizei nach den USA?
Gunnar Heinsohn (*1943) hat von 2011 bis 2019 Kriegsdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom gelehrt. In Stavanger hat er 2018 das Grundsatzreferat zum 15. Geburtstag des Joint Warfare Center (JWC) der NATO gehalten.