Tichys Einblick
Schwarzer Peter beim Nord-Stream-Anschlag

Wie lange kann sich Selenskyj noch halten?

Der WSJ-Bericht zum Anschlag auf Nord Stream kennt vor allem einen Hauptverantwortlichen: Wolodymyr Selenskyj. Die USA sind offenbar schon länger mit dem ukrainischen Präsidenten unzufrieden. Der Krieg ist unpopulär geworden. Friedensbemühungen und Annäherungen an Russland laufen bereits länger. Da steht der Ex-Komiker im Weg.

picture alliance / Anadolu | Ukrainian Presidency/Handout

Verwundert der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Wall-Street-Journal-Artikels zum Anschlag auf die Nord-Stream-Pipeline? In den letzten Wochen hat sich die Lage für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj immer weiter zugespitzt. Denn die außenpolitische Situation ändert sich von Tag zu Tag.

Sehr früh berichtete TE bereits darüber, dass in Syrien ein Arrangement mit Staatschef Baschar al-Assad gesucht wird. Das bedeutet eine bemerkenswerte Wende. Seit mehr als zwölf Jahren versucht der Westen ihn loszuwerden. Man sprach ihm die Anerkennung ab, setzte unverhältnismäßige Sanktionen gegen das Land durch, das in der europäischen Migrationspolitik eine Schlüsselrolle spielt. Syrien gilt als Russlands Verbündeter: Damaskus schlagen, Russland treffen, bedeutete daher die Devise. Dass ein zaghafter, aber stetiger Kurswechsel eintritt, war ein Signal.

Anfang der Woche hatten der italienische und schweizerische Außenminister angekündigt, sich wieder für einen Friedensgipfel einzusetzen. Die Eidgenossenschaft soll wieder ihre Position als Mediator nutzen. Bei den Gesprächen soll – anders als beim erfolglosen Vorläufer – auch Russland am Tisch sitzen. Die Ukraine hat sich mit der Entscheidung einverstanden erklärt, heißt es. Das sagt zwar noch nichts zu einer möglichen Vereinbarung aus, insbesondere nicht, da Moskaus Forderungen für Kiew als unannehmbar gelten. Aber es ist ein weiterer Schritt, der vor ein paar Monaten noch undenkbar war.

Bereits seit Anfang des Jahres ist die Unpopularität des Ukraine-Konfliktes in den USA spürbar gestiegen. Dazu trug der erhöhte Gaspreis im heimischen US-Markt bei. Im Wahljahr hatte Präsident Joe Biden deswegen angekündigt, den Export vorerst zu deckeln, indem er den Neubau von Terminals zum Export abbrach. Keiner der Kandidaten, auch nicht Biden oder Kamala Harris, hat den Ukraine-Krieg als „Werbung“ benutzt, obwohl der Konflikt ein unterschwellig beherrschendes Thema ist – denn die Finanzierung ist den US-Bürgern kaum noch zu vermitteln.

Donald Trump hat in seiner ihm eigenen Rhetorik schon im Präsidentschaftsduell darauf hingewiesen, er würde den Ukraine-Krieg nach seiner Wahl und noch vor seiner Inauguration beilegen. Die Democrats stehen deswegen unter Druck, denn sollte ein Waffenstillstand in die mögliche Amtszeit Trumps fallen, würde ihm das als Erfolg zugerechnet.

Aber selbst, wenn Harris einziehen sollte, müssten bereits die Weichen gestellt werden, dass der anhaltende Krieg inklusive Waffenlieferungen nicht zu ihrer Hypothek wird. Auch die Democrats dürften Interesse an einer Abwicklung der Ukraine-Frage haben, um die Angelegenheit gemeinsam mit Biden loszuwerden – nicht zuletzt aufgrund der immer noch ausstehenden Aufarbeitung der Causa Hunter Biden und Burisma. Sie erinnern sich: Nicht nur Bidens Senilität, sondern auch der Laptop und andere Biden-Jr.-Geschichten, sowie finanzielle Verwicklungen des Biden-Clans galten als „rechtsextreme Verschwörungstheorie“, von denen sich (anders als etwa die Russland-Verstrickungen Trumps) einige nunmehr als Fakt entpuppt haben.

Im Gordischen Knoten des Ukraine-Krieges spielt Selenskyj eine entscheidende Rolle. Als Kriegspräsident ist er zu gebrauchen. Aber als Friedensbringer? Bekanntlich hat er seinem Volk versprochen, die Grenzen der Ukraine wieder auf den Stand vor der Krim-Annexion zurückzudrehen. Um Russland zu so einem Zug zu überreden, müsste er allerdings schon etwas weiter vorstoßen als bis Kursk. Hinter seine Ankündigung dürfte er aber kaum zurückfallen – solange er Präsident der Ukraine ist.

Freilich bestreitet Kiew jede Beteiligung an dem Anschlag auf Nord Stream. Stattdessen bezichtigt man Russland, denn nur Russland hätte über die finanziellen und technischen Ressourcen verfügt, um einen solchen Anschlag durchzuführen. Abseits davon, dass eine solche Ausgangslage auf mindestens zwei weitere „Global Player“ zutrifft, erinnert es doch eher an eine Carlo-Masala-Gedächtnisexpertise. Deren Haltbarkeitsdatum fällt bekanntlich etwas geringer aus als das von Frischmilch.

Auf eine möglichst schnelle Aufnahme der Ukraine, wie sie Selenskyj wünscht, ist keines der maßgeblichen Nato-Länder eingegangen. Das könnte die Nato auch schon deswegen nicht, weil es einen Präzedenzfall schaffen würde, demnach kriegsführende Länder es mit Invasionstruppen auf eigenem Territorium in den Pakt schaffen würden. Diese Pandorabüchse will niemand öffnen. Als schärfster Verfechter einer westlichen Beteiligung in der Ukraine gelten nicht mehr die USA, sondern Frankreich unter Emmanuel Macron (sieht man von Polen und Balten ab).

Selenskyj steht demnach deutlich länger unter Druck und er dürfte vor allem die Emanzipation des großen transatlantischen Bruders gespürt haben. Auch so ist der Vorstoß nach Kursk zu verstehen, den auch westliche Beobachter kritisiert haben, dass er der Ukraine langfristig mehr schaden als nützen könnte. Doch dem ukrainischen Präsidenten geht es offenbar darum, noch einmal Stärke und Initiative zu demonstrieren. Er muss sich kurzfristig Luft verschaffen und zeigen, dass mit Kiew noch zu rechnen ist, während die Kriegsmüdigkeit um sich greift.

Liest man die Story des WSJ genau, dann fällt vor allem eines auf: Der Schwarze Peter wird an die Ukraine und namentlich an Selenskyj geschoben. Beinahe herzzerreißend ist die Anekdote, die CIA habe ihn zurückgepfiffen, als er bereits sein Ja zum Anschlag gegeben habe. Der große Bruder mit mahnendem Zeigefinger im Hintergrund. Selenskyj dagegen der politisch Verantwortliche, der darüber hinaus seine Hunde nicht an der Leine halten kann. Sein Versuch, den erlassenen Befehl rückgängig zu machen, schlägt laut WSJ fehl.

Neben Selenskyj gibt es aber noch einen Verlierer. Er heißt Seymour Hersh. Denn während die „neue“ Anschlagsthese im Massenstrom der Medien angekommen ist, hat man die Thesen von Hersh, nach denen die USA unter Biden hinter dem Anschlag stehen. längst vergessen. Es ist die unangenehme Variante, was wirklich passiert sein könnte. Sie würde Unzufriedene schaffen.

Das neue Szenario kennt bis auf Selenskyj dagegen nur Gewinner. Auf dem politischen Kadaver des „Rosstäuschers“ Selenskyj könnte man auch den Ukrainern größere Zumutungen machen; möglicherweise nach der Einsetzung eines Präsidenten, der pro-westlich ist, aber besser zu handhaben. Ein Sündenbock ist da, auf den man alles Übel des Krieges und natürlich des Anschlages abwälzen kann. Die Türe für eine Annäherung an Russland, das ja nicht zuletzt gegen das „Nazi-Regime“ zu Felde zog, ist einen Spalt größer, da auch Moskau sein Gesicht wahren könnte. Der Westen bleibt pro-ukrainisch. Aber eben unter anderen Vorzeichen.

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