Wenn man Ungarn, vor allem aber den gewählten Ministerpräsidenten Viktor Orbán in ein schlechtes, vor allem düsteres Licht stellen kann, empfinden Journalisten hierzulande anscheinend weder moralische, noch professionelle Hemmungen. Als der Ministerpräsident zum Höhepunkt der Pandemie in Ungarn laut Artikel 53 der ungarischen Verfassung von 2011 die Gefahrenlage ausrief, sahen einige deutsche Medien in Ungarn die Diktatur anbrechen, drosselten aber erstaunlicherweise ihre Lautstärke in der Berichterstattung über die Maßnahmen der Regierung Merkel, zum Beispiel ohne Bundestag zu regieren, ein Gremium der Ministerpräsidenten ins Leben zu rufen, über die Angriffe auf die bürgerlichen Rechte, auf die Gewaltenteilung und auf den Föderalismus, also auf die Grundlagen der Demokratie in Deutschland. Während in Deutschland noch immer so etwas wie ein Ausnahmezustand, die epidemische Lage gerade verlängert wurde, teilte das Auswärtige Amt auf eine Anfrage der Linkspartei am 13.11.2020 mit, dass „der am 11. März 2020 aufgrund des Coronavirus ausgerufene Ausnahmezustand in Ungarn …zum 18. Juni 2020 aufgehoben worden“ ist.
Doch es wird nicht nur geframt und insinuiert, nicht nur unvollständig berichtet, man lässt nicht nur Objektivität vermissen, sondern man scheint auch keine Skrupel davor zu haben, Zitate zu unterschieben, wie es der Redakteur der ZEIT, Michael Thumann, kürzlich unternahm, der in dem Hamburger Wochenblatt als Korrespondent für Außenpolitik zuständig ist, also einer, der es besser wissen sollte. In Thumanns Buch „Der neue Nationalismus“ heißt es auf Seite 215 f:
»In der Flüchtlingskrise 2015 baute sich Orbán als europäischer Hauptgegenspieler von Bundekanzlerin Merkel und der Brüsseler Bürokratie auf. Er inszenierte sich als „letzter Verteidiger eines Europas der Nationen, der Familie und des Christentums“. Angela Merkel sei für ihn ein „allerletztes, verlogenes, niederträchtiges Weib“, sie sei „gemeingefährlich, man müsste sie schnellstens aus dem Amt entfernen“. Die Abschottung der Grenzen nach Süden sah er als Kampf für die „fleißig arbeitenden ungarischen Menschen“ gegen die „bizarrste Koalition der Welt aus Menschenschmugglern, Menschenrechtsaktivisten und Europas führenden Politikern, die Millionen von Migranten reinlassen“ wollten.6«
„The most bizarre coalition in world history has arisen,” he declared, “one concluded among people smugglers, human rights activists, and Europe’s top politicians, in order to deliver here many millions of migrants. Brussels must be stopped!” (Die bizarrste Koalition in der Weltgeschichte ist entstanden, deklarierte er, die Menschenschmuggler, Menschenrechtsaktivisten und Europas Spitzenpolitiker vereint, um Millionen von Migranten nach Europa zu bringen. Brüssel muss gestoppt werden.)
Doch zwischen dem ersten und dem vierten Zitat findet sich Orbáns angebliche Äußerung über Angela Merkel nicht, die Thumann zitiert, sondern bei Paul Lendvai heißt es:
„In the time-honored tradition of populist demagogues, he cast the migrant influx as the product of a conspiracy among hostile foreigners and corrupt elites: (In der altehrwürdigen Tradition populistischer Demagogen bezeichnete er den Zustrom von Migranten als Produkt einer Verschwörung unter feindlichen Ausländern und korrupten Eliten:)
Im Zusammenhang lautet das Lendvai-Zitat so:
„Again and again, Orban has presented himself and his government as “the last defenders of a Europe based on the nation, family, and Christianity.” In the time-honored tradition of populist demagogues, he cast the migrant influx as the product of a conspiracy among hostile foreigners and corrupt elites: “The most bizarre coalition in world history has arisen,” he declared, “one concluded among people smugglers, human rights activists, and Europe’s top politicians, in order to deliver here many millions of migrants. Brussels must be stopped!”
Nirgendwo finden sich hier Viktor Orbáns Äußerungen über Angela Merkel. Deshalb fragte TE am 3. Juni 2021 den Autor:
„Sehr geehrter Herr Thumann,
in Ihrem Buch „Der neue Nationalismus“ schreiben Sie auf Seite 216 über Viktor Orbán: „Angela Merkel sei für ihn ein „allerletztes, verlogenes, niederträchtiges Weib“, sie sei „gemeingefährlich, man müsse sie schnellstens aus dem Amt entfernen.“ Als Quelle für das Zitat geben Sie Lendvais Artikel in Foreign Affairs, Vol. 5, Nr. 5, 2019 S. 53 an. Allerdings findet sich dieses Zitat nicht im Artikel von Paul Lendvai. Würden Sie uns bitte die Quelle des Zitats mitteilen.
Darauf antwortete Michael Thumann am selben Tag:
„vielen Dank für Ihre Nachfrage. In dem von Ihnen erwähnten Absatz finden sich mehrere Zitate von Orbán. Die Fußnote mit der Quellenangabe aus Foreign Affairs bezieht sich auf das letzte lange Zitat in diesem Absatz, wohinter ich die Fußnote 6 gesetzt habe. Das Merkel-Zitat im selben Absatz weiter oben ist dem Buch von Paul Lendvai entnommen, auf das ich zuvor in der Fußnote 4 Bezug nehme.“
„Ein allerletztes, verlogenes, niederträchtiges Weib. Merkel ist verrückt geworden oder sie wird erpresst. Sie ist gemeingefährlich, man müsste sie schnellstens aus dem Amt entfernen.“
Der Haken an der Geschichte ist nur, dass diese Sätze nicht von Viktor Orbán stammen, wie Michael Thumann dem Leser offeriert, sondern von dem ungarischen Publizisten Zsolt Bayer (https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/V4_igy_tovabb, https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/Nyomozgatunk).
Während Paul Lendvai versucht, dass Zitat in Orbans Nähe zu bringen, in dem er behauptet, dass Zsolt Bayer ein enger Freund Orbans ist, macht Thumann die Bayer-Sätze zu einem Orban-Zitat und durchbricht damit die Grenzen zwischen Framing, Insinuation und Fälschung.
Fehler geschehen jedem, doch liest man Lendvais und Thumanns Buch, so lässt nichts darauf schließen, dass dieser Fehler dem Außenpolitikkorrespondenten der ZEIT unterlaufen ist. Denn das Ganze hat Methode, und zwar die Methode, die ausgerechnet Paul Lendvai Viktor Orbán unterstellt und die er als die „Technik der Verdrehungen, Verkürzungen und Klitterungen, die zu raffinierter Kunst verfeinerte Methode der Doppelsprache“ beschreibt und ihm unterstellt, „grundsätzlich alles, was seinen Vorstellungen nicht entsprach, moralisch zu verdächtigen…“. Von linken und linksliberalen Journalisten und Politikern, von politischen Aktivisten angewandt erfreut sich diese Methode längst große Beliebtheit in Deutschland.
„Das Vaterland existiert auch dann, wenn nicht wir die Regierungsverantwortung haben. Das Vaterland ist nicht einfach Politik, sondern unser Leben. Es kann schon passieren, dass unsere Parteien (gemeint sind die mit Fidesz verbündeten Christdemokraten) im Parlament in der Opposition sind. Aber wir, die uns hier auf diesem Platz versammelt haben, können und werden nicht in der Opposition sein, weil das Vaterland nicht in der Opposition sein kann. Es kann natürlich sein, dass eine Regierung in Opposition zum eigenen Volk steht, wenn sie die Ziele der Nation aufgibt.“ Diese Aussage wiederholte er auch anlässlich der Sitzungseröffnung des Parlaments im Herbst 2019. Anhand derer wird der Aussagesinn der Worte von 2002 verständlicher: „Die Ungarn glauben an die Zukunft der Demokratie. Wir arbeiten mit allen Bürgermeistern und Gemeinderäten zusammen. Wir müssen unabhängig von der Parteizugehörigkeit zusammenarbeiten, denn es ist nach wie vor wahr, dass die Nation nicht in der Opposition sein kann.“ (Zitiert nach: Orbán, Viktor: Egy az ország (Eins ist das Land), Budapest 2007, S. 14).
Auch hier sagt Viktor Orbán eben nicht, dass die Nation in „FIDESZ verkörpert“ sei, wie Thumann unterstellt. Man muss sich schon sehr, sehr bemühen und intellektuell alle Fünfe gerade sein lassen, um Orbáns Worte so zu interpretieren, doch müsste man dann zumindest deutlich machen, dass man nicht Orbán zitiert, sondern lediglich die eigene Interpretation zum Besten gibt. Aber Thumann benötigt diesen Satz, um zu schlussfolgern: „Damit wurde er zum Muster des autoritären Populismus in Europa, der entschlossen ist, sich nicht abwählen zu lassen, koste es die Nation, was es wolle.“ Übrigens wären nach dieser Populismus-Definition auch Helmut Kohl, Barack Obama, Angela Merkel und Emmanuel Macron „autoritären Populisten“, denn sie waren oder sind entschlossen, sich nicht abwählen zu lassen, sonst hätten sie aus dem Amt heraus keinen Wahlkampf durchführen müssen.
Doch Michael Thumann ist zu diesem zweifelhaften Vorgehen genötigt, weil andernfalls die Grundthese seines Buches von der Verschwörung der neuen Nationalisten von Putin über Erdogan über Trump und Johnson bis zu Orbán in sich sang- und klanglos zusammenfallen würde.
Auch Michael Thumanns Bemerkung, dass Orbán die „meisten Medien“ des Landes gleichgeschaltet habe, hält keiner Überprüfung stand. Es wundert daher nicht, dass er diese Bemerkung ohne Beleg lässt, denn das Gegenteil ist der Fall. So sind die bedeutendsten ungarischen Print- und Onlinemedien eher links, wie bspw. Heti Világgazdaság (HVG), Élet és Irodalom, Magyar Narancs, Népszava, 444 (online), 168 Óra.
Verkürzte Darstellungen, Framing, aus dem Zusammenhang gerissene und in einen neuen Kontext gestellte Zitate, und sogar untergeschobene Zitate bilden das Repertoire der Ungarn-Berichterstattung von bestimmter Seite, der es nicht um Information und Reportage geht, sondern um aktivistischen Journalismus, einer Seite, die mit allen Mitteln versucht, die eigene Ideologie zu belegen – und alle, die dieser Ideologie nicht folgen, zu diskreditieren.
Man muss Viktor Orbáns Politik nicht schätzen, aber was man keinesfalls darf, bei niemandem übrigens, ihm Zitate zu unterschieben, sondern man hat sich, fair nach den Regeln der Kunst mit dessen Politik auseinanderzusetzen. Oder man schweigt.