Tichys Einblick
Grenzkonflikt am Evros

Wie Griechenland mit der asymmetrischen Herausforderung umgeht

Am Evros führen griechische und türkische, offizielle und Hilfstruppen einen Kampf gegeneinander. Doch die Griechen zeigen sich entschlossen – zu Lande wie zur See. Von den 1000 zusätzlichen Spezialpolizisten, die die Türkei angeblich an den Evros entsandt hat, fehlt dagegen noch jede Spur.

OZAN KOSE/AFP via Getty Images

Am Mittwochmorgen war die trügerische Ruhe vorbei. Am fünften Tag der Belagerung berichtete der oberste Grenzwächter am Evros von einem »erneut schwierigen Tag«. Nicht nur störte ihn die »organisierte Propaganda« der anderen Seite, auch die militärischen Operationen hatten nach einem Tag scheinbarer Beruhigung wieder zugenommen, meinte Chrysovalantis Jalamas in einer Radiosendung: »Gestern hatten wir eine Ruhe, die uns sehr verdächtig vorkam, nicht nur am Grenzübergang von Kastanies, sondern auch auf der ganzen Länge des Evros. Heute hat die Türkei wieder ihr wahres Gesicht gezeigt, indem sie die Migranten offen gegen uns hetzt und auf unsere Kollegen chemische Kampfstoffe und was auch immer abwirft. Wir stehen erneut unter Druck.«

Seiner Erinnerung nach seien es um die 300 Personen gewesen, die zusammen mit der türkischen Armee – und sicher aus deren Beständen – Kampfstoffe abfeuerten. Aber noch funktioniere der Einsatzplan der Regierung gut: »Wir wissen natürlich nicht, wie sich die Menschenströme in der Türkei entwickeln. Aber noch wird die Grenze bewacht, und noch hält der Evros.« Die Migranten bewegen sich unterdessen einmal nach Süden, einmal nach Norden entlang des Grenzverlaufs. Unsicher ist, wie sie sich abstimmen. Sicher ist nur, dass sie es tun. 

Die Lage am Evros wächst sich immer mehr zu einem wahrhaftigen Konflikt zwischen zwei Ländern und ihren Hilfstruppen aus. Auf der türkischen Seite ist die Lage klar: Ein Heer von faktisch Staatenlosen wird von Erdoğan im wahrsten Sinne des Wortes aufgefahren und gegen die europäischen Grenzen in Stellung gebracht. Hinter ihnen stehen aber auch reguläre türkische Kräfte, die sie mit Kampfmaterial – darunter Tränengas, inzwischen möglicherweise auch schon Gewehre – ausrüsten und auch selbst gegen den griechischen Grenzschutz angehen. Inzwischen hat Erdoğan 1000 türkische Polizisten, angeblich gut ausgerüstete Spezialeinheiten, an die Grenze gebracht, angeblich um zu verhindern, dass die Migranten »zurückgedrängt« werden, wie der türkische Innenminister Süleyman Soylu bei einem Besuch im Grenzgebiet sagte. Die asymmetrische Kriegsführung der Türken ist dabei durch vielfache Beobachtungen und Bilder belegt. Drohnen werden von türkischen Grenzpolizisten betrieben, über chemische Kampfmittel berichten die griechischen Medien jeden Tag. Nun finden sich auch Videos von Migranten, die mit Gewehren schießen. Dabei erhalten die Migranten angeblich sogar Erkennungsmarken, um sie zu koordinieren.

Auf der griechischen Seite stehen den Türken in erster Linie der offizielle Grenzschutz und das Militär gegenüber, doch werden auch sie von einer gewaltigen Hilfstruppe unterstützt: Es sind griechische Bürger, die nicht nur in der Etappe für die Versorgung der eingesetzten Kräfte sorgen, sondern auch selbst an die Front gehen, um die Abwehr der illegalen Einwanderer sicherzustellen. 

Gespräch mit einer Griechin am Evros
Die jetzt kommen, sind keine Syrer, die kommen aus Afghanistan, aus Marokko, aus Pakistan
Nacht für Nacht bieten die Bauern der Region ihre Traktoren und andere Fahrzeuge auf, um den Grenzschützern mit ihren Scheinwerfern auch im Dunkeln die Arbeit zu ermöglichen. Doch die Grenzpolizisten können auch nicht überall sein, und so tun die Bauern ihr Werk auch im Alleingang. Wie wehren sie die Illegalen ab? »Mit Stöcken, mit Scheinwerfern, mit Lampen, was immer man finden kann… damit sie merken, dass da Griechen sind, und damit sie Halt machen«, sagt ein Grieche um die 60 mit einschneidender Stopp-Geste.

Auch die Mütter vom Evros lassen sich nicht ermüden, bringen den Soldaten und Polizisten das von ihnen gekochte Essen. Warum? »Wir haben doch selbst Kinder und Enkel dort.« Eine andere Frau sagt sogar: »Die Mütter [der Soldaten] sollen keine Angst um ihre Söhne haben, denn wir sind ja da, wir sind bei ihnen.« Inzwischen hat ein Regierungsvertreter es für richtig gehalten, einzelne Griechen zu bremsen, die sich wie »Sheriffs« im Grenzgebiet aufführten. Ein Panzerregiment des 4. Armeekorps in Thrakien hat ostentativ mit einem Plakat posiert. Aufschrift: »Wir sind bereit« oder auch »Wir warten«. Dazu noch die Information, dass jeder militärische Eindringling den griechischen Soldaten in den Bergen, aber auch in den Tälern, im Meer und in der Luft finden werde. Zitiert wird dabei ein Widerstandslied aus dem Zweiten Weltkrieg.

»Interessante Bedingungen« für die griechische Regierung

An seinem Geburtstag traf Kyriakos Mitsotakis den Präsidenten des zypriotischen Repräsentantenhauses. Kein außergewöhnliches Ereignis, doch in einem Tweet sprach der griechische Premier davon, dass die Unterstützung des befreundeten Landes unter diesen »interessanten und schwierigen Bedingungen« besonders nötig sei. »Interessant«? Interessant.

Mit Bezug auf den Besuch der vier EU-Präsidenten hob Außenminister Nikos Dendias hervor, dass die Lage an der griechisch-türkischen Grenze ganz Europa angehe und daher auch von allen EU-Partnern gemeinsam angegangen werden müsse: »Von unseren europäischen Partnern erwarten wir Solidarität mit Griechenland und eine einheitliche Haltung gegenüber der Bedrohung, der sich die Europäische Union gegenüber sieht.« Absolut inakzeptabel sei der Versuch des östlichen Nachbarn, »menschliche Seelen, unglückliche Menschen, die versuchen zu überleben und ein besseres Leben suchen, zu benutzen, um politische Ziele zu erreichen«.

Die am Evros aufgegriffenen Grenzübertreter (laut offiziellen Quellen insgesamt 252) verteilen sich folgendermaßen auf die verschiedenen Nationalitäten:

Der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Alkibiades Stefanis, berichtet, dass Griechenland auf die türkische Verhaltensänderung in Sachen Migration seit Ende letzten Jahres vorbereitet gewesen sei. Schon seit dem 16. Dezember habe man die Grenze am Evros stärker befestigt. Zu den 1000 neuen Sonderpolizeikräften der Türkei befragt, stellte Stefanis fest, dass man die Lage sehr genau beobachte, die eigenen Schritte sorgfältig plane und jedem Problem begegnen werde, sobald es sich zeigt: »Wir fürchten uns nicht davor, wir sind ja dafür ausgebildet, wir wissen, was wir tun, und reagieren auf jede Lage sachgemäß. Wir beobachten, welche Möglichkeiten Erdoğan hat und auf dieser Basis planen wir unsere Reaktion.« Die Einsatzleitung erwartet demnach eine Zuspitzung der Lage, aber man sei auch jederzeit zu einer Verstärkung der eigenen Kräfte bereit und in der Lage.

Neues Ausgreifen auf die Inseln?

Auch auf den Inseln erwarten die Griechen eine Steigerung des Zustroms. 68 zivile und militärische Schiffe will man daher auslaufen lassen, außerdem würden Hubschrauber und Drohnen eingesetzt. Hinzu kämen Schiffe der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der Nato, alle zusammen seien aber durch eine zentrale Planung miteinander verbunden.

Gemäß griechischen Informationen könnte die Türkei nun auch versuchen, Migranten auf kleinere, unbewohnte Inseln der Ägäis zu bringen. Die griechische Marine reagiert darauf seit den frühen Stunden des Freitags mit der Operation »Brandschiff«. Eine große Zahl von Kriegsschiffen soll dabei in den Wassern der Ägäis kreuzen. Einsatzzentrum wird die von nur einer griechischen Familie bewohnte Insel Levitha in der Südlichen Ägäis, unweit der Insel Kos, sein. Aber auch das weit im Süden, nah an der türkischen Küste gelegene Kastellorizo wird Gegenstand der Sorge der griechischen Flotte sein.

Das Geheimnis der politischen Wende sieht Staatssekretär Stefanis in der Überraschung der Türken: »Die Hauptsache ist, dass die Mentalität unserer Leute sich gewandelt hat.« Man kontrolliere nun auch zur See strenger, aggressiver und zeige allen, dass man eine Verletzung der eigenen Seegrenzen nicht erlaube. »Wir weisen ab, so wie am Evros.« Die Migrantenboote sähen die Haltung der Küstenschützer und kehrten von alleine um. Dasselbe geschehe, wenn die türkische Küstenwache die Boote begleitet: »Die Türken sind überrascht von unserer Reaktion sowohl am Evros als auch auf den Inseln, diese Haltung waren sie nicht gewöhnt.«

Auf die Migranten habe man keine einzige Kugel abgefeuert: »Wir sind weder Rassisten noch fremdenfeindlich, wir sind Griechen und lieben unsere Heimat, und unsere Gegenwehr ist unser verfassungsmäßiges Recht, das uns niemand bestreiten kann.« Eine weitere Bemerkung von Stefanis lässt darauf schließen, dass die Regierung ihr Handeln tatsächlich verfassungsrechtlich abgesichert hat.

Die Krise am Evros könne, so schloss der Staatssekretär, der bis 2019 das griechische Heer leitete, leicht eskalieren: »Aber das wollen wir nicht.« Mit beständigen Schritten werde man zeigen, dass es nicht die griechische Seite ist, die provoziert. Aber das werde ja schon durch die Tränengas- und Rauchbomben der Türken, die auf griechischen Boden fallen, offenkundig. Die Griechen halten standfest die Stellung, ohne die Lage zu eskalieren.

Verschiedene Videos – eines hat der Spiegel erhalten – zeigen, wie türkische Einheiten Tränengas und andere Chemikalien auf die griechischen Grenzschützer abschießen. 

Unterstützung durch die europäischen Partner

Der von der EU-Kommission gefundene Mechanismus zur Unterstützung Griechenlands umfasst fünf Punkte:

  1. Die Mitgliedsstaaten sollen das notwendige Gerät bereitstellen, um zwei neue Frontex-Teams auszurüsten. Dazu gehören sieben Patrouillenboote, zwei Hubschrauber, ein Flugzeug und drei Fahrzeuge mit Wärmebildkameras.
  2. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll zudem ein neues Programm zur Abschiebung von Migranten ohne Asylanspruch leiten.
  3. Die 350 Millionen Euro, die die Griechen als EU-Beihilfe erhalten, sollen dazu dienen, die Lage in den fünf bestehenden Hotspots auf den griechischen Inseln zu mildern und die medizinische Versorgung sowie Sicherheitsüberprüfungen der Asylbewerber zu finanzieren, aber auch dazu, Migranten ohne Asylanspruch umgehend abzuschieben.
  4. Darüber hinaus sollen die Mitgliedsstaaten medizinisches Material, Zelte und derlei mehr bereitstellen, das in den Aufnahmelagern benötigt wird.
  5. Das Europäische Unterstützungsbüro soll außerdem sehr bald 160 von den Mitgliedsstaaten zu benennende Experten für die Abwicklung von Asylverfahren nach Griechenland entsenden.

Noch am Mittwoch haben die Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei sich verabredet, Griechenland zu helfen, wie der tschechische Premier Andrej Babis sagte. Der Slowake Peter Pellegrini sprach von einer »Bedrohung der Sicherheit nicht nur für Griechenland« durch die Migranten. Laut Victor Orbán will Ungarn eine aktive Rolle beim EU-Grenzschutz spielen. Der polnische Innenminister Mariusz Kamiński hat angeboten, sofort 100 Grenzwächter und 100 Polizisten nach Griechenland zu schicken, um die »gemeinsame Grenze« vor dem »Zustrom illegaler Migranten« zu schützen. Man könne nicht erlauben, dass die gefährliche Situation an der griechisch-türkischen Grenze sich zu einer neuen Migrationskrise wie derjenigen von 2015 wandele.

Eine griechische Korrespondentin der Deutschen Welle berichtete nun auch von Solidaritätsadressen Horst Seehofers. Deutschland mache »mit allen Mitteln« deutlich, dass die Grenzen geschlossen sind. Ihr etwas launiger Kontrapart im Studio erwidert: »Da sie die Grenzen geschlossen halten wollen, sollen sie doch herkommen und sie bewachen oder, noch besser, sie sagen es Erdogan, da ja auch Frau Merkel mit ihm zu reden scheint.«

Doch die Bundesregierung hatte noch am Mittwoch nichts Besseres zu tun, als eine schon länger geplante Tranche von 32 Millionen Euro an Ankara auszuzahlen. Wofür? Für den Grenzschutz und die Abwehr des Schlepperwesens, insbesondere den Küstenschutz. Vor wenigen Tagen konnte man zu diesem »Geldbedarf« lesen, dass er »unvorhergesehen« gewesen und »erst im Vorfeld der Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Türkei Ende Januar durch Experten der Bundespolizei vor Ort ermittelt werden sei« (n-tv.de, 24. Februar 2020). Ein internes Papier sprach von »schwerwiegenden Staatsinteressen«, »mit Blick auf die sich ab Frühjahr verbessernde Wetterlage und die damit voraussichtlich nochmals steigenden Migrationsbewegungen«. Richtig, das war doch der Besuch mit dem »Spieglein in der Hand«. Zahlungen aus einer anderen Zeit, die irgendwie an die 320 Millionen erinnern, die einst die Kreditanstalt für Wiederaufbau an Lehman Brothers überwies. Hinzu kamen nun freilich noch einmal 500 Millionen Euro von der EU insgesamt für den neuen Türkei-Deal.

Kritik an der Regierung Tsipras

Kritik wird mittlerweile daran geübt, wie die Vorgänger-Regierung Tsipras die bisher für die Asylproblematik bereitgestellten Gelder – mehr als zwei Milliarden Euro seit 2015 – verwendet hat. Die Innenkommissarin Ylva Johansson stellt im Rückblick fest: »Es gab nicht genug Fortschritte dabei, humane Lebensbedingungen in den Lagern zu schaffen und die Verarbeitung der Asylanträge zu beschleunigen.« Seit 2018 wird auch konkret ein Auftrag im Wert von 52 Millionen Euro überprüft, bei dem es um die Versorgung der Migranten mit Lebensmitteln ging.

Doch die Nachlässigkeit in Sachen Asyl soll sich nun gründlich ändern. Die Regierung Mitsotakis hat ein Schiff im Hafen von Mytilini vor Anker gehen lassen, auf das alle neu anlandenden Migranten vorerst gebracht werden sollen. Im nordgriechischen Serres, unweit der Metropole Thessaloniki, soll in wenigen Tagen eine geschlossene Aufnahmeeinrichtung errichtet werden, in der die an der türkischen Grenze festgenommenen, zu Haft- und Geldstrafen verurteilten Migranten bis zu ihrer Abschiebung festgehalten werden sollen. Natürlich ging das nicht ohne Protest der Bevölkerung.

Das Asyl- und Migrationsministerium hat nun angekündigt, dass anerkannte Asylbewerber in Griechenland keine staatlichen Zuwendungen in finanzieller oder materieller Form erwarten können. Auch aus den bereitgestellten Wohnungen – in Lagern, Hotels oder Privatwohnungen – müssen anerkannte Bewerber ab sofort ausziehen, zumindest soweit sie volljährig sind. Außerdem sucht das Ministerium nach Mitarbeitern, die zunächst für drei Jahre eingestellt werden sollen.

Eine Umfrage hat eine Zustimmung von 76% in der Bevölkerung für die aktuellen Maßnahmen der Regierung am Evros ergeben. Sogar die Wähler eindeutig linker Parteien (also Syriza und ähnliche) stimmen dem Vorgehen der Regierung Mitsotakis mit einer knappen Mehrheit von 45% zu. 83 und 84 Prozent der Bürger sind besorgt über die Migration bzw. über die griechisch-türkischen Beziehungen. Über die Einrichtung geschlossener Asylzentren, die zuletzt auf den Inseln der Ägäis für Unmut sorgten, sind die Griechen uneins: 46% sehen die Maßnahme eher positiv, ebenso viele eher negativ. Nun erwägt die Regierung auch die Errichtung von Zentren auf kleinen, unbewohnten Inseln.

Am 13. März wird übrigens Gerard Butler, der Leonidas aus dem Hollywood-Blockbuster »300«, im griechischen Sparta sein. Um genau zu sein, wird der Schauspieler die olympische Flamme von der byzantinischen Stadt Mystras nach Sparta tragen. Den Besuch kann man auch symbolisch sehen.

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