Tichys Einblick
Affäre Scott Morton – Vestager – vdL

Wie eine US-Ökonomin beinahe zur Wettbewerbshüterin der EU geworden wäre

Der neueste EU-Skandal rauschte fast ohne Meldung am deutschen Blätterwald vorbei. Fast wäre eine US-Bürgerin zur Chefökonomin der EU geworden, mit weitreichenden wettbewerbsrechtlichen Zuständigkeiten und Vollmachten. Am Ende verzichtete GAFAM-Beraterin Fiona Scott Morton freiwillig.

IMAGO / NurPhoto

Inzwischen muss man sich beeilen, um in diesem Skandal-Zirkus EU keine Nummer zu verpassen. Denn es kann schnell gehen: Von „Vorhang auf“ bis zur Bauchlandung auf dem Boden der Manege vergehen manchmal nur wenige Tage. So war es jedenfalls in dieser Sommerkomödie, die sich um die EU-Kommission und altbekannte Namen wie Ursula von der Leyen und Margrethe Vestager entsponnen hat. Das lag aber auch an dem Schleier der Geheimhaltung, den die Akteure (meist weiblich) über die Entscheidungsprozesse gelegt hatten.

Es ging um eine simple Stellenbesetzung, allerdings nicht irgendeiner Stelle. Zu besetzen war der Stuhl des Chefökonomen der EU-Kommission. Der Posten ist dem Wettbewerbsressort zugeordnet. Der EU-Ökonom soll das mehr oder weniger „marktfreundliche“ Verhalten von Großunternehmen untersuchen und kann Fusionen oder Zukäufe erlauben oder verbieten. Auch staatliche Subventionen der EU-Mitglieder bedürfen der Erlaubnis durch diesen Wettbewerbsregulator. Insofern sollte diese Position schon mit einer vertrauenswürdigen Person besetzt werden.

Von der Leyen und Meloni
Ziemlich beste Freundinnen?
Doch die Wahl der Kommission war eher eine merkwürdige. Sie fiel auf die US-Amerikanerin und Yale-Professorin Fiona Scott Morton, die durch ihre Forschungstätigkeit sicher einige der Voraussetzungen erfüllte, daneben aber nach wie vor als Beraterin zahlreicher Großkonzerne tätig ist. Für knapp zwei Jahre hatte sie außerdem eine ähnliche Wettbewerbshüter-Funktion im amerikanischen Justizministerium unter Präsident Barack Obama eingenommen. Und das ist eben kein Pluspunkt für ihre Bewerbung. Vielmehr wird Scott Morton durch alle Teile ihres Lebenslaufes in die Nähe der US-Wirtschaft gerückt, vor allem von Big Tech und Big Pharma. Und das hätte die EU-Politik – ebenso wie die Bürger der EU – doch am Ende zu interessieren.

Die Informationen zu der eigenwilligen Berufung sind dabei schon seit diesem März ans Licht gekommen, wenn auch unvollständig. Damals verkündete Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, dass der neue Chefökonom der EU nicht mehr aus einem EU-Mitgliedsland zu stammen brauche. Bald bekam die Presse von der Personalie Wind, aber zum großen Thema wurde das noch nicht. Erst am 11. Juli explodierte die Nachricht, zuerst in französischen Medien, deren Eifer vom französischen Kommissar Thierry Breton angefacht wurde. An diesem Tag legte die Kommissionsführung den Kommissaren (respektive ihren Vertretern) einen Beschluss für die Ernennung Scott Mortons vor. Und der kam auch durch.

Die „EU-Nationalität“ spielte plötzlich keine Rolle mehr

Welche Schmach! Die Kommissare hatten zum großen Teil einer Sache zugestimmt, der sie nicht zustimmen wollten. Das merkte – wohl auch erst mit Verspätung – Binnenmarktkommissar Breton, der daneben mit der Bändigung von Social Media nach den jüngsten Unruhen in Frankreich beschäftigt ist. Es folgte „eine Woche Psychodrama“, so der Pariser Express. Denn die gallische Besorgnis blieb nicht auf Breton beschränkt, sondern breitete sich in der Regierungszentrale aus, bis sie sogar den Élysée-Palast des Sonnenkönigs Macron erreichte. Vor allem entsetzte die Franzosen die spezifisch US-amerikanische Nationalität der Kandidatin. Aus Pariser Sicht war allein das eine Unmöglichkeit. Die Verwicklung in Beratungsaufträge sah Macron allerdings eindeutig als Manko an, das Scott Morton eigentlich „ziemlich unwirksam“ mache, weil sie in vielen Angelegenheiten befangen wäre. Wäre mit Scott Morton eine „kompetente“ Umsetzung der anstehenden Big-Tech-Regulierung möglich gewesen, wie die WiWo meint? Es ist aus den genannten Gründen zu bezweifeln.

Nie zuvor hatte es für einen Posten dieses Niveaus eine Ausnahme von der Regel gegeben, dass Bewerber aus einem Mitgliedsland der Europäischen Union kommen müssen. Auch bei den vormaligen Besetzungen des Chefökonomen-Postens war diese Bedingung immer explizit in der Ausschreibung genannt worden. Nur als es in diesem Jahr um die Neubesetzung ging, da verschwand auch die Voraussetzung „hat EU-Nationalität“ klammheimlich aus dem Dokument. Im April informierte Scott Morton ihre Kollegen an der Universität Yale über ihren Wechsel zur EU, bald vermeldeten auch Bloomberg und die Financial Times den Personalschachzug.

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Die Herkunft aus der EU sollte in der Tat schon aus strategischen Gründen als Kriterium für Top-Jobs dieser Union beibehalten werden. Mehr noch als dieses Ausschlusskriterium spricht aber der Rest von Scott Mortons Biographie gegen ihre Berufung. Denn Morton hat – auch laut der Kommission – große Unternehmen wie Apple und Microsoft beraten. Daneben gehören Amazon sowie die Pharma-Riesen Pfizer und Sanofi zu ihren Kunden, wie Le Monde berichtet. Margrethe Vestager gab sogar vor dem EU-Parlament zu, dass ihre Kandidatin für alle Big-Tech-Unternehmen tätig war, die auch als GAFAM abgekürzt werden. Mit dem Akronym sind die „Big Five“ Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft gemeint.

Für Vestager war das allerdings kein Einstellungshindernis. Morton sei ja nur als Beraterin, „nie als Lobbyistin“ aufgetreten. Derzeit geht es in der EU auch um eine neue Regulierung von Digitaldiensten, die ganz sicher auch die großen US-amerikanischen GAFAM-Unternehmen betreffen wird – also genau die Unternehmen, die auch Scott Morton in einem Gutteil ihrer Karriere beraten hat, und zwar für Honorare von bis zu zwei Millionen Dollar.

Die Kommissare als Düpierte: „Wir dachten, sie sei Irin“

Eine Woche nach dem Kommissionsbeschluss vom 11. Juli für Scott Morton schrieben fünf EU-Kommissare, nämlich neben dem Franzosen Breton der Italiener Paolo Gentiloni, der spanische Außenbeauftragte Josep Borrell sowie die Kommissare aus Luxemburg und Portugal einen Brief an von der Leyen, in dem sie ein Überdenken der Entscheidung forderten. Das war schon ein ziemlicher Schritt, in dem sich die Kommissare als Düpierte offenbarten. Wie der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn (DIE PARTEI) schreibt, spielte sich diese Abstimmung in so klammheimlicher Weise ab, dass sogar die Kommissare selbst nicht verstanden, was sie da taten. Das Thema wurde demnach zu keinem Zeitpunkt besprochen, vielmehr irgendwo in einem Anhang versteckt.

In den Unterlagen informierte die Kommissionsleitung ausführlich über die abgelehnten Mitbewerber. Von der Amerikanerin erfuhr man nur, dass sie eine Frau sei (die erste auf dem Posten usw.) und Englisch spreche. Ein hoher EU-Beamter sagte der französischen Libération die schockierenden Worte: „Wir alle dachten, sie sei Irin.“ Erst auf Twitter habe man bemerkt, dass „wir etwas Inakzeptables akzeptiert hatten“. 25 Kommissare getäuscht durch eine lückenhafte Beschlussvorlage … Auch von der Beratertätigkeit Mortons erfährt man nur im „Kleingedruckten“ der Kommisssionswebsite. Hervorgehoben wird dagegen immer wieder, dass Morton „eine Frau“ sei. Das scheint als Kriterium in dieser Kommission über vielem zu stehen.

Das EU-Parlament hat ziemlich geschlossen gegen die Berufung protestiert, anscheinend aber mit Ausnahme der Grünen, die ihren zuerst geäußerten Einspruch später zurückzogen. Aus welchem Grund das geschah, bleibt undeutlich.

Wie einige EU-Länder vor der Kommission katzbuckelten

Am selben Dienstag – eine Woche nach dem Kommissionsbeschluss – äußerte auch Emmanuel Macron seine „Zweifel“ über die Entscheidung. Zufällig war er gerade in Brüssel, konnte selbst vielleicht ein wenig in den Korridoren lauschen. Macron wollte nicht glauben, dass es in ganz EU-Europa keinen kompetenten Ökonomen gäbe, der diese Stelle ebenso gut übernehmen könnte. Denn dann „hätten wir ein sehr großes Problem in allen akademischen Systemen Europas“. Außerdem halte er an seinem Ziel einer „strategischen Autonomie“ der EU fest. Auch stellte er fest, dass ein Europäer natürlich niemals einen ähnlich einflussreichen Posten in den USA oder China übernehmen könnte. Von fehlender Gegenseitigkeit sprach Macron, als ob man sich auf so etwas vielleicht noch einigen könnte.

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EU-Kommission steht nach 66-Milliarden-Forderung unter Druck
Angeblich hatte die französische Regierung zuvor versucht, andere EU-Länder zum Widerstand gegen die Berufung Mortons zu ermuntern, doch alle hätten das nicht gewagt und sich hinter Frankreich versteckt. Das ist eine der eher Besorgnis erregenden Einzelnachrichten aus diesem Komplex. Denn es würde bedeuten, dass EU-Mitglieder, die Subventionen von einer EU-Kommission unter Ursula von der Leyen erwarten, sich nicht trauen, die Entscheidungen dieser Kommission zu kritisieren. Man muss es Macron und der französischen „classe politique“ lassen: Diesen Drachen haben sie praktisch im Alleingang besiegt. Es geht also, wenn man nur will.

Wiederum am Dienstag trat eine laut Le Monde hochgradig nervöse Digitalkommissarin Margrethe Vestager vor das EU-Parlament, um die geplante Berufung von Scott Morton zu verteidigen, und berief sich viele Male auf die angeblich gebotene „Geheimhaltung“. Daneben gab es eine Menge Widersprüche von der Dänin. Etwa auch den hier: Laut Vestager mangelt es durchaus an kompetenten EU-Bürgern für den Ökonomen-Posten. Aber wenn Scott Morton sich doch einmal wegen Interessenkonflikten zurückziehen sollte müssen, dann stünden natürlich „kompetente Europäer“ bereit, ihr Amt zu übernehmen. Also vermutlich sekundär kompetente, wie Vestager und Konsorten.

Eine Sicherheitsfreigabe hätte Scott Morton nicht gebraucht

Über die Zahl und Qualität der möglichen Interessenkonflikte Mortons war man sich zu diesem Zeitpunkt laut der Dänin noch nicht im Klaren. Diese Vertrauenskonflikte seien aber ohnehin „vertraulich“, also mit höchster Geheimhaltung zu behandeln. Eine Sicherheitsfreigabe der EU habe Morton nicht und brauche sie auch nicht, selbst wenn ihre Arbeit irgendwann mit sensiblen Fragen rund um US-Unternehmen zu tun gehabt hätte. Sonneborn vergleicht die geplante Berufung der US-Amerikanerin mit der Bestellung eines Gazprom-Beraters, eines saudischen Scheichs oder gleich von Jeff Bezos auf ein entsprechendes Amt in der EU.

Am Mittwoch – einen Tag nach dieser eloquenten Verteidigungsrede – verkündete Vestager „mit Bedauern“, dass Fiona Scott Morton den ihr zugedachten Posten nicht einnehmen wird. Es war nicht ihre Entscheidung, sondern die der hochprofessionellen Yale-Professorin: Der Mangel an „totaler Unterstützung“ durch die EU habe sie dazu bewogen, von ihrer Bewerbung zurückzutreten, schrieb Scott Morton in ihrer Erklärung auf Twitter. Ihr Profil ist inzwischen geleert oder deaktiviert: „@ProfFionasm hasn’t tweeted.“

Der EU-Abgeordnete Sonneborn sieht die Sache damit noch nicht unbedingt als beendet an, öffnet vielmehr ein größeres Kapitel, in dem es um die vielfache Spionage und Einflussnahme der USA auf Europa und die EU geht. Das kann man in seinen Beiträgen auf Twitter und anderswo nachlesen.

Eine weitere Frage wäre, inwieweit Akteurinnen wie Margrethe Vestager oder Ursula von der Leyen diesen Prozess eines Ausverkaufs der EU an andere Mächte befördern und unterstützen oder – eine sehr gemeine Vermutung – davon leben. Die linke Libération schreibt vom möglichen „Schwanengesang Ursula von der Leyens“. Das Vertrauen in diese Kommission, vor allem in die beiden beteiligten Politikerinnen (von der Leyen und Vestager), sei erschüttert. Und man könnte leicht wieder von der Kuschelei der Kommissionschefin mit Pfizer-Chef Bourla anfangen.

Sonneborn führt daneben die in diesem Mai erfolgte Zustimmung der EU-Kommission – also federführend der Vizepräsidentin und Wettbewerbskommissarin Vestager – zu einer wichtigen Firmen-Übernahme (des Videospielproduzenten Activision Blizzard) durch den Quasi-Monopolisten Microsoft auf eine gewachsene Nähe zu US-Kreisen hin. Und das könnte dann doch sehr direkt mit der Scott-Morton-Berufung zusammenhängen.

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