Endlich lässt die EU ihren rachsüchtigen rechtlichen Angriff auf Polen fallen. Die Europäische Kommission hat vorletzte Woche angekündigt, dass sie ihr Verfahren gegen Polen wegen angeblicher Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit einstellen wird.
Im Jahr 2017 leitete die Europäische Kommission ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 gegen Polen ein. Sie behauptete, dass die von Polens damaliger Regierung – mit der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) an der Spitze – eingeführten Justizreformen, die den Ministern eine größere Kontrolle über die Ernennung von Richtern geben sollten, einen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit darstellen. Polen drohte zunächst der Verlust seines Stimmrechts in der EU. Letztendlich beschränkte sich die Kommission bei ihren Angriffen auf die euroskeptische, populistische PiS-Regierung auf finanzielle Sanktionen. Mehr als 100 Milliarden Euro an EU-Mitteln, die größtenteils für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Polens nach dem Ende des Kalten Krieges bestimmt waren, wurden zurückgehalten. Die EU hoffte, dass sie die polnische Regierung durch den Entzug dieser dringend benötigten Mittel dazu zwingen könnte, ihren Forderungen nachzukommen.
Inzwischen hat die EU ihre Haltung drastisch geändert. Diesen Monat erklärte sie, sie sehe nicht mehr die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit“ und habe daher das Verfahren gegen Polen eingestellt. Auf den ersten Blick ergibt dies wenig Sinn. Die einzige wesentliche Änderung, die Polen seit 2017 vorgenommen hat, ist die Abwahl der PiS. Seit Dezember letzten Jahres führt Donald Tusk, ein ehemaliger Chef des Europäischen Rates, die polnische Regierung als Ministerpräsident. Tusk hat neun Gesetzesentwürfe vorgelegt, die die Justizreformen der PiS teilweise rückgängig machen könnten, aber bisher ist noch nichts von gesetzgeberischer Bedeutung geschehen.
„Brüssel weiß, dass es sich auf Ministerpräsident Tusk verlassen kann, wenn es um die Befolgung seiner Diktate geht.“
Die Krönung Tusks hat offenbar ausgereicht, um die EU zu einer Kehrtwende bei der Bestrafung Polens zu bewegen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beglückwünschte ihn Anfang der Woche zu seinen „Bemühungen“, das Verfahren nach Artikel 7 abzuschließen, was sie als „wichtigen Durchbruch“ bezeichnete. Angeblich wurde ein siebenjähriger Streit über Justizreformen, die zuvor als grundlegende Bedrohung für die Demokratie und die europäischen Werte galten, mit einem Handschlag und ein paar warmen Worten beigelegt. Offensichtlich weiß Brüssel, dass es sich auf Tusk verlassen kann, wenn es um die Befolgung seiner Diktate geht.
Dass die Kommission das Gesetz als Waffe gegen Polen einsetzte, war ein unverhohlener Versuch, die PiS-Regierung zu unterminieren und einen Regimewechsel zu fördern. Die EU hat Artikel 7 unter dem Vorwand ausgelöst, dass die PiS-Justizreformen der Regierung zu viel Macht über die Ernennung von Richtern geben und damit die Unabhängigkeit der polnischen Justiz beeinträchtigen würden. Aber darum ging es nie wirklich. Die PiS wollte die nationale Souveränität Polens durchsetzen und lehnte die woke Agenda der EU unumwunden ab. Das hat Polen zu einem Stachel im Fleisch der EU gemacht.
Jetzt, da die PiS nicht mehr an der Macht ist und Tusk Ministerpräsident ist, hat die Kommission wenig Interesse daran, Polen zu bestrafen. Die Tusk-Regierung ist vielmehr der neue beste Freund der Kommission. Die 137 Milliarden Euro an EU-Mitteln, die wegen des Streits um Artikel 7 eingefroren waren, wurden praktisch über Nacht freigegeben. Letzten Monat erhielt Polen die erste Tranche in Höhe von 6,3 Milliarden Euro.
„Die neokolonialen Ambitionen der EU könnten kaum deutlicher sein.”
Diese rasche Freigabe von Milliarden von Euro ist eine klare Botschaft an alle EU-Mitgliedstaaten: Wer von der politischen Agenda der Kommission abweicht, muss mit empfindlichen finanziellen Strafen rechnen. Ein stillschweigendes Einverständnis wird hingegen großzügig belohnt. Die EU ist offensichtlich mehr als bereit, ihre finanziellen Möglichkeiten zu nutzen, um unkooperative Regierungen unter Druck zu setzen.
Es ist nun unbestreitbar, dass die Klagen der EU über die „Rechtsstaatlichkeit“ völlig zynisch und heuchlerisch waren. Als Polens neue, von der EU genehmigte Regierung Anfang des Jahres ihre Pläne zur Entlassung von Richtern des Obersten Gerichtshofs ankündigte, weil sie angeblich der rechten Opposition gegenüber loyal sind, herrschte in Brüssel eisiges Schweigen. Die Unterminierung der Unabhängigkeit der Justiz geht offenbar in Ordnung, solange sie der EU nützt.
Auch gegen die Säuberung der Medien und anderer kultureller Einrichtungen durch die Tusk-Regierung hat die Kommission nichts einzuwenden. Eine der ersten Amtshandlungen von Tusk als Premier war die illegale Schließung des staatlichen Fernsehsenders TVP Media unter dem Vorwand, dessen Ausgewogenheit durchzusetzen. Als schockierende Demonstration von Autoritarismus wurde sogar die Polizei eingesetzt, um die entlassenen Mitarbeiter physisch daran zu hindern, den Hauptsitz des Senders wieder zu betreten.
Tusk hat von der Kommission eindeutig einen Freifahrtschein erhalten, um die Rechtsstaatlichkeit zu beugen und zu brechen, wie er will. Solange er den Wünschen der EU-Eliten nachkommt, wird Polen wahrscheinlich in Ruhe gelassen werden. Die neokolonialen Ambitionen der EU könnten kaum deutlicher sein.
Dieser Beitrag ist zuerst auf Spiked erschienen.
Frank Furedi ist geschäftsführender Direktor des Think-Tanks MCC-Brussels, Autor zahlreicher Bücher und politischer Kommentator der Gegenwart. Mehr von Frank Furedi lesen Sie in den aktuellen Büchern „Die sortierte Gesellschaft – Zur Kritik der Identitätspolitik“ und „Schwarzes Leben, weiße Privilegien? Zur Kritik an Black Lives Matter“.