Bis vor wenigen Tagen verfolgte Schwedens rot-grüne Minderheitsregierung unter Premier Stefan Löfven einen Kurs in der Corona-Krise, der sich vom dem aller anderen EU-Länder grundlegend unterschied. Die Administration in Stockholm verfügte keine harten Quarantänemaßnahmen. Schulen, Geschäfte, Cafés und Skilifte in den Ausflugsgebieten blieben offen, ebenso die Landesgrenzen. Selbst Besuche in Altenheimen untersagten die Behörden erst am 1. April.
Die Regierung rät zwar von „unnötigen Reisen“ nach Schweden ab, verbot Ansammlungen von mehr als 50 Personen und empfahl – vor allem Älteren – sich vorsichtig zu verhalten, setzte aber ansonsten ganz auf Normalität. Der führende Virologe des Landes, Anders Tegnell, versuchte offenbar, eine allmähliche Infizierung der Bevölkerung zu erreichen, die so genannte Herdenimmunität.
In Schweden liegt die Zahl der Covid-19-Toten pro Million aktuell bei 40, in Deutschland bei 19. Noch am 3. April hatte die Rate für Schweden bei 30,2 gelegen. Aber schon in der vergangenen Woche begriffen Regierung und Fachleute offenbar, welche Dynamik auf sie zurollt. Das sei „leider ein neues Niveau“, meinte Anders Tegnell schon am Donnerstag vergangener Woche auf der Pressekonferenz. Und Löfven stimmte die Öffentlichkeit auf „tausende Tote“ ein. Denn der Wohlfahrtsstaat verfügt im Verhältnis zur Bevölkerung nur über ein Drittel der Intensivbetten von Deutschland.
Warum nahm Schwedens Regierung als einziges westliches Land lange diesen Sonderweg? Schließlich gilt der linksgrün geführte Wohlfahrtsstaat nicht gerade als libertär, sondern in vielen Bereichen als bevormundend. Erstens steht Premier Löfven einer Minderheitsregierung vor, die selbst nur wenig beschließen kann. Und zweitens – auch, wenn seine Regierung das bisher öffentlich nicht ansprach – dürfte auch ein spezielles schwedisches Problem eine Rolle gespielt haben: die hohe Zahl von Migranten in vielen Vierteln, wo staatliche Regeln praktisch nicht mehr gelten. Ähnliche Probleme zeigen sich auch in anderen EU-Ländern: in Berlin-Neukölln versammelten sich am Freitag trotz des Kontaktverbots 300 Muslime vor einer Moschee, um zu beten.
In Paris verzichtet die Polizei bisher in den stark muslimisch geprägten Quartieren, Kontaktverbote und Ladenschließungen durchzusetzen.
Lövfen und sein Kabinett entschieden sich offenbar, in Schweden gleich flächendeckend auf harte Quarantänemaßnahmen zu verzichten, um den Konflikt in bestimmten Vierteln zu vermeiden. Jetzt läuft das schwedische Experiment auf die Frage hinaus, was sehr spät eingeführte Quarantänemaßnahmen noch bringen – im Vergleich zu anderen Ländern, die zu den Vorreitern gehörten. In Südkorea, wo relativ früh Einreiserestriktionen verhängt wurde, viele Tests stattfanden und Infizierte in Quarantäne geschickt wurden, liegt die Zahl der Covid-Toten pro Million am 6. April bei 3,6.