Die prekäre Lage des Westens resultiert nicht zuletzt aus der Entgrenzung des Eigenen und der Verleugnung von kulturellen, physischen und zunehmend auch von natürlichen Grenzen. Auch wenn mit den schmählichen Abzügen aus Afghanistan und Mali die Zeit der militärischen Interventionen in fremden Kulturen zu Ende gehen dürfte, so lebt die hochmütige Gesinnung „Wie im Westen so auf Erden“, weiter fort, unter anderem in der Entwicklungshilfe für den „Globalen Süden“, obwohl dieser sich längst gegen den Westen zusammenschließt.
Überdehnung nach außen und Polarisierung nach innen
Die neue Staatengruppe BRICS-plus dient angesichts der grundlegenden Systemunterschiede ihrer Mitglieder nur dem Ziel, sich von den USA unabhängiger zu machen. Sie möchte in einer „Welt à la carte“ leben. Auch diejenigen, welche die demokratischen Werte des Westens befürworten, möchten aus den verschiedenen Systemen auswählen und sich ihre Außen- und Handelspolitik nicht mehr vorschreiben lassen. Selbst befreundete Staaten wie Brasilien und Indien verweigerten dem Westen hinsichtlich der Russland-Sanktionen die Solidarität.
Die Europäer stehen in ihrem Werteuniversalismus den USA nicht nach. Sie verknüpfen ihren mangelnden Willen zur Weltmacht allerdings mit umso größerem humanitären Idealismus. Angesichts der behaupteten Universalität westlicher Werte wird dem Ethos anderer Kulturkreise keine Bedeutung beigemessen. Im Ergebnis stehen große Teile der islamischen Welt und die Großmächte China und Russland in einem Spannungsverhältnis zum Westen.
Imperialismus und Idealismus haben gemeinsam die Überdehnung hervorgebracht, mit der der Westen – von Afghanistan über den Irak, Libyen und Mali – eine Schneise der Erfolglosigkeit und Destabilisierung in die islamische Welt geschlagen hat. Deren Folgen fallen über Massenmigration und Vordringen von Islamisten auf Europa zurück.
Der politische Universalismus beruht auf jenem Kulturrelativismus, der dem Westen seine besonderen Qualitäten abspricht. Denn erst deren Missachtung erlaubte die Annahme, dass eine rechtsstaatliche Demokratie und soziale Marktwirtschaft voraussetzungslos auf alle Kulturen übertragbar sind. Mit dem Kulturrelativismus geht auch die Ablehnung des Denkens in Kulturkreisen und Einflusssphären einher. In den anderen Weltkulturen fachten die Interventionen des Westens aber erst recht kulturellen Fundamentalismus und politischen Nationalismus an.
Auf den Zusammenprall der Kulturen im Orient folgt der Zusammenprall der Großmächte. Das westliche Vordringen in die russische Macht- und Einflusssphäre erwuchs aus den Annäherungen der Nato und der Europäischen Union an die vorher bewusst neutral gebliebene Ukraine. Sie wurde unter Missachtung geopolitischer Kategorien nach Westen gezogen und damit zerrissen. Der niederträchtige Überfall Russlands ist nicht zu entschuldigen, aber zu erklären. Russland ist der Täter, der Westen der Verursacher.
Ihm mangelte es an Einsicht in die Grenzen zwischen den noch westlichen und den schon russisch geprägten Teilen Osteuropas. Die Nato rief die Ukraine 2008 zum zukünftigen Mitglied aus, ohne ihr den Beistandsschutz eines Mitgliedsstaates zu gewähren, worüber die Ukraine in eine Falle geriet. Die vom Westen genährten Siegesphantasien bringen sie immer noch um die Chancen auf einen Waffenstillstand.
Kulturelle Unterschiede zwischen West- und dem russischen Osteuropa ergeben sich schon aus der immerhin 1000-jährigen Trennung des orthodoxen Christentums vom säkularen Westchristentum. Die theologischen Unterschiede sind heute irrelevant, aber das unterschiedliche Verhältnis von Staat und Kirche prägt die Gesellschaften bis heute. Die exzessive Korruption in orthodoxen Gesellschaften dürfte nicht zuletzt auf die mangelnde Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft zurückzuführen sein.
Die Grenzen zwischen West- und Ostchristentum verlaufen mitten durch die Ukraine und hätten entweder die Neutralität oder die Teilung des Landes erfordert. Ironischerweise verläuft die derzeitige Frontlinie etwa entlang der kulturellen Scheidelinie. Das Verhältnis Westeuropas zu Russland ist auf unabsehbare Zeit beschädigt. Die Ukraine ist nahezu zerstört und ihr Westteil wird als Bleigewicht den westlichen Bündnissen in Zukunft statt Verstärkung enorme Kosten und Belastungen aufbürden.
Auf dem Wiener Kongress von 1815 haben die damaligen Großmächte die Schweiz zur Neutralität gezwungen, weil sie ansonsten zum dauerhaften Zankapfel für die angrenzenden Großmächte geworden wäre. Ein zweiter Wiener Kongress zur Neuordnung der Macht- und Interessenssphären steht seit 1991 aus.
Wenn nicht vor den Grenzen der russischen Hemisphäre, wo endet dann der Westen? Warum greift die Nato nicht ein, wenn das muslimische Aserbaidschan gegen das christliche Armenien oder Saudi-Arabien gegen den Jemen Krieg führt? Von der Beantwortung der Frage nach den Grenzen des Westens könnte – vor allem im Hinblick auf einen Krieg zwischen China und Taiwan – nicht nur die Zukunft des Westens, sondern auch der Weltfrieden abhängen.
Der Kampf der Kulturen kommt aus dem Nahen Osten und erreicht Europa
Die größte Gefahr liegt in der Leugnung der größten Gefahr – und in der damit verbundenen Wahrnehmung der falschen Gefahr. Die vergleichsweise marginalen Unterschiede zwischen den korrupten Oligarchien der Ukraine und Russlands werden vom Westen für wichtiger erachtet als der Kulturkampf, der vom Nahen Osten nach Europa übergreift.
Samuel Huntington ging in den neunziger Jahren noch von einem Clash der Kulturen aus, was zu dieser Zeit stimmig war. Heute droht in Europa weniger ein Clash als die freiwillige Selbstauflösung unserer Kultur mangels Selbstbehauptungswillen. Alle anderen Kulturen lehnen die Relativierung des Eigenen entrüstet ab. Das alte Europa vermochte den Islam noch zweimal vor Wien zurückzuschlagen. Während der Westen noch in der Lage war, sich in Abgrenzung zum Sowjetkommunismus zu definieren und damit zu begrenzen und zu behaupten, ist der Westen heute kaum mehr willens, sich noch als eigenständigen Kulturraum wahrzunehmen.
Der Konflikt zwischen den nationalen Souveränitätsansprüchen der Ukraine und den imperialen Ansprüchen Russlands gilt als bedeutsamer als der geokulturelle Kampf Israels mit dem Islamismus. Diesem geradezu tragischen strategischen Irrtum liegt auch ein Mangel an begrifflicher Unterscheidung zugrunde. Der russische Autoritarismus, dem es zuerst um seine eigene Stabilität zu tun ist, gilt als gefährlicher als ein diesmal religiös motivierter Totalitarismus, dessen Absolutheitsansprüche wesensgemäß mit der Feindschaft gegen Andersgläubige verbunden sind.
Im Gegensatz zu den autoritären Regimen in Moskau und Peking ist der Islamismus mit einem Wahrheits- und Herrschaftsanspruch ausgestattet, der jegliche Form von Gewalt rechtfertigt. Totalitäre Bewegungen beanspruchen gemäß ihrem geistigen Absolutheitsanspruch zwangsläufig die absolute Herrschaft. Gegenüber den bloß autoritären Regimen im Nahen Osten wäre Koexistenz möglich, aber nicht gegenüber der totalitären Dynamik der Taliban, des Islamischen Staates, der Ayatollahs und von Hamas und Hisbollah.
Der Westen half dem religiösen Totalitarismus auf die Sprünge, indem er deren autoritären Widersacher wie Saddam Hussein oder Gaddafis beseitigte. Auch in der Schwächung Assads und dem Fallenlassen des Schahs oder Mubaraks, mit der Demokratisierung Afghanistans und des Iraks zeigt sich die naive Unterschätzung des neuen Totalitarismus.
Der im Islam potentiell angelegte Islamismus richtet sich im Grunde seit 1300 Jahren gegen alle „Ungläubigen“. Innerhalb seiner eigenen Machthemisphäre verstößt die Herrschaft von Ungläubigen gegen die Vorgaben des Korans und der Hadithen, so dass das Schwinden des Christentums im gesamten islamischen Raum nicht verwundern darf. Im Westen wird die Zerstörung des Christentums im Raum seiner Herkunft kaum wahrgenommen.
Die Feindschaft gegenüber dem Judentum reicht lange vor der Gründung des Staates Israel zurück. Der Antizionismus ist nur eine der vielen Varianten des Antisemitismus. Sie findet sich auch im Missverhältnis zwischen der Klage über die Vertreibung der Palästinenser im Zuge des israelisch-arabischen Krieges 1948 (ca. 700.000 Vertriebene) und der zeitgleichen Vertreibung der Juden aus der arabischen Welt (ca. 900.0000 Vertriebene) nach Israel. Den Kurden wird bis heute in gleich vier islamischen Ländern (Türkei, Syrien, Irak und Iran) ein eigener Staat verwehrt. Im Gegensatz zum Staatsproblem der Palästinenser findet dies wenig Aufmerksamkeit. An diesem Unrecht sind keine Juden beteiligt.
Der Kampf der Kulturen hat sich durch die Ausbreitung des politischen Islams – von Ayatollahs, Taliban, Islamischer Staat, Boko Haram oder in milderer Version der Muslimbruderschaft – globalisiert und intensiviert. Israels Kampf um seine Existenz verlängert sich heute durch die offenen Grenzen Europas gegenüber potentiell islamistischen Zuwanderern zu einem Kampf um die Selbstbehauptung der freiheitlichen Demokratie gegenüber dem religiösen Totalitarismus.
Auch autoritäre arabische Staaten stehen vor der Aufgabe, ihre errungenen zivilisatorischen Fortschritte gegen die totalitäre Einheit von Religion und Politik zu verteidigen, die das gesamte Leben wieder in die Fundamente der Vergangenheit einbetten will. Mit einer neuen Koalition der vom Islamismus bedrohten Staaten könnten die Europäer Verbündete im Abwehrkampf gewinnen.
Während die arabische Welt auf dem Weg war, Israel als Zivilisationspartner zu akzeptieren, hat der vor allem vom Iran genährte Islamismus Israel den Krieg erklärt. Selbst wenn es Israel gelingen sollte, die Hamas für längere Zeit zu besiegen, wäre dies noch keine Lösung. Neben der Hamas wird Israel unmittelbar von der Hisbollah im Libanon bedroht, über dessen Kampfbereitschaft der Iran entscheidet.
Die islamische Kultur stellt nicht nur für die europäische Kulturen sowohl des Christentums als auch des Relativismus eine existentielle Herausforderung dar. Unterdessen sind längst die äußeren materiellen und institutionellen Strukturen der europäischen Zivilisation überlastet und angefochten – vom Bildungssystem über den Wohnraum bis zur inneren Sicherheit. In Deutschland werden 48 Milliarden Euro jährlich für die Integration ausgegeben, gleichzeitig fehlen 430.000 Kitaplätze.
Der Zusammenprall von Kosmopoliten und Nationalisten
Auf das Scheitern des westlichen Universalismus folgte keineswegs die gebotene Einsicht in die eigenen Grenzen, sondern eine tollkühne Flucht nach vorn in einen Globalismus und Kosmopolitismus, der nun die Menschheit, die One-World zum Ausgangs- und Endziel aller Politik erklärt.
Je mehr die One-World aber von der erhofften Gleichheit und Einheit entfernt bleibt, desto mehr wird die Dominanz des Westens dafür verantwortlich gemacht. Globalisten und Kosmopoliten verbinden sich mit der alten Linken und mit den neuen Islamisten in der Ablehnung der westlichen Kultur. Während die einen sie transformieren, wollen die anderen sie ausnutzen und erobern. Angesichts der Breite dieser Koalition kann es einem Angst und Bange um die Zukunft sowohl des Abendlandes als auch der europäischen Zivilisation werden.
In den postkolonialen Theorien schlagen Relativismus und Universalismus in Selbsthass um. Statt um die Universalität des Westens geht es jetzt um dessen Selbstauflösung in Inter- und Multikulturalität. Das kulturmarxistische Gleichheitsideal verzichtet auf jede Kritik an den Ursachen der Unterentwicklung anderer Kulturen.
Alle Schuld kommt dem Westen zu. Angesichts der Annahme einer Gleichwertigkeit aller Kulturen müssen Defizite aus der Dominanz des Stärkeren, des „Weißen Mannes“ und im Nahen Osten der Israelis erklärt werden. Während klassische Rassisten fremde Ethnien, Völker und Kulturen verachten, wenden sich Autorassisten gegen den „Weißen Mann“ und seine Kultur.
Die Entgrenzungen des westlichen Universalismus nach außen wurden konsequenterweise von offenen Grenzen nach innen ergänzt. Da es keine inkompatiblen Kulturen gibt, sind alle Ankommenden willkommen zu heißen und gelten zudem als Arbeitskräftereservoir. Während die Staaten des Nahen Ostens in die demokratische Welt integriert werden sollten, sollen Menschen aus fremden Kulturen in die westlichen Gesellschaften integriert werden. Hier trifft der ideelle Kosmopolitismus auf einen ökonomisch motivierten Globalismus, der nach störenden Zöllen und Handelsgrenzen auch störende Landesgrenzen zugunsten des weltweiten Wettbewerbs um Exporte und billige Arbeitskräfte aufzuheben trachtet.
Gleichheit bleibt auch für die Linke nach dem Untergang des materialistischen Marxismus das oberste Ideal. Der Übergang zu Identitäten hat einen Kulturmarxismus hervorgetrieben, dem es – statt um Klassen und Produktionsverhältnisse – um Geschlechterverhältnisse und ethnische Minderheiten zu tun ist.
Nach dem Niedergang der Arbeiterklasse gerät heute auch der Mittelstand unter einen Wettbewerbsdruck, der schon durch seine Ortsgebundenheit nicht mit den Global Playern mithalten kann. Die globale Klasse der „Anywheres“ hat es aber längst verstanden, ihre Interessen moralisch zu verklären und umgekehrt die Bewahrung der eigenen Partikularinteressen als „nationalistisch“, „rassistisch“, als „rechts“ zu verunglimpfen.
Die jahrzehntelange Politik der Selbstentgrenzung treibt heute – dialektisch nahezu selbstverständlich – ihre Gegenpositionen hervor. Die innergesellschaftlichen Kämpfe zwischen Globalisten und Kosmopoliten auf der einen Seite und denjenigen, die das Eigene schützen und begrenzen wollen auf der anderen Seite, durchziehen alle westlichen Gesellschaften.
Über diesen Konflikt haben sich auch die Haltungen zur Europäischen Union gespaltet. Die Kosmopoliten fordern und forcieren den Niedergang des Nationalstaates im Rahmen einer angeblich „unaufhaltsamen Globalisierung“. Ihr globales Pathos nährt sich nicht zuletzt aus den Kriegen Europas, die dem Nationalstaat zur Last gelegt werden. Ein Blick hinter die noch recht junge Geschichte des Nationalstaates in Europa und ein Blick nach Afrika lehrt jedoch, dass Zusammenschlüsse jeder Art, ob von Stämmen oder Clans, im Übrigen auch übernationale Imperien unablässig Kriege zu führen pflegen.
Den Kosmopoliten gilt die Europäische Union nur als Projekt und als Prozess hin zu weiteren globalen Angleichungen, während sie den kultureuropäischen „Abendländer“ als geschichtlich gewachsenen Kulturraum sieht, der – wie die weiter zu achtenden Nationalstaaten – nach außen weder unbegrenzt ausdehnbar noch nach innen unbegrenzt in Frage zu stellen ist.
Die angesichts des Kulturverfalls schon elitär anmutenden Forderungen nach einem Wiederaufbau der europäischen Kultur werden flankiert durch ein Aufbegehren des Mittelstandes, der Schutz und Grenzen für seine Interessen einfordert. Ein Beispiel für viele: Der Aufhebung von Steuererleichterungen für Bauern werden die Kosten für die von Deutschland spendierten Radwege in Peru entgegengehalten.
Solange dieser neue gesellschaftliche Großkonflikt jedoch immer noch entlang der alten Links-Rechts-Achse und der damit verbundenen Gut-Böse-Achse interpretiert wird, bleibt das Thema verfehlt und bleiben Dritte Wege aus. Die Polarisierung wird immer schärfer und gefährdet schon die Demokratie selbst. Die einst noch offenen Diskurse zwischen Linken und Rechten sind längst schon in geistige Bürgerkriege umgeschlagen.
Widersprüche bis zur Selbstauflösung
Globalismus und Kosmopolitismus treiben wie jedes Paradigma durch ihre Übertreibungen auch ihre eigenen Widersprüche hervor. Der ökologisch motivierte Globalsozialismus gerät in Widerspruch zum Umweltschutz, die ferne Zukunft und fernen Räume zu den Nahräumen der Umwelt, die – wie bei der Windenergie – globalen Klimaprognosen geopfert werden.
Ein regelrechter deutscher National-Globalismus will die CO2-Emissionen vorauseilend und stellvertretend für die ganze Welt senken und verschafft damit nur weniger eifrigen Mächten den Raum für mehr Emissionen. Er gerät in Widerspruch zu den Interessen der Industrie. Die ihr abverlangte moralische Durchleuchtung von Lieferketten schwächt deren Wettbewerbsfähigkeit und droht zu einer De-Globalisierung überzuleiten. Nach Russland könnte darüber sogar noch China als Handelspartner verloren gehen.
Der Moralglobalismus schwächt die sozialen Interessen der eigenen Bevölkerung in einer Weise, die mit einem klassischen linken Motiv einer Hilfe für die sozial Schwachen in der Gesellschaft nicht mehr übereinstimmt. Sahra Wagenknecht ist eine unmittelbare Antwort.
Der moralische Überlegenheitsanspruch trägt wilhelminische Züge und Anflüge von einem moralischen Imperialismus, mit dem man sich nirgends neue Freunde schafft. Die dekolonisierten Völker wollen keineswegs unter dem Regenbogen Platz nehmen. Sie huldigen auch nicht der Diversität von 72 Geschlechtern und sind oft nicht einmal bereit, für die Inklusion der Frauen zu streiten. Die „feministische Außenpolitik“ muss sich zunächst mit den LGBTQ-Bewegten arrangieren, bevor sie sich patriachalischen Kulturen zuwendet. Die Machtergreifung von Islamisten würden sie nicht lange überleben.
Der moralisierende Homo Deus erkennt nicht einmal die Notwendigkeit der Selbstbehauptung, wenn sie sich vor der eigenen Tür zeigt. So findet sich in dem einschlägigen Buch von Yuval Noah Harari kein Wort über den existentiellen Kulturkampf Israels, obwohl er ihn aus seinem Fenster an der Jerusalemer Hebrew-Universität vor Augen hat. Wer zu weit in die Zukunft schaut, scheint den Blick auf naheliegende und gegenwärtige Probleme zu verlieren.
Und wieder steht das Judentum quer zu den ideologischen Konvulsionen. Es verkörperte für Links- und Rechtsextremisten alle abgelehnten und verunsichernden Elemente der Moderne: Materialismus, Wettbewerb, Wurzellosigkeit, Mobilität. Als erfolgreiche Kapitalisten werden sie zu den Tätern gezählt und selbst die Flüchtlinge vor Pogromen Europas gelten noch als „kolonialistische Siedler“, ihre Rückkehr in das für sie „Heilige Land“ gilt als „westlicher Imperialismus“.
Den Kosmopoliten fällt es schwer, die spezifische Bedeutung der Religion zu denken, weil es ihnen nicht nur an Religion, sondern auch an Bildung über Religion fehlt. Die Quadratur des Kreises, sowohl gegen Antisemitismus als auch für die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen zu sein, will ihr nicht gelingen.
In einer Art Hyperliberalismus ist die Toleranz beinahe noch der einzige Wert der einst offenen Gesellschaft, die sich gegenüber der erklärten Intoleranz totalitärer Kräfte selbst zu zerstören droht. Je mehr ihrer Paradigmen an der Realität zerschellt, desto mehr bekämpfen sie die Boten eines neuen Realitätssinnes. Im „Kampf gegen Rechts“ wird der Bote für die üble Botschaft umso mehr bestraft, desto mehr die alte Botschaft an ihren Widersprüchen zerschellt.
In Teil 2 geht es um die Grenzen von EU und Nato, Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung als Strategie für den Westen.
Teil 3 handelt vom Kampf der Kulturen zum Kampf um Zivilisation und die gemeinsame Sicherheit von Israel, Europa und moderatem Islam.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft. Zuletzt erschien von ihm: