Man kann die Menschenströme quasi live verfolgen. Um 23.40 Uhr am späten Sonntagabend sollte die Belavia-Maschine aus Istanbul landen. Um 00.10 Uhr folgt ein Flug aus Dubai. Danach kommen Flieger aus Moskau, Hurghada und Antalya. Im Laufe des Tages war auch ein Linienflug aus Damaskus gelandet. Nur der Flug aus dem irakischen Erbil wurde abgesagt. Insgesamt vier Flüge aus Istanbul kommen an diesem Tag in Minsk an. In der Woche landen 40 Maschinen aus Nahost in Minsk, das sind mehr als doppelt so viele wie noch im Winter 2019 vor der Pandemie. Hinzu kommen fünf einst regionale Flughäfen, auf denen inzwischen internationale Flüge landen. Zum Teil sollen Charterflüge direkt auf diese Flughäfen umgeleitet werden, die zum Teil nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt sind.
Laut der Welt am Sonntag gehen deutsche Sicherheitskreise davon aus, dass täglich 800 bis 1.000 irreguläre Migranten auf weißrussischen Flughäfen landen, um bald in voller Mannstärke die polnisch-weißrussische Grenze zu erreichen. Die polnischen Grenzschützer berichten fast täglich vom aggressiven Verhalten der Migranten gegenüber den polnischen Kräften. Doch lasse man sich nicht provozieren, man bleibe ruhig, heißt es in einem offiziellen Tweet der Grenzer.
Exponentielles Wachstum an der deutsch-polnischen Grenze
In den ersten Tagen des Novembers war es laut dem Warschauer Verteidigungsministerium zu einer oder mehreren Konfrontationen mit weißrussischen Soldaten gekommen, die gar damit drohten, das Feuer zu eröffnen. In der Obhut der weißrussischen Kräfte befanden sich nach polnischen Angaben 250 Migranten. Zahlreiche Videos zeigen, wie sich die Soldaten unter die Migranten mischen und sie an der Grenze zu Polen unterstützen. Daneben sollen bewaffnete Kräfte aus Weißrussland die Grenze auch kurzzeitig überschritten haben.
Nun will Polen einen 180 Kilometer langen Grenzwall bauen. Kernstück des Bauwerks soll ein fünfeinhalb Meter hoher Grenzzaun mit Stahlpfählen sein. Außerdem wird es Bewegungssensoren und Nachtsichtkameras geben. Angeworben werden sollen außerdem 750 zusätzlich Grenzschützer. All das will man bis zum Juni 2022 schaffen. Das entsprechende Gesetz wurde bereits im Parlament beschlossen, auch wenn die EU-Kommission sich standhaft weigert, an der Finanzierung der Grenzanlagen beteiligt zu werden, was gelinde gesagt widersinnig ist. Denn der offene, grenzkontrollenfreie Binnenmarkt setzt den wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen voraus.
Was tun? Vier Antworten sind im Umlauf
Eine Lösung wird inzwischen von vielen und aus unterschiedlichen Interessenlagen gesucht. Eine klassische machtpolitische Antwort hat Gerhart Baum vor einigen Tagen bei Markus Lanz gegeben: Man müsse auf jeden Fall die Sanktionen gegen Weißrussland beibehalten, vielleicht noch weitere ergreifen. Doch dieses Mittel kann, wenn überhaupt, nur mittelfristig wirken. Der Migrationsexperte Gerald Knaus, Erfinder des Türkei-Deals und an einem Wiener Thinktank tätig, will einen anderen Kurs und schlug die Errichtung von Asylzentren in Moldau oder der Ukraine vor. Das gleicht äußerlich dem dänischen Vorschlag extraterritorialer Asylzentren, der in sich schlüssig ist. Bei Knaus könnte es letztlich trotzdem um eine Variante der Aufnahmepolitik gehen, die in Deutschland vor allem die Grünen und – etwas versteckter – SPD und FDP befürworten.
Andreas Roßkopf, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei – nicht zu verwechseln mit der Gewerkschaft der für den Grenzschutz zuständigen Bundespolizei –, sprach sich nun gegen feste Grenzkontrollen aus. Man sei noch weit entfernt »von der Situation, wie wir sie im Rahmen der Massenmigration 2015 erlebt haben«. Die im letzten Jahr durchgeführten Kontrollen wegen der Corona-Pandemie hätten starke Auswirkungen auf den Grenzverkehr gehabt, zitiert ihn der RBB. Das möchte Roßkopf offenbar nicht noch einmal erleben. Aber stimmt seine Aussage, dass wir noch nicht in der Nähe der Zuwanderung von 2015 sind? Und wollen die Deutschen erst dahin kommen, bevor sie Grenzkontrollen einführen und befürworten? Diese Frage stellen weder der Polizeigewerkschaftler noch der Berlin-Brandenburger Länderfunk.