Man lernt ja bekanntlich nie aus. Bislang dachte ich, dass entlang des Völkerrechts jeder souveräne Staat das Recht hat über seine außenpolitische Ausrichtung und Bündniszugehörigkeit frei zu entscheiden. Mindestens die westlichen Demokratien waren dieser Überzeugung. Doch wie so vieles, scheint sich auch das zu verändern.
Ein besonders gutes Beispiel ist zur Zeit das gebeutelte Weißrussland. Nach 26 Jahren Alleinherrschaft des Diktators Lukaschenko und einer mit nicht zu überbietender Dreistigkeit von ihm gefälschten Wahl hatte die Bevölkerung einfach genug. Zig Tausende überwanden ihre Angst und zogen mit der Forderung nach Rücktritts Lukaschenkos und neuen Wahlen durch die Straßen.
Aus Moskau konnte Lukaschenko nur Gutes vermelden. Putin habe ihm jede Unterstützung bei der Bekämpfung der vom Westen gesteuerten Unruhe zugesichert. Der Kreml machte unmissverständlich klar, dass er jeden Schritt des Landes in Richtung EU oder gar Nato nicht dulden werde. Da die Opposition mit drei mutigen, jungen Frauen an der Spitze klug ist, tauchten derartige Forderungen bei den Protesten gar nicht erst auf. Man konnte das Aufatmen in den Büros der EU- Regierungschefs regelrecht hören. Alles sollte jetzt friedlich im Dialog und mit der Wahrung der Interessen aller gelöst werden und somit auch im Sinne Moskaus. Ganz besonders im Berliner Kanzleramt ist man peinlich genau bemüht, hier eine rote Linie für sich selbst zu ziehen. Auf keinen Fall dürften die „Russischen Besorgnisse“ über eine weitere Ausdehnung der Nato und auch der EU auf die leichte Schulter genommen werden.
Allen, die noch ein wenig von Europas Nachkriegsgeschichte im Kopf haben, dürfte dies bekannt vorkommen. Die damals von KP-Chef Breschnew aufgestellte Doktrin über die begrenzte Souveränität sozialistischer Nachbarstaaten, durch welche es Aufstände in der gesamten Tschechoslowakei gab wurden genau so im August 1968 durch Truppen des Warschauer Paktes gewaltsam Niedergeschlagen. Nach der Breschnew-Doktrin jetzt die Putin-Doktrin? Hieße dies dann auch, dass bei einem Wunsch der Bürger Weißrusslands nach Mitgliedschaft in der EU, russische Panzer ein weiteres Mal die Menschen zur „Vernunft“ bringen würden? Und müsste der Westen, mit Ausnahme der USA, Großbritanniens, der baltischen Republiken und Polens ein solches mit stiller Zustimmung des Friedenswillens hinnehmen?
Die sanfte Zurückhaltung der Deutschen Kanzlerin legt so etwas nahe.
Die Neue Zürcher Zeitung zitierte dieser Tage aus einer Erklärung der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ in Berlin, die als Think-Tank in den Diensten der Bundesregierung steht: „In Bereichen wie der Energie Wirtschaft, wo komplexe Abhängigkeiten zwischen beiden Seiten bestehen, bringt die Politisierung der Wirtschaftsbeziehungen kaum abschätzbare Risiken mit sich.“ Sie bezog sich hierbei ausdrücklich auf das umstrittene Pipeline-Projekt Nord Stream 2 und die damit verbundene Energie-Abhängigkeit Deutschlands vom guten Willen der Russen. Besser hätte man es auch in Washington nicht kritisieren können. Man stelle sich vor, nach einem Wegfall des atomaren amerikanischen Schutzschirms für Deutschland, wofür viele sich aussprechen und was jetzt schon als ein Thema für den Bundestagswahlkampf des nächsten Jahres angesetzt ist, käme zur Energie-Abhängigkeit nun auch noch die Drohkulisse militärischer Überlegenheit hinzu. Die begrenzte Souveränität könnte dann plötzlich auch für Deutschland gelten.
Manchmal fragt man sich wirklich, ob die Zukunft Deutschlands in guten Händen ist.