Tichys Einblick
Strategischer NATO-Fehler

Was tun für die Ukraine?

Die richtige Antwort des Westens wäre 2014 die Lieferung allermodernster Abwehrwaffen bei entschlossenem Vorenthalten von offensiven Systemen gewesen. Ersteres stärkt die Verteidigungsfähigkeit, während letzteres als westliche Aggression ausgelegt worden wäre.

Wladimir Putin

imago images / ITAR-TASS

Nach Russlands Eroberung der Krim werde ich 2014 am NATO Defense College (NDC/Rom) gefragt, auf wie viele Gefallene man sich einstellen müsse. Nicht mehr als 10.000 Mann, lautete die Antwort. Sie wird mit Unglauben quittiert, da beispielsweise allein im syrischen Bürgerkrieg in den sechs Jahren zwischen 2011 und 2016 rund 400.000 Tote zu beklagen sind.

Da die kombinierte Bevölkerung von Russland und der Ukraine im Jahr 2014 mit 190 Millionen zehnmal höher liegt als in Syrien und überdies modernere Waffen zur Verfügung stehen, wäre – so meine Studenten (Oberste und Generale) – in einem vergleichbaren Zeitraum doch wohl eher mit einer Million, wenn nicht gar mit vier Millionen als mit lediglich 10.000 Toten zu rechnen.

Tatsächlich werden bis zum Frühjahr 2021 rund 3.250 zivile und 9.750 militärische Opfer in den Kämpfen zwischen Russen (einschließlich solchen mit Kiewer Pässen) und Ukrainern gezählt.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Putin rühmt sich 2014, dass bei Eroberung der Krim kein Schuss gefallen ist. Seine Bürger verstehen die Botschaft genau. Man hatte also keinen einzigen Mann verloren. Die Begeisterung für den Staatschef erreicht Rekordhöhe. Doch er hat nur die Halbinsel selbst. Ihre Versorgung mit ausreichend Wasser bleibt weiterhin von der Ukraine abhängig. Putins Krimsieg bleibt unvollendet und die Lage deshalb gefährlich.

Beide Seiten des Konflikts gehören zu den „sterbenden“ Nationen mit 1,5 oder weniger Kindern pro Frauenleben. Sie wollen schon nehmen oder behalten. Doch Verluste können sie kaum ertragen, weil mit jedem Gefallenen – einziger Sohn oder gar einziges Kind – eine Familienlinie ausgelöscht wird. Russland hat damals einen Kriegsindex von 0.67, die Ukraine von 0.76. Auf 1.000 Männer im Alter von 55 bis 59 Jahren folgen nur noch 670 bzw. 760 Jünglinge im Alter von 15 bis 19 Jahren. In Syrien hingegen sind es über 4.000.

Man fragt damals, wie man helfen könne, ohne Kriegstreiber zu werden. Um sicher zu gehen, werden der Ukraine keine modernen Waffen geliefert. Eben das erweist sich als kontraproduktiv. Man versteht zwar, dass Putin 500 oder auch 1.000 Panzer in Marsch setzen kann. Man versteht aber nicht, dass er allen Rückhalt verliert, wenn 100 seiner Panzer abgeschossen werden und dabei auf einen Schlag 400 Elitesoldaten ihr Leben verlieren.

Joe Biden ist herausgefordert
Putins Truppenaufmarsch: Was passiert in der Ukraine?
Die richtige Antwort des Westens wäre die Lieferung allermodernster Abwehrwaffen bei entschlossenem Vorenthalten von offensiven Systemen gewesen. Ersteres stärkt die Verteidigungsfähigkeit, während letzteres als westliche Aggression ausgelegt worden wäre. Erst drei Jahre später wird dieser Ratschlag befolgt. Im Herbst 2017 erlaubt Präsident Trump die Lieferung panzerbrechender Javelins an die Ukraine.

Die Grundsituation hat sich bis heute nicht geändert. Schon bei 100 Gefallenen durch einen Überfall auf die Ukraine hat Putin Mütter und Witwen vor dem Kreml. Selbst unter dem Sowjetkommunismus hatten die Frauen keine Angst, für die 1979 bis 1989 in Afghanistan Gefallenen – rund 13.000 Mann – mitten in Moskau zu protestieren. Putin weiß und fürchtet das.

Die NATO muss also unmissverständlich deutlich machen, dass die Ukraine alles Nötige bekommt, um Panzer- und Luftangriffe abzuwehren, ohne dafür selbst nach Russland eindringen zu müssen. Wir machen nichts gegen Russland, schicken keine Soldaten und – wie soeben weise angekündigt – auch keine Kriegsschiffe ins Schwarze Meer. Doch die Ukrainer können sich darauf verlassen, dass der Nachschub mit effektivsten Abwehrwaffen eisern aufrechterhalten wird. Ein solches Verfahren schafft den Konflikt nicht aus der Welt, kann aber seine blutige Lösung womöglich solange herausschieben, bis das politische Personal zu gewaltfreien Vereinbarungen findet.


Gunnar Heinsohn (*1943) hat von 2011 bis 2020 Militärdemographie am NATO Defense College in Rom gelehrt.

Anzeige
Die mobile Version verlassen