In einem Fernseh-Interview gab der mutmaßliche Täter Michael Forest Reinoehl, 48, seine Tat im Grunde schon zu, auch wenn er sie als Notwehr darstellte: »Ich hatte keine andere Chance, ich meine, ich, ich hatte eine Chance, ich hätte mich zurücklehnen können, während sie einen farbigen Freund umbringen. Aber das hätte ich nicht zugelassen.« Angeblich drohte ihm und seinen Begleitern ein Messerangriff durch Danielson, den 39-jährigen Anhänger der konservativen Gruppe »Patriot Prayer«. Das klingt etwas weit hergeholt. Warum sollte ein Trump-Anhänger an einem lauen Abend durch Portland ziehen und Menschen abstechen? Natürlich konnte Reinoehl nicht von einer Schusswaffe sprechen, die hätte man ja gefunden oder auf den Videos gehört.
Zuletzt hielt sich Reinoehl etwa 200 Kilometer nördlich von Portland versteckt. Als er am Donnerstagabend seine Wohnung bei Olympia im Bundesstaat Washington, im Vorort Lacey, verließ, wartete bereits die örtliche Polizei auf ihn. Ein Schusswechsel wie Silvesterknallen (so eine Zeugenaussage) führte zur tödlichen Verletzung Reinoehls, ein Wiederbelebungsversuch scheiterte. Reinoehl hatte angeblich seine Waffe gezogen und das Leben von Polizeibeamten bedroht, so der Bericht des United States Marshals Service. In diesen Stunden twitterte Donald Trump an die Polizei: »Tut eure Arbeit, und tut sie schnell. Jeder weiß, wer dieser Schlägertyp ist. Kein Wunder, dass Portland zur Hölle geht!«
Der Tod ihres Bruders – keine schlechte Nachricht für April Reinoehl
Eine halbe Stunde nach Reinoehls Tod wird sein Interview auf Vice TV gesendet. Die Berichterstattung über den mutmaßlichen Mörder von Aaron Danielson verfällt natürlich notwendigerweise in die üblichen Frontlinien. Am Donnerstag brachte die New York Times einen Bericht mit der sorgfältig ziselisierten Überschrift »Verdächtiger aus tödlicher Schießerei in Portland während Festnahme von Beamten getötet«.
Reinoehls Schwester April – die offenbar nicht zu sehr von dem zweifachen Vater eingenommen war – bestätigte gewissermaßen dieses geheime Narrativ in unseren Köpfen, als sie so in etwa sagte, dass es um ihren Bruder nicht schade sei. »Ich würde nicht sagen, dass man das als schlechte Nachricht betrachten kann. Es ist einfach eine zusätzliche Nachricht.« Tatsächlich hatte April Reinoehl mit dem Tod ihres Bruders gerechnet, auch wenn sie eher daran glaubte, dass er das Opfer »der wütenden Bevölkerung und von Leuten, die auf Blut aus sind«, würde. Nun befürchtet sie, dass Michael Reinoehls Tod ihn zu einem Antifa-Märtyrer machen könnte. Das mag insgesamt ein realistischer Denkansatz sein, von warmem Verwandtschaftsgefühl zeugt es nicht. Tatsächlich hatte der Rest der Familie schon vor drei Jahren den Kontakt mit Michael Reinoehl wegen Konflikten abgebrochen.
Natürlich hätte Reinoehl ordnungsgemäß festgenommen und angeklagt werden müssen. Er hätte dann in den kommenden Wochen und Monaten auf seinen Prozess gewartet und viel Zeit zum Nachdenken gehabt. So tritt der Tod an die Stelle der Gerechtigkeit. Joey Gibson, Gründer von Patriot Prayer, glaubt an mehr Beteiligte an der Tat: Man dürfe nicht ruhen, bis »sie alle der Gerechtigkeit zugeführt sind«.
»Patriot Prayer« weckt den linken Widerstand
Interessant bleibt, wie über den Autokorso der Gruppe »Patriot Prayer« berichtet wird. Die HuffPost hebt die Größe des Konvois hervor (»fast 1.000 Wagen«) und bleibt relativ ausgeglichen in ihrem Urteil: Der Einsatz von Paintball-Gewehren erscheint hier als verständliche Reaktion auf die Gegenproteste verschiedener linker Gruppierungen, die den Korso mit Gegenständen bewarfen.
Andere – darunter Wikipedia – sind sicher, dass Patriot Prayer »Kontroversen und Gewalt« auslöst. Doch scheint es hier Differenzierungsbedarf zu geben. Denn sicher sind die Patriot-Prayer-Aufmärsche in links dominierten Großstädten kontrovers. Doch der Gruppengründer Joey Gibson hat immer wieder zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Auch das Southern Poverty Law Center, ein linksgerichteter Think Tank mit Schwerpunkt auf dem Antirassismus, spricht davon, dass der jüngste Autokorso »Gewalt provoziert« habe, nicht davon, dass er sie zuvörderst ausübte. Schon in einem Bericht von 2017 scheint es so, dass vor allem der Protest gegen eine »free speech rally« von Patriot Prayer gewaltsam gewesen sei. Damals gab es 14 Festnahmen.
In der New York Times: Vom Todesschützen zum Vorbild
Für Reinoehl fühlte sich die Situation in Portland am vergangenen Wochenende so an, als ob ein Krieg ausbräche. Aber in diese Beobachtung war wohl einiges an Wunschdenken hineingemischt. Schon Anfang Juni – relativ bald nach dem Tod George Floyds in Minneapolis – hatte Reinoehl gepostet: »Die Dinge stehen schlimm im Moment und können nur noch schlimmer werden. Aber genau so kommt es zu radikalem Wandel.«
Auf seinem Hals hatte Reinoehl eine kämpferisch erhobene Faust tätowiert. Sie sah aus wie jene Fäuste, die Amerikaner derzeit überall im Land mehr oder weniger freiwillig in die Höhe recken. In der Tat war der Bürgerkrieg offenbar in Reinoehls Kopf. Warum ergab er sich bei seiner Festnahme nicht den Beamten? Stattdessen lieferte er sich eine Schießerei mit ihnen, die am Ende sein eigenes Leben kostete. Reinoehl könnte noch leben, doch er wählte den Tod und ein merkwürdiges Martyrium.
Und so ganz umsonst scheint das alles nicht gewesen zu sein. In Portland sammelten sich nach Reinoehls Tod hunderte Protestler vor einer Polizeistation. Wie immer intonierten sie Slogans zur Rassengerechtigkeit. Vor einem weiteren Polizeigebäude hingen Zettel mit Parolen wie »An euren Händen ist Blut« oder »Michael wurde ermordet«.
Portland, so schreibt The Columbian am 4. September 2020, war einmal eine der lebenswertesten Städte in den USA, nur um jetzt mit einer ungewissen Zukunft zu ringen: »100 Nächte Proteste gegen Rassenungerechtigkeit, entstellt von Vandalismus, Chaos – und nun von der Tötung eines Unterstützers von Donald Trump«.