Tichys Einblick
Syrien

Warum Russland sich jetzt von Assad distanziert

Plötzlich kritisiert der russische Außenminister Sergej Lawrow das Regime von Ex-Präsident Baschar al-Assad. Offenbar will Moskau seinen privilegierten Draht nach Damaskus behalten – und damit auch seine Militärbasen. Der russische Bär bleibt auf der Weltbühne.

Syriens damaliger Präsident Baschar al-Assad trifft Wladimir Putin im September 2021.

IMAGO / ITAR-TASS

Dass die geopolitischen Karten derzeit neu gemischt werden, ist auch Laien nicht entgangen. Experten haben in den vergangenen Wochen mehrfach gemutmaßt, dass es bei Syrien und der Ukraine einen Deal geben könnte. Dass Donald Trump sich Frieden wünscht – in welcher Form auch immer – ist bekannt. Dass die Russen Syrien aufgeben, um die Ostukraine zu gewinnen, darüber spekulierten Beobachter auch deswegen, weil der Umsturz in so kurzer Zeit erfolgte, es anders als beim US-Abzug aus Afghanistan aber keine vergleichbaren russischen Bilder gab.

Freilich: Der Verlust des Verbündeten Baschar Al-Assads bedeutet einen Machtverlust für Russland, allerdings erst in zweiter Linie. Eigentlicher Verlierer ist der Iran. Dass Russland offenbar auch mit dem neuen Regime seinen Luftwaffenstützpunkt bei Latakia und seinen Flottenstützpunkt in Tartus behalten kann, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

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Denn Russlands Ansehen hat gelitten, seine Macht sich im Nahen Osten abgeschwächt; aber es hat nicht seine Position als Großmacht verloren, solange es operativ vor Ort eingreifen kann. Insbesondere, weil die beiden syrischen Stützpunkte als Brückenkopf auf den afrikanischen Kontinent gelten. Stichwort: Wagner-Gruppe.

So sollte die Ansage von Russlands Außenminister Sergej Lawrow nicht verwundern, wenn er erklärt: „Wir können bereits jetzt sagen, dass einer der Gründe für die Verschlechterung der Lage die Unfähigkeit der damaligen Regierung war, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung im sich hinziehenden Bürgerkrieg zu befriedigen.“

Eine solche harsche Kritik an Assad war man bisher aus Moskaus Mund nicht gewöhnt. Andererseits geht das neue Regime in Damaskus auf Kuschelkurs mit dem Bären. Ahmed al-Scharaa, bisher unter seinem Kampfnamen Abu Muhammad al-Dscholani bekannt und Anführer der Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), hat erst letzte Woche die historischen Beziehungen zu Russland betont. In einem BBC-Interview räumte er demnach die Möglichkeit ein, dass Russland seine Basen behalten könnte.

Die insbesondere in den EU-Mitgliedsstaaten gehegte Hoffnung, Russland müsste seine Truppen nach Libyen evakuieren, oder würde wenigstens als Einflussmacht in Syrien ausscheiden, dürften damit deutlich getrübt worden sein. Dass Russland sich im Gegenzug von Assad distanziert, erscheint als logischer Schachzug. Die russische Presse ist – ähnlich wie die westliche Presse – dazu übergegangen, von einer „bewaffneten Opposition“ zu sprechen denn von „terroristischen Gruppen“, wenn nun die HTS erwähnt wird.

Mit den Islamisten im einstigen Kernland der Aramäer haben sich demnach wohl Washington, Brüssel, Moskau und damit insgeheim auch Peking arrangiert. Das bedeutet kein Ende des Konfliktes, denn die kurdische Frage ist auch drei Wochen nach dem Umsturz nicht gelöst. Dass das Schicksal der Kurden und Christen in der Region die „global players“ jedoch nie interessiert hat, ist eine genauso wenig neue Erkenntnis wie das pragmatische Handeln der Protagonisten, wenn sich dadurch größere Verluste vermeiden lassen. Im Fall der Ukraine wird das nicht anders aussehen.

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