Wenn es Fake News über Italien sind, dann lesen Sie Udo Gümpel. Bei N-TV schreibt der Italienkorrespondent: »Seit dem Beginn der Krise trommelt die nationalistische Lega unter Führung von Matteo Salvini gegen Deutschland, und für Eurobonds. Salvinis wirtschaftspolitischer Berater, Claudio Borghi, greift dafür tief in die Tasche der anti-deutschen Vorurteile (um es freundlich auszudrücken): Er veröffentlichte ein Plakat aus den Zeiten der deutschen Besatzung Italiens, erstellt von Mussolinis „Repubblica Sociale Italiana“, in den sozialen Medien.«
In der Tat: das Plakat ist mit Sicherheit nicht dazu gedacht, um die deutsch-italienische Freundschaft zu vertiefen. Doch was Gümpel dem deutschen Leser unterjubelt, ist eine Mogelpackung. Das Narrativ lautet, dass die Lega aus „nationalistischen“ Interessen heraus die Eurobonds durchpeitschen will. Die Sache hat allerdings einen Haken. Zwar ist Borghi kritisch gegenüber der deutschen „Hegemonie“ in Europa, das betrifft aber nicht die Bonds. Im Gegenteil setzt der Wirtschaftsexperte der Lega Eurobonds mit „Eurotaxes“ auf Twitter gleich.
Im Klartext: Die Lega steht auf dem Standpunkt, dass die Eurobonds nicht ohne neue Steuern zu finanzieren sind, möglicherweise auch mit EU-Steuern, um ein EU-Budget zu finanzieren. Daher die Borghi-Gleichsetzung: Eurobonds gleich Eurotaxes. Die Lega hat deshalb – zusammen mit Silvio Berlusconis Forza Italia – gegen Eurobonds im EU-Parlament gestimmt. Dagegen stimmte der linke Partito Democratico (PD) als Regierungspartei für die Eurobonds, während der Koalitionspartner von den Fünf Sternen (M5S) sich in der Debatte darüber selbst zerfleischte. Kritik musste sich die Lega vom Bündnispartner im rechten Lager gefallen lassen: Die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni stimmten ebenfalls für die Bonds.
Anders als in Deutschland dargestellt, ist der Streit um ESM und Corona- bzw. Eurobonds in Italien weitaus komplexer und differenzierter als suggeriert. Der parteilose Premier Giuseppe Conte drängt auf Eurobonds. Der ESM ist nur zweite Wahl. Der PD würde am liebsten auf die ESM-Gelder setzen, fürchtet aber einen Koalitionsbruch, die Sterne haben angekündigt, die Regierung zu verlassen, sollten sie gezwungen werden, im italienischen Parlament für den ESM stimmen zu müssen; die Sozialdemokraten unterstützten daher Bonds. Italia Viva zieht den ESM den Eurobonds vor, könnte sich letztere aber im Notfall vorstellen; bei der Abstimmung enthielt sich die Partei von Ex-Premier Matteo Renzi. Berlusconis Forza Italia ist gegen Eurobonds, setzt sich aber für ESM-Gelder ein. Die Fratelli d’Italia wollen dagegen keine ESM-Unterstützung, sondern die Bonds. Und die Lega spricht sich sowohl gegen ESM als auch gegen Bonds aus. Diese komplizierte Situation spiegelte sich ebenfalls im EU-Parlament, wo die Stimmen von M5S, Forza Italia, Fratelli d’Italia und Lega die anderen italienischen Parteien bei der ESM-Frage deutlich überstimmten. Auch deswegen ist Conte mit den Bonds festgefahren, für ESM-Gelder findet er keine Mehrheit.
Schon machen „Verräter!“-Rufe gegen die Lega die Runde, weil das Wahlverhalten der Lega mit dem der Niederlande übereinstimmt. Die Sovranisten hätten sich damit demaskiert. In Wirklichkeit hat die Lega ihren Kurs nie geändert. Matteo Salvini und seine Partei wissen genau, dass neue Steuern, ein erweitertes Budget oder gar EU-Steuern die Europäische Union eher mächtiger als schwächer machen und damit den Lega-Kurs konterkarieren. Ähnliches gilt für eine Vergemeinschaft von Schulden, hinter die kein Weg zurückführt – und damit den EU-Bundesstaat nach Vorstellungen der EU-Eliten vorantreibt. Bittere Vorwürfe vom M5S folgten: Salvini habe am 9. April propagiert, einzig Bonds seien der Ausweg. Eine Antwort der Lega kam prompt. Salvini habe nicht seine Sichtweise wiedergegeben, sondern die der italienischen Regierung. Und: „Im Gegensatz zu PD und M5S ändern wir nicht jede Woche unsere Meinung zum Thema. Wir haben das Instrument Coronabonds nie unterstützt, weil wir es als totale Abgabe der Souveränität an die EU ansehen“, sagte Marco Zanni. „Eurobonds stehen für EU-Steuern, Aufgabe der fiskalischen Souveränität, und Übergabe der Hausschlüssel an Deutschland und die Troika.“
Richtig gelesen: Der Groll auf Deutschland resultiert nicht daraus, dass Deutschland die Bonds abwehrt, sondern weil man sich in einem durch Schuldengemeinschaft und EU-Steuern geeinigten Europa von Berlin bevormundet fürchtet. Das mag gewöhnungsbedürftig klingen, weil man nördlich der Alpen eine Erpressung durch die Schuldnerländer fürchtet. In Italien ist dagegen zumindest bei den rechten Parteien die Sorge darüber größer, dass Berlin über Brüssel in Rom reinregieren könnte; die Erinnerung an griechische Verhältnisse sind wach. Es ist das große Paradoxon, das in der deutschen Presse keiner auszusprechen wagt: Ausgerechnet die italienischen „Nationalisten“ vertreten derzeit deutsche Interessen.