Die vereinigte ungarische Opposition ist ein Wahlzusammenschluss von sechs Parteien, und wenn man sie genauer betrachtet, versteht man gleich, warum sie so lange für ein Programm gebraucht haben. Bei den vorigen Wahlen 2018 war die stärkste unter ihnen die nationalkonservative, manche würden sagen nationalsozialistische Jobbik (Die Rechten) mit 19,6 Prozent; danach kam ein Zusammenschluss zwischen den postkommunistischen Sozialdemokraten und einer grünen Partei, Párbeszéd (Dialog), mit 11,9 Prozent, gefolgt von der LMP, einer noch grüneren Partei mit 7 Prozent; Schlusslicht war die Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány mit 5,3 Prozent. Der sechste Teilnehmer, die schwer definierbare aktionistische Partei Momentum, schaffte es mit drei Prozent nicht ins Parlament. Die konservative Fidesz-Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán gewann damals zusammen mit ihrem designierten Koalitionspartner, der Christlich-demokratischen Volkspartei KNDP, mit 49,2 Prozent der Stimmen die Wahl.
Alle anderen, die Sozialdemokraten, Grünen, die DK, Momentum und Párbeszéd sind einheitlich links und grün, ihr Führungspersonal besteht je nach Ausrichtung aus Exkommunisten oder EU-verehrenden, internationalistischen Klima-, Gender- und Fortschrittsaktivisten. Die einzelnen Parteien mögen zwar verschiedene Schwerpunkte setzen, sie bewegen sich jedoch alle innerhalb dieses Spektrums. Deshalb müsste man eigentlich annehmen, dass sie eine Partei wie Jobbik noch mehr verabscheuen würden als Orbán und Fidesz. Aber Not macht erfinderisch, und so stellten die Vereinigungswilligen alsbald fest, dass auch etwas Verbindendes zu Leuten besteht, die man sonst als Nationalsozialisten bezeichnen würde, nämlich der Sozialismus.
Das Programm ist in neun Kapiteln gegliedert, die solche Titel haben wie „Freies Ungarn“, „Gesundes Ungarn“, „Kluges Ungarn“, „Einheitliches Ungarn“ und natürlich „Grünes Ungarn“. Wenn man sich in die Kapitel vertieft, bekommt man genau das, was zu erwarten war: Allgemeinplätze, Bekenntnisse, vermischt mit ins Detail gehende Einzelregelungen (wie zum Beispiel die Besitzverhältnisse der Tabak-Geschäfte zu regeln seien). Dem Text ist anzumerken, dass die Autoren bemüht waren, alle Differenzen zwischen den Parteien zu umschiffen, und deshalb überwiegen wolkige, nebulöse Formulierungen.
Worauf sich allerdings alle einigen konnten, ist die Vergötterung des Staates. Der soll – endlich in den richtigen Händen – alles und jedes regeln, verwalten, nehmen und geben, die Guten belohnen und die Bösen bestrafen. Man sollte sich jedoch nicht von der Monotonie einschläfern lassen. Denn zwischen den Bekenntnissen zum Guten in dieser Welt schlummern die harten Zielsetzungen, die man möglichst verbergen wollte: Anschluss an den Euro, Forderung des europäischen Mindestlohns und der EU-Staatsanwaltschaft, höhere Besteuerung von Großunternehmen.
Noch kennzeichnender ist, was im Programm fehlt. Über die Familie lesen wir nur, was ihnen der gütige Staat alles zukommen lassen wird, das Thema LGBT, der woke Angriff auf die Familie erscheint überhaupt nicht, obwohl bis auf Jobbik alle anderen dessen brennende Unterstützer sind. Die Migration bekam ein winziges Unterkapitelchen mit allgemeinen Floskeln über die Menschlichkeit und der Ablehnung der „illegalen“ Migration, aber kein Wort über den Zaun oder den Grenzschutz.
Insgesamt scheint Jobbik den Kürzeren gezogen zu haben, denn nichts in diesem Programm hat mit Konservativismus und nationalen Interessen zu tun. Ebenso fehlt die Forderung nach der Gründung der Vereinigten Staaten von Europa, die Lieblingsidee der Spitzenkandidatin der Demokratischen Koalition und Ehefrau von Ferenc Gyurcsány, Klára Dobrev. Vermutlich hielt man das Ansinnen für nicht vermittelbar und blieb bei Unterwerfungsgesten an die Adresse der EU.
Die Begründung dafür ist die Fiktion, in Ungarn herrsche eine totalitäre Diktatur, in der es weder Rechtsstaatlichkeit noch Gewaltenteilung, noch bürgerliche Freiheiten gebe, die einen anderen Weg offen ließen. Wie die freien Wahlen, in denen die Opposition zu gewinnen gedenkt, dazu passen, wird nicht erörtert. Die in Ungarn vorherrschende totalitäre Diktatur soll den Umsturz, die angekündigte Missachtung der bestehenden Verfassung sowie der gesetzlich festgelegten verfassungsgebenden Prozedur legitimieren.
Da selbst die kühnsten Träumer in der Oppositionskoalition sich nicht vorstellen können, die bisher für die Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erringen, soll die Verfassung nicht vom Parlament, sondern von einer Volksabstimmung verabschiedet werden. Die dem Volkswillen folgende Verfassung soll nicht wie bisher die Grundlagen der ungarischen Staatlichkeit enthalten, sondern Ungarn in die „europäische und internationale Gemeinschaft eingliedern“, in ihrem Geist soll sie den „Werten der europäischen Kultur und der universellen Menschenrechte“ folgen. Sie ist eine Kapitulations- und Unterwerfungserklärung vor der universalistischen Ideologie sowie ihren Vertretern in der EU und der westlichen Welt. Zugleich sollen alle Bestimmungen aus der Verfassung gelöscht werden, die das „gegenwärtige Regime ideologisch und strukturell untermauern“.
Auch wenn die Vereinigten Staaten von Europa keinen Eingang ins Programm gefunden haben, soll in der neuen Verfassung die „Verpflichtung Ungarns“ festgeschrieben werden, „das immer engere Zusammenwachsen der Völker Europas anzustreben, sowie die gemeinsamen Werte der EU zu verwirklichen. Diese Werte sind der Pluralismus, das Diskriminierungsverbot, die Toleranz, die Gerechtigkeit, die Solidarität, sowie eine Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern herrscht.“ Dann folgen in alle Einzelheiten gehend die staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche, deren gesetzliche Grundlagen neu gestaltet werden sollen.
Die Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in der EU und in der NATO sollen ebenfalls Teil der Verfassung werden, ganz wie einst die ewige Treue zur Sowjetunion. Nicht fehlen dürfen dabei die neuen Verfassungsgarantien für das menschliche Glück, genannt auch Sozialismus: das Recht auf Arbeit, Recht auf soziale Versorgung und soziale Sicherheit, Recht auf Familienunterstützung, Recht auf Wohnmöglichkeit, Recht auf eine gesunde Umwelt, auf Gesundheitsversorgung und sonst noch einiges.
Wer hier Wahlen fälschen oder beeinflussen will, dazu hat sich Gábor Bruck, langjähriger Berater der Opposition (unter anderem beriet er den designierten Fraktionsführer, den ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány), unlängst in einem Interview im linksradikalen Sender Klub Rádió verplappert. Er sagte, es gebe durchaus eine Wahrscheinlichkeit, dass die Opposition die Wahlen gewinnen werde, da die Orbán-Regierung „unter schwerem Beschuss aus Brüssel“ stehe, und es sei durchaus möglich, dass das FBI oder der CIA gegen die Regierung in die Wahlen eingreifen werde. Das sei schließlich nicht mehr Trumps Amerika, fuhr er fort. „In Nachbarländern haben sie das ordentlich gemacht. Meiner Meinung nach – genau weiß ich es nicht – schauen sie jetzt zu, und wenn die Opposition stark genug sein sollte, werden sie einschreiten. Sie werden Informationen veröffentlichen, die die Macht unglücklich machen werden.“
Zunächst sieht es – wenn es mit rechten Dingen zugeht – noch nicht nach einem Sieg der Opposition aus, die Umfragen sehen Orbán mit einem noch bequemen Vorsprung vorne. Der ideologischen Klarheit von Fidesz steht der reine Destruktionswille von überwiegend zweifelhaften Persönlichkeiten gegenüber. Anführer der Oppositionsgruppe ist formal der designierte Ministerpräsident Péter Márki-Zay, der parteilose Bürgermeister der südostungarischen Stadt Hódmezővásárhely (50.000 Einwohner), der noch am ehesten Jobbik nahe steht.
Der Mann wurde bei einer Urwahl im Oktober von Mitgliedern der Oppositionsparteien für die Aufgabe ausgewählt. Mit seinem – milde gesagt – unsteten Lebenslauf ist er das, was die Angelsachsen einen loose cannon nennen. Mal erklärt er, dass er wüsste, wie viele Juden und Schwule es in der Fidesz-Partei gibt, mal kündigt er an, dass die Mitglieder der jetzigen Regierung nach seiner Machtübernahme verhaftet werden würden, und so könne man doch die für die Verfassungsgebung notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament erreichen.
Orbán kann durchaus zum vierten Mal die Wahlen gewinnen, wenn er jetzt keine großen Fehler mehr macht. Sein nationalkonservatives Programm ist immer noch mehrheitsfähig, seine Familien- und Migrationspolitik sind populär. Der anhaltende wirtschaftliche Erfolg des Landes und auch der meisten Bürger spricht für ihn. Aber sein Beitrag zum ungarischen crony capitalism, die Tatsache, dass er die maßlose Bereicherung seiner Parteifreunde und Unterstützer nicht nur duldet, sondern auch fördert, erbost viele Ungarn. Gerade auf diese baut die Opposition, indem sie bewusst den Neid schürt.
Dass Orbán jetzt Wahlgeschenke an Rentner, Familien, Junge und Alte verteilen lässt und die dadurch selbstverstärkte Inflation durch Preiskontrollen aufzuhalten versucht, wird ihm, sollte er die Wahl gewinnen, selbst noch große Probleme bereiten. Und auch psychologisch ist das Geldverteilen kontraproduktiv: Den Bürgern ist durchaus bewusst, dass sie gekauft werden sollen, und der Eindruck wird erweckt, dass Fidesz und Orbán verwundbar seien, und nicht selbstbewusst in die Wahl gehen würden.