Tichys Einblick
Französische Wahlen im Rückblick

Der tiefe Staat gegen „la France profonde“: Das Duell geht weiter

Eigentlich war es ein „Triell“, das sich Macron, Le Pen und Mélenchon bei den französischen Wahlen lieferten. Interessanterweise ist es am Ende die Linksunion, die sich selbst aus dem Spiel nahm, indem sie Macrons Spiel mitspielte. Die französische Brandmauer wird noch Folgen haben.

Blick auf das mit Graffiti und Aufklebern vandalisierte Denkmal der Republik am 8. Juli in Paris.

picture alliance / NurPhoto | Artur Widak

Tiefer Staat gegen tiefes Frankreich – das ist dann doch das Duell, das derzeit in der französischen Politik stattfindet. Das Rassemblement national (RN) hat de facto drei nationale Urnengänge in Folge für sich entschieden, wenn auch mit unterschiedlichen Folgen. Bei den EU-Wahlen gab es kaum eine Kommune abseits von Paris, in der das Rassemblement national nicht die Mehrheit der Stimmen gewann. Insgesamt erhielt das RN hier 31,4 Prozent, auf dem zweiten Platz die macronistische Fünf-Parteien-Liste „Besoin d’Europe“ mit 14,6 Prozent, auf dem dritten die sozialistische Zwei-Parteien-Liste „Réveiller l’Europe“ mit 13,8 Prozent.

Man mag das als Testwahl ohne Belang abtun, bei der die Wähler gerne aus Protest wählen, den sie aber angeblich nicht wirklich ernst meinen. Aber warum sollten eigentlich Linke und macronistische Zentristen die von ihnen so verehrte EU ignorieren, während die nationalen Geister vom RN fleißig zu den Urnen pilgerten? Das erklärt sich kaum.

Nehmen wir also an, dass es ein ernsthaftes demokratisches Signal war, das von diesen EU-Parlamentswahlen ausging, nur eben eines, das auf der EU-Ebene stattfand. Es waren Wahlen für ein sogenanntes „Europäisches Parlament“, dessen wirkliche Funktion den wenigsten Wählern klar sein dürfte. Da diese Funktion aber nur im Abnicken von Kommissionsvorschlägen besteht, ist dieses Unwissen auch wieder nicht so wichtig oder gar gravierend.


Liste mit den meisten Stimmen bei den EU-Wahlen, nach Kommune. Dunkelblau: Rassemblement national (RN). Rottöne: Linke Parteien (PC, PS, Grüne, LFI). Violett: Ensemble (Macronie). Hellblau: Les Républicains (Quellen: Französisches Innen- und Überseeministerium, IGN, ISPF, INSEE; France Info)

Die EU-Wahl dient den europäischen Völkern, so auch den Franzosen, zum ungefilterten Ausdruck ihrer politischen Ansichten. Wo man in der nationalen Politik wohl auf tausend Dinge Rücksicht nehmen zu müssen meint, in ein dichtes Geflecht von Mentalitäten, Ansichten, Freundschaften eingebettet ist, setzt der Aufruf zur EU-Wahl den vereinzelten Wahlbürger frei. Er kann endlich wählen, was er denkt, ohne Rücksicht auf nationale Notlagen und eigene Nah-Interessen. Die EU scheint als unbegrenzter Raum der Möglichkeiten, in dem solche „engen“ Gedanken und Motive keinen Platz haben.

Schaut man auf die Wahlkreisverteilung bei der EU-Wahl, dann wird klar: Frankreich war aufgeteilt zwischen Linksfront und „Nationaler Sammelbewegung“ alias Rassemblement national (RN). Es herrschte Verhältniswahlrecht, daher bedeuteten 31,4 Prozent der Stimmen einen entsprechenden Anteil an den französischen Sitzen im EU-Parlament. Eine parlamentarische Mehrheit war das also nicht, wie jeder wissen kann, trotzdem ein kraftvolles Signal an ein Land, in dem bei nationalen Parlamentswahlen das Mehrheitswahlrecht gilt.

Liste mit den meisten Stimmen bei den EU-Wahlen, nach Wahlkreis. Dunkelblau: Rassemblement national (RN) und Verbündete. Rot: Linke Parteien (später NFP). Violett: Ensemble (Macronie). Hellblau: Les Républicains. (Quellen: französisches Innen- und Überseeministerium, Toxicode, Sciences Po; France Info)

Nach britischem Wahlrecht hätte das RN die Mehrheit erreicht

Dann kam die erste Runde dieser nationalen Parlamentswahl, die das RN gewünscht und Macron ihm zugestanden hat. Und die Franzosen stimmten immer noch mehrheitlich für das Rassemblement und seine Verbündeten. Noch immer gab es in halb Frankreich oder mehr eine RN-Mehrheit. Der deindustrialisierte Norden und „Große Osten“, der atlantische Südwesten, der mediterrane Süden sowieso, waren RN-Land geworden. Nur Paris, einige andere Großstädte und wenige ländliche Regionen zeigten andere Farben. In der Logik des französischen Systems konnte daraus alles Mögliche folgen. Das Wahlsystem ist weniger klar als das britische, in dem ein Wahlgang und die einfache Mehrheit der Stimmen ausreichen. Hätte Frankreich dieses First-past-the-post-System, dann hätte das RN seinen Gegnern eine erdrutschartige Niederlage bereitet und selbst wohl leicht die absolute Mehrheit der Sitze errungen.

Liste mit den meisten Stimmen in der ersten Runde der Parlamentswahlen, nach Wahlkreis. Dunkelblau: RN und Verbündete. Rottöne: NFP und diverse Linke. Violett: Ensemble (Macronie). Hellblau: Les Républicains und diverse Rechte. Gelb: Regionalisten. (Quellen: französisches Innen- und Überseeministerium, IGN, Sciences-Po; France Info)

Auch laut Prognosen hatte die Le-Pen-Partei gute Aussichten auf eine absolute Mehrheit um die 300 Sitze. Dass musste verhindert werden. Die Entscheidung, für einen Kandidaten zu stimmen, der einem weltanschaulich fernsteht, um einen anderen vermeintlich noch ferner stehenden Kandidaten zu verhindern, ist natürlich legitim. Die Frage ist nur, ob ein politischer Diskurs wirklich politisch legitim ist, der eine solche Entscheidung in den Vordergrund rückt.

Die „Legitimität moderner Demokratien“ beruht laut der berühmt-berüchtigten Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) „auf den Grundsätzen der Souveränität des Volkes, der Rechtsstaatlichkeit und der (sozialen) Gerechtigkeit“. Von einer Legitimitäts-Krise könne dann gesprochen werden, wenn „(große) Teile der Bevölkerung an den Grundwerten oder an der Rechtmäßigkeit des Handelns der Herrschenden zweifeln“. Man erinnert sich, dass die Faesers und Haldenwangs in der großen Demokratie Deutschland den Begriff der „Delegitimierung des Staates“ (eventuell „verfassungsschutzrelevant“) gefunden haben, der genau auf den wachsenden Legitimitätsmangel der Politik – manchmal wohl auch des Staates – aus Sicht der Bürger antwortet. Das trotzige Verhalten vieler beruht nicht zuletzt auf den Vorlagen, die staatlich-politische Akteure (man denke an den Bundespräsidenten, die Bundestagsvizepräsidenten, natürlich auch Bundesregierung und Parlament) den Bürgern liefern. Eine gewisse Frustration ist da nicht auszuschließen.

Die Linke gewann dank Macrons Kredit

Wie steht es nun in Frankreich um diesen Zusammenhang? Die Bemühungen Emmanuel Macrons und des Linkslagers um den Ausschluss eines Drittels der Wählerstimmen von der politischen Macht führt bei diesem Drittel sicher nicht zu Euphorieschüben. Das gilt umso weniger, wenn man hinzunimmt, dass unter normalen Bedingungen des französischen Wahlrechts – ohne die provisorische Brandmauer-Koalition von Macronie und Extrem-Links – sogar eine absolute Parlamentsmehrheit in greifbarer Nähe gewesen war. Im selben Maße, wie diese Vorgänge des Errichtens künstlicher „Abwehrdämme“ den Bürgern klar ist, wird die Legitimität der beteiligten Kräfte sinken. Und dafür gibt es natürlich auch in Frankreich Anzeichen.

Dass das RN in der zweiten Runde nur Dritter hinter den beiden anderen Wahlbündnissen wurde, ist auf die Absicht der Staatslenker – vor allem Emmanuel Macrons – zurückzuführen, die Zügel nicht aus der Hand zu geben, und das zu praktisch jedem Preis. Dieser Preis bestand in der Förderung der teils linksgrünen, teils linksradikalen „Neuen Volksfront“ – bis zu deren unheimlichem, wenn auch immer noch eingeschränkten Wahlsieg durch den Stimmenkredit des „Mozarts der Finanzen“ (Macron). Zusätzliche Wahlfälschung oder Wahlbetrug spielen übrigens in der französischen Diskussion keine Rolle. Das heißt nicht, dass sie nicht möglich sind.

Die Linksfront war natürlich leicht für dieses falsche Spiel mit „gezinkten“ Wahlzetteln zu gewinnen. Eine Vergrößerung der eigenen Fraktion ist in sich selbst ein gutes, immer vertretbares Ziel politischer Parteien. Aber die Links-Politiker waren letztlich auch nur die nützlichen Helfer (vielleicht gar Idioten?) der Führung im Élysée, die es auf das Strippenziehen im Hintergrund angelegt hat. Dass Macron keine förmliche oder inhaltliche Koalition mit den ultralinken Mélenchonisten schließen will, war zu jeder Zeit klar. Und niemand wird ihn dazu zwingen können. So erklären sich auch die quasi-aufrührerischen Übernahme-Vorschläge, die nun von APO-Genossen und allerlei roten Gewerkschafts-Hilden ins Auge gefasst werden – bis hin zu einer möglichen Sabotage der Olympischen Spiele.

Mélenchon als Systemstabilisierer

Daneben zeigt sich nicht erst in den juristischen Vorwürfen gegen Marine Le Pen, dass das Rassemblement es mit noch anderen Mächten als nur politisch links stehenden Parteien zu tun hat. Es ist die Funktionärsklasse der Fünften Republik, die sich gegen den grundlegenden Wandel zur Wehr setzt, den ein RN-Sieg bedeuten würde. Bürgerwohl statt Elitenwohl? Das ist in dieser ENA- und ENS-Republik nicht vorgesehen (École nationale administrative und École nationale supérieure heißen die Ausbildungsstätten der staatlichen Funktionärselite).

Die Führung des RN will es nicht dabei belassen, die „Underdogs“ und „Rebellen“ in diesem nationalen Drama zu geben. Die Partei trägt inzwischen eine geradezu demonstrative Treue zur Fünften Republik und ihrer Verfassung zur Schau. Man strebt einen demokratischen Machtwechsel an und ist bereit, dafür noch etwas länger zu warten. Von den Insurrektionsphantasien der Linksfront distanziert man sich so deutlich wie nur möglich.

Das Duell tiefer Staat gegen „France profonde“ geht weiter. Auf absehbare Zeit werden die Exponenten der Pariser Funktionärselite dem Volk immer unsympathischer werden, wie es ja die starken Ergebnisse von LFI und Rassemblement schon heute zeigen. Eine Revolution ist trotzdem nicht zu erwarten, solange man den einfachen Franzosen erlaubt, wirtschaftlich einigermaßen dahinzuvegetieren. Jeder Schritt nach unten in der Wohlstandsleiter dürfte aber den politischen Protest und die vorgeblichen „Extreme“ oder „Radikalen“ stärken. Mélenchons „Aufsässiges Frankreich“ hat sich dabei – ähnlich wie absehbar das BSW in Deutschland – als Systemstabilisierer erwiesen, so wie LFI-Exponenten an der beabsichtigten Zensur des privaten Freisenders CNews mitarbeiten. Es bleibt das Rassemblement als Ausdruck einer populären Unzufriedenheit, die viele Themen berührt. Gescheitert ist das RN weniger an seinem konkreten Programm als an der politischen Verweigerung des großkopferten Eliten-Frankreich. Sobald diese Wählerherden-Zügel erschlaffen, werden auch die Stichwahlen in Frankreich anders ausgehen. Dann kann sich ein Potential entfalten, das es – wie gesagt: laut allen Prognosen vor der ersten Runde – schon heute gab.

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