Die erste Glückwunsch-SMS kam von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er gratulierte der moldauischen Staatspräsidentin Maia Sandu zu deren gutem Abschneiden in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, vor allem aber zum ihrem Sieg bei dem gleichzeitigen EU-Referendum am 20. Oktober.
Es war etwas knapp geworden – 50,4 Prozent Ja-Stimmen – aber viele „EU-Botschafter ermutigen uns, die Verfassungsänderung jetzt entschlossen zu implementieren”, sagt Ina Coseru, die Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im moldauischen Parlament. Gerade traf sie den deutschen Botschafter zum Gespräch. „Wir sprachen über ein neues Programm, in dessen Rahmen moldauische Bürgermeister, Frauen und Jugendliche Deutschland besuchen könnten, um es kennen zu lernen.” Ein vergleichbares Projekt fand vor ein paar Monaten bereits in Ungarn statt.
Coseru glaubt an solche Initiativen. In die EU verliebte sie sich zuerst in Ungarn. „Es ist dort so schön, und geht den Menschen so gut”, erinnert sie sich an ihren ersten Besuch, als ganz junge Frau. „Da dachte ich, ich möchte das auch für uns, für die Menschen in der Moldau. Ich möchte, dass es uns so gut geht wie den Menschen in Ungarn.”
Ihre Leidenschaft ist mitreißend, aber im proeuropäischen Lager ist die Stimmung ansonsten derzeit etwas gedämpfter. „Das knappe Ergebnis des EU-Referendums müssen wir erstmal verdauen, wir und die meisten Experten hatten etwas anderes erwartet”, sagt Igor Zaharov, Ratgeber von Staatspräsidentin Maia Sandu für EU-Angelegenheiten. Viel Geld und Energie war in den Wahlkampf geflossen, die Meinungsumfragen sahen gut aus. „Wir erwarteten 55%, 60% Ja-Stimmen”, sagt er. Stattdessen wurden es 50,4 Prozent.
Bei der gleichzeitigen ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 20. Oktober kam Sandu auf 42,5 Prozent. Am 3. November hat sie daher eigentlich gute Aussichten, die Stichwahl gegen den prorussischen Sozialisten Alexandru Stoianoglo (26 Prozent) zu gewinnen. „Aber es kann eng werden”, sagt Zacharov. In der ersten Runde gab es neben Sandu und Stoianoglo neun weitere Kandidaten, die meisten von ihnen gegen eine forcierte EU-Integration der Moldau. Stoianoglo hat daher mehr Potential, seinen Stimmenanteil zu steigern.
Derweil gibt es im Hintergrund diskrete Debatten, ob das gewonnene EU-Referendum tatsächlich ein legitimes Mandat für eine Verfassungsänderung bedeutet.
„Am Wahlabend sah es noch nach einem Sieg des Nein-Lagers aus”, erzählt ein europäischer Diplomat in der moldauischen Hauptstadt Chisinau. „Erst am Montag, nachdem 200.000 Stimmen der Diaspora-Wähler ausgezählt waren, drehte sich das Ergebnis.” Seither, so sagt er, stehe die Frage im Raum, ob dieses Ergebnis wirklich eine Verfassungsänderung legitimiert.
Dafür ist eigentlich im Normalverfahren eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erforderlich. Mit dem Referendum wurde das umgangen. Eine einfache Mehrheit genügte für den Sieg. Es wurde aber eine Mehrheit, die im Land selbst nicht existiert: Daheim stimmten die Moldauer deutlich gegen die vorgeschlagene Verfassungsänderung, nur 45% waren dafür.
Zaharov erwähnt nebenbei, dass die Daten zur Wahlbeteiligung irreführend seien. „Die Wählerlisten sind veraltet, sie gehen von einer Bevölkerung von 2,7 Millionen aus – aber mehrere Hunderttausend sind in den letzten zehn Jahren ausgewandert.” Deswegen glaubt er, dass die tatsächliche Wahlbeteiligung bei rund 60% lag, statt den offiziellen 51 Prozent.Im Referendum ging es um die Einfügung zweier neuer Sätze in das Grundgesetz. In der Präambel soll festgeschrieben werden, dass die EU-Integration strategisches Ziel der Republik Moldau ist. Im Verfassungstext selbst soll ein Satz eingefügt werden, wonach die Identität der Moldauer europäisch sei. Konkret ist es das Verfassungsgericht, das auf Grundlage des Referendums den Verfassungstext ändern soll. Auch das ist im internationalen Vergleich eher ungewöhnlich: Es obliegt normalerweise dem Parlament, Gesetzestexte zu ändern. Verfassungsgerichte beschränken sich üblicherweise darauf, die Verfassung auszulegen, nicht deren Text zu ändern.
Beide Seiten – das pro-EU-europäische und das pro-russische Lager – beschuldigen einander, das Wahlergebnis mit unlauteren Mitteln beeinflusst zu haben. Mit viel Geld aus Russland seien unzählige Stimmen buchstäblich gekauft worden, sagt Frau Coseru. Je nachdem, wen man in Chisinau fragt, sollen 130.000 bis 300.000 Moldauer dafür bezahlt worden sein, gegen die EU-Integration zu stimmen. Woher die vielen Millionen Dollar, die dafür nötig waren? Der Experte eines Think Tanks in Chisinau bittet, das Aufnahmegerät auszuschalten. Nicht aus dem russischen Staatshaushalt würden solche Operationen finanziert, heißt es dann. Für solche Dinge seien Russlands Oligarchen da, jeder habe einen Aufgabenbereich, in welchem er für den Staat diskrete Aufgaben finanziert, die die russische Regierung nicht direkt finanzieren kann oder will. Ein Oligarch wird namentlich genannt: Er sei es, der sich speziell um Einfluss-Operationen in der Republik Moldau kümmere.
Die Gegenseite wiederum beklagt, dass für die rund 300.000 Moldauer, die in Russland leben und überwiegend prorussisch eingestellt sind, nur zwei Wahllokale bereitgestellt wurden. Eigentlich nur eines, denn beide waren physisch in der moldauischen Botschaft in Moskau. So konnten nur wenige Tausend Wähler ihre Stimmen abgeben. Ursprünglich, so erzählt ein Diplomat, seien 17 Wahllokale geplant gewesen. Das sei aber mit der Begründung storniert worden, dass der Ukraine-Krieg nun auch auf russischem Staatsgebiet ausgetragen werde, die Sicherheit daher nicht garantiert werden könne.
Zudem mussten Wähler im russisch kontrollierten Separatistengebiet Transnistrien (460.000 Einwohner) in die Moldau reisen, wenn sie an der Wahl oder am Referendum teilnehmen wollten. Daran ist freilich nicht die Regierung in Chisinau schuld: Sie hat keine Kontrolle über das Separatistengebiet, konnte daher dort keine Wahllokale anbieten.
Frau Coseru weist auf einen Lichtblick hin: Ein Drittel jener transnistrischen Wähler, die ihre Stimmen abgaben, hätten für die EU-Integration gestimmt. Das bedeutet, dass auch auf der vorwiegend russisch bevölkerten Seite eine starke Minderheit zur EU gehören möchte.
Warum aber fiel das Ergebnis so knapp aus, im Gegensatz zu allen Prognosen? „Manche fürchten, ein EU-Beitritt bedeute das Ende der moldauischen Neutralität, eine Annährung auch an die Nato”, sagt Igor Zaharov. Das sei aber ein Irrglaube. „Es gibt keinen Plan, der Nato beizutreten”, betont er. Schon deswegen nicht, weil die Unterstützung für einen solchen Schritt laut Meinungsumfragen nur bei rund 25 Prozent liege. Diese geringe Unterstützung für einen Nato-Beitritt, gepaart mit einer Furcht, dass der EU-Beitritt genau dazu führen könne, mag erklären, warum viele Wähler zurückhaltend waren.
Falls Maia Sandu die Wiederwahl am 3. November schafft, ist damit noch nicht die letzte politische Hürde gemeistert. 2025 wird ein neues Parlament gewählt. Auch hier muss ihre „Partei für Aktion und Solidarität” (PAS), siegen, wenn die EU-Orientierung beibehalten werden soll.
Da aber wird eine ganz neue Rechnung aufgemacht: Ion Ceban, der recht populäre Bürgermeister von Chisinau, steigt mit einer neuen Partei (MAN) in den Ring. Er hat mit EU-Geldern viele Modernisierungsprojekte in der Stadt umsetzen können, die Wähler halten ihm das zugute. Bei den Kommunalwahlen 2023 schaffte Ceban auf Anhieb die absolute Mehrheit, nachdem er bereits 2019 zum Bürgermeister gewählt worden war.
Ceban positioniert sich als proeuropäisch und sozialdemokratisch, begann seine politische Karriere aber bei den prorussischen Sozialisten (PSRM). Auf jeden Fall ist er ein Gegner Sandus, der er vorwirft, schön zu reden, aber wenig zu tun. Beobachter glauben, dass er nach 2025 eine wichtige Rolle spielen wird in der moldauischen Innenpolitik.
„Niemand weiss wirklich, wofür er steht”, sagt Cornel Ciobanu, Chef des öffentlichen Senders „Radio Moldova”. Dass er aber nach der Macht strebt, sagt Ceban selbst: „Natürlich. Im allgemeinen gründet man deswegen eine Partei, weil man Wahlen gewinnen will”, sagt er im Gespräch. Er stehe für Kompetenz und Effizienz: „Wir wissen, wie es geht.”
Der PAS würde es helfen, kämen die versprochenen EU-Gelder auch an. Erst zwei Wochen vor der Wahl kam EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nach Chisinau und versprach dem Land 1,8 Milliarden Euro, bereits früher hatte die EU der Moldau drei Milliarden Euro zugesagt.
„Von dem Geld ist aber nur sehr wenig tatsächlich bereits geflossen”, sagt Frau Coseru. Und auch der bereits erwähnte europäische Diplomat sieht darin ein Problem: „Viele Menschen leben eher schlechter als früher, auch hier sind die Preise gestiegen. Auch das mag einen Einfluß gehabt haben auf das knappe Ergebnis des Referendums.”
Um aber diese Gelder zu mobilisieren braucht die Moldau etwas, wovon sie nur wenig hat: kompetente Projektschreiber. Um EU-Gelder muss man sich mit Projekten bewerben, das ist aber ein höchst technischer und bürokratischer Vorgang. „Wir haben zu wenig Fachleute dafür”, sagt auch Olga Ursu, stellvertretende Bürgermeisterin in Chisinau.
An solchen Details kann die EU-Vision der Moldau noch scheitern.