Das Ergebnis war keine echte Überraschung: Mit fast 60 Prozent hat Claudia Sheinbaum Pardo die Präsidentschaftswahl in Mexiko für sich entschieden. Zwar wurde sie als erste Frau und erste Jüdin ins Amt gewählt, von einem wahren Umbruch kann ansonsten jedoch keine Rede sein. Dies gab die 61-jährige Sozialistin auch offenherzig zu. Ihr überwältigender Wahlsieg garantiere „Kontinuität“, rief Sheinbaum ihren Anhängern auf der Plaza de la Constitución in Mexiko-Stadt zu. Mit anderen Worten: Es soll im Grunde genommen ähnlich weitergehen wie unter ihrem Parteifreund Andrés Manuel López Obrador (Movimiento Regeneración Nacional – MoReNa). Dieser hat zwar seit 2018 die Renten erhöht und mit sozialen Projekten zur Verbesserung einiger Armutsindikatoren beigetragen, das Problem der extremen Drogenkriminalität aber blieb und hat sich in den letzten Jahren deutlich zugespitzt. Außerdem ist es fraglich, ob Sheinbaum die kostspieligen Reformen ihres Amtsvorgängers fortführen kann, ohne das Staatsdefizit auszuweiten und damit das Land zusätzlich zu destabilisieren.
Man könne Mexiko nicht begreifen, ohne „El laberinto de la soledad“ („Das Labyrinth der Einsamkeit“) gelesen zu haben, hieß es einst in einem Kommentar zur Verleihung des Literaturnobelpreises an den vorzüglichen Essayisten Octavio Paz. Sein 1950 erschienenes Buch ist eine polyphone Analyse der mexikanischen Gesellschaft, die in einem ständigen Zwiespalt zwischen ihren zwei Vergangenheiten und einer widersprüchlichen Gegenwart lebt. Dies hat sich bis heute wenig verändert: Seine Landsleute sind immer noch auf der Suche nach der „mexicanidad“, der Identität eines Volkes, das die Fiesta ebenso ernst wie den Tod leicht nimmt. In „Las trampas de la fe“ („Die Fallstricke des Glaubens“) beschreibt Paz wiederum das Leben der Nonne und Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz. Die Begründerin der mexikanischen Nationalliteratur scheiterte an der religiösen Welt des Barock.
Die Zeiten, in denen Frauen in Mexiko ausschließlich im Kloster Wissen erwerben konnten, sind glücklicherweise vorbei. Andere autoritäre Dynamiken im 20. und 21. Jahrhundert haben unterdessen an Bedeutung gewonnen. Linksextremismus findet als integrierende Ideologie unter den gegenwärtigen Krisen großen Beifall. Doch die Verzückung hat auch ihre Grenzen. López Obradors Kampf gegen die skrupellos mordenden Drogen- und Mafiakartelle hatte eine Welle mit noch mehr Gewalt und Toten zur Folge.
Überdies befürchten Sheinbaums Kritiker, dass sie die autoritären Tendenzen ihres politischen Ziehvaters übernehmen und Mexiko in ein Zeitalter der Einparteienherrschaft überführen könne. Der Linkspopulist hatte versucht, die Verfassung zu ändern, um sich unmittelbaren Zugriff auf staatliche Institutionen zu verschaffen. Seine Nachfolgerin hat während ihres Wahlkampfs mehrfach betont, dass sie die unzulässigen legislativen Eingriffe López Obradors keineswegs als „rechtswidrig“ erachte. Sheinbaums Präsidentschaft könnte folglich gleichfalls autoritäre Züge annehmen, zumal sie auf die nötige Mehrheit der MoReNa in der Cámara de Diputados hoffen kann, die viele ihrer illegalen Vorstöße absegnen wird.
Anders als Mexikos „erste Feministin“ Sor Juana Inés de la Cruz ist Claudia Sheinbaum weder religiös noch besonders literarisch begabt. „Sie ist trotzdem das Beste, was uns passieren konnte“, versicherte die bekannteste mexikanische Schriftstellerin der Gegenwart Elena Poniatowska der Tageszeitung „El Universal“. Die 92-jährige polnischstämmige Autorin hatte Sheinbaum während des Wahlkampfs nach besten Kräften unterstützt.
Mexikos neues Staatsoberhaupt ist studierte Physikerin. Sie wurde in einer säkularen jüdischen Familie geboren und ist in Mexiko-Stadt aufgewachsen. Sheinbaums Großeltern väterlicherseits kamen Anfang des 20. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen, jedoch ebenfalls politischen Gründen aus Litauen nach Mittelamerika. Ihr Großvater war Kommunist, der vor den Nazis geflohen war. „Ich war nie religiös, stand der jüdischen Gemeinschaft aber stets nahe. Wir haben alle jüdischen Feiertage mitgefeiert“, sagte sie kurz vor der Wahl.
Den meisten mexikanischen Wählern dürfte ihre Herkunft gleichgültig sein. Umfragen ergaben, dass dies an den Urnen als Wahlkriterium keine große Rolle spielte. Ihren haushohen Wahlsieg hat sie vornehmlich ihrem Vorgänger zu verdanken, der mit der zeitweiligen Erhöhung staatlicher Leistungen für Familien und Senioren für spürbare Entlastung sorgte. „In einem überwiegend katholischen Land wäre Sheinbaums christdemokratische Gegenkandidatin Bertha Xóchitl Gálvez Ruiz von der Partido Acción Nacional eigentlich die politisch attraktivere Wahl gewesen“, glaubt die mexikanische Journalistin Carmen Aristegui.
Sheinbaums politische Karriere sei ohne ihren Amtsvorgänger nie möglich gewesen, fügt sie hinzu. Im Jahr 2000 holte López Obrador als frisch gewählter Bürgermeister von Mexiko-Stadt die junge Naturwissenschaftlerin ins Rathaus, wo sie zu seiner Umweltministerin wurde. Später leitete Sheinbaum dessen Präsidentschaftswahlkampf und war Sprecherin seiner neu gegründeten Partei MoReNa. Im Sommer 2018 gewann López Obrador mit großem Vorsprung die Wahl zum Staatsoberhaupt und seine bisherige Assistentin wurde regierende Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt. In dieser Funktion habe sie nachweisliche Erfolge, insbesondere in der Sicherheitspolitik. Während ihrer Amtszeit sei die Zahl der Schwerverbrechen in der Hauptstadt um ca. 60 Prozent zurückgegangen und dadurch die Lebensqualität auf den Straßen zweifellos verbessert worden.
Die Sicherheitspolitik ist in der Tat eine der größten Herausforderungen für die neue Präsidentin. Nach offiziellen Angaben gelten in Mexiko gegenwärtig mehr als 100.000 Menschen als „vermisst“, mehr als 30.000 wurden im vergangenen Jahr landesweit ermordet. Viele bezweifeln, dass Sheinbaum der weiteren Expansion der Drogen-Kartelle die Stirn bieten könne. Auch während des jüngsten Wahlkampfes hinterließ der mexikanische Drogenkrieg eine blutige Spur. Längst wird er ebenso in den bisher als sicher geltenden Touristenzentren ausgetragen. Einige Tage vor der Präsidentschaftswahl fand die Polizei zehn tote Menschen – in nur einer Nacht. Offenbar wurden manche der Körper aus Fahrzeugen geworfen. Wenn die künftige Staatspräsidentin dies nicht in den Griff bekommt, wird ihr Land unregierbar. Zudem muss sie die Infrastruktur erneuern und beweisen, dass López Obrador ihr nicht aus dem politischen Altersheim das Regierungsprogramm zuflüstert.
Darüber hinaus liegt Mexiko auf der Migrationsroute von Menschen, die seit Jahren massenweise in die Vereinigten Staaten strömen. Allein im vergangenen Jahr überquerten mehr als 2,4 Millionen Migranten die südliche US-Grenze. Sheinbaum muss in ihrem Land Probleme lösen, die derzeit gleichfalls den US-amerikanischen Wahlkampf bestimmen. Präsident Joe Biden steht wegen der hohen Zahl mexikanischer Migranten unter Druck. Nun plant er offenbar neue Maßnahmen: Er wolle die Grenzübergänge schließen, wenn die Zahl der illegalen Übertritte 2.500 pro Tag übersteige.
Im Wahlkampf schätzte Sheinbaum die Beziehungen zwischen den USA und Mexiko als „herzlich“ und „frei von Aggressionen“ ein. Nun ja, ihrer Ansicht nach habe auch López Obrador nie „verfassungswidrig“ gehandelt. Und dann ereilt sie wieder ein unerwarteter Anflug von Ehrlichkeit: Man solle Mexikos Regierungssystem grundsätzlich auch im Licht der „besonderen kulturellen Voraussetzungen“ dieses Landes verstehen und nicht nur entlang der „historisch allzu flachen Kategorien vergleichender Demokratieforschung“, so die neue Staatschefin.