Tichys Einblick
Wahlkampf nimmt Fahrt auf

Vor der Parlamentswahl in Polen: Der Unmut wächst

Sechs Wochen vor den Parlamentswahlen in Polen wächst der Unmut der Bevölkerung, und dies nicht nur angesichts der Kandidatenaufstellungen. Wegen steigender Inflationsraten baut sich ein großes Protestpotenzial auf, das manchen Politikern einen unsanften Übergang in den politischen Ruhestand bescheren dürfte. Bericht aus Warschau

Oppositionsführer Donald Tusk am 27. August 2023 in Sopot, Polen

IMAGO / NurPhoto

Bis zum Showdown sind es nur noch wenige Wochen. Am 15. Oktober sind alle Augen auf die Wahlurnen zwischen Oder und Bug gerichtet. Die polnischen Wähler möchten langsam erfahren, wen die einzelnen Parteien ins politische Rampenlicht rücken wollen. Die Frage, wer auf welchem Listenplatz steht, treibt vor allem die Opposition um. Die Bürgerplattform (PO) hat bei den Parlamentswahlen 2015 und 2019 den Kürzeren gezogen, befindet sich nun im mühseligen Überlebenskampf.

Eine durchdachte Zusammenstellung der Wahllisten hat deshalb höchste Priorität. Einige prominente Namen sollen dem Parteichef Donald Tusk zum ersehnten Wahlsieg verhelfen. Mit dem in Polen allseits bekannten Historiker und Journalisten Bogusław Wołoszański möchte der frühere EU-Ratspräsident nun endlich in die Offensive kommen. Es ist ungefähr so, als ob in Deutschland der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil den jahrelangen ZDF-„Chefhistoriker“ Guido Knopp aus dem wünschenswerten Ruhestand in den Bundestag überführen würde. Mit dem Unterschied, dass Wołoszański einst vom kommunistischen Geheimdienst angeworben wurde.

Zahlreiche Polen stören sich jedoch nicht daran, besonders diejenigen, die mit nostalgischen und „bittersüßen“ Gefühlen an krude Mai-Paraden zurückdenken. Tusk zwinkert hier jenen graumelierten Mitläufern zu, die ihre alte grüne WRON-Uniform im Schrank verstecken und gegenwärtig um ihre Rente bangen müssen. Der PO-Chef stellt ermunternd klar: „Wenn ich wieder an die Macht komme, hat die Dekommunisierung ein Ende.“ Das Problem besteht darin, dass er dereinst selbst behauptete, dass es ohne die Mehrheit der „willigen Mitläufer“ den kommunistischen Unrechtsstaat in Polen nie gegeben hätte.

Positive Emotionen

Die Wahllisten der oppositionellen „Bürgerkoalition“ sollen aber ebenso Personen anführen, die parteiübergreifend positive Emotionen hervorrufen. Als Favorit geht ins Rennen um ein Sejm-Direktmandat unter anderem der ehemalige Skisprung-Trainer Apoloniusz Tajner. Nun, schließlich hat er einst Adam Małysz zu einem international geachteten Spitzensportler geformt. Aber kann er auch Tusk zu einem Gewinner umprogrammieren? Eher nicht, denn die personelle Situation auf der PO-Ersatzbank hat sich zuletzt weiter verschärft. Von den bereits erwähnten Namen abgesehen, gestaltet sich die Kandidatenkür und Richtungssuche im linksliberalen Spektrum schwierig.

Tusk sieht sich gezwungen, auf sonderbare Debütanten zurückzugreifen, die in der Politik eigentlich nichts zu suchen haben. Die Grünen-Politikerin Klaudia Jachira hat schon vor vier Jahren bewiesen, dass man es lediglich dank merkwürdiger Happenings auf die Wahlllisten der Bürgerkoalition und sogar ins Parlament schaffen, ja gar die gesamte Legislaturperiode hindurch negativ auffallen kann. Sie hat jetzt leider zahlreiche Nachahmer gefunden, die um die Gunst des PO-Vorsitzenden buhlen.

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Für einiges Aufsehen sorgt bereits seit Wochen der Anführer der Bauernbewegung AGROunia, Michał Kołodziejczak, den Tusk ebenfalls unter seine politischen Fittiche genommen hat. Nachdem die Bauernpartei PSL dem PO-Chef die Gefolgschaft gekündigt hatte, aus der von ihm geführten KO ausgetreten war und fortan mit Szymon Hołownias Polska 2050 den sogenannten „Dritten Weg“ beschreitet, suchte Tusk hängeringend ein neues Gesicht, das die polnischen Landwirte erreicht. Ob gerade der 34-jährige Kołodziejczak, der nach jedem Wahlauftritt erst einmal staatsmännisch sein Eis verspeist, weitere Wählerschichten zu erschließen vermag, erscheint indes mehr als fraglich.

Manche behaupten, die AGROunia und deren Chef seien lediglich von Tusk erfundene Werkzeuge, die dazu dienen sollen, die PSL unter die Fünf-Prozent-Hürde zu drücken. „Er ist höflich, aber bei politischem Verrat kennt er keine Gnade. Der Rothaarige ist rachsüchtig“ – so soll sich einst Polens Ex-Präsident Aleksander Kwaśniewski über Tusk geäußert haben, ohne zu wissen, dass sein Gespräch heimlich mitgeschnitten wurde. Wie dem auch sei, fest steht: Der Oppositionsführer duldet keine Kritik.

Ansonsten werden auf den Wahllisten Amateure jeglichen Couleurs toleriert, solange sie ihr unseliges Mundwerk unter Verschluss halten. Dann ist nicht einmal die Einreichung eines tabellarischen Lebenslaufs notwendig, geschweige denn eines Eignungstests für Berufspolitiker. Ein bezeichnendes Beispiel: Im Winter 2017 war die zu dieser Zeit amtierende Ministerpräsidentin Beata Szydło in einen Autounfall verwickelt und hatte dabei leichte Verletzungen erlitten.

Verantwortlich für die Kollision war der damals 21-jährige Kleinwagenfahrer Sebastian Kościelnik. Er hatte seine Schuld eingestanden, die Angelegenheit schien erledigt. Statt der Premierministerin Genesungswünsche zu schicken, witterte die Opposition nun aber eine Gelegenheit, Kościelnik zum Märtyrer und Opfer des „rigiden PiS-Rechtssystems“ zu kreieren. Der geständige Unfallverursacher konnte die Euphorie um seine Person nicht begreifen, möchte aber nun, sofern sich schon mal die Möglichkeit anbietet, in den Sejm einziehen. Dreimal dürfen Sie raten, wer ihm die nötige Bühne, das Geld und den Wahlstart ermöglicht.

Parteifreunde und Königsmörder

Dann gibt es Parteifreunde und alte Getreue, die Donald Tusk gern kritisieren würden, es jedoch unterlassen, weil sie sich einen Abgeordnetensitz erhoffen. Der Rechtsanwalt Roman Giertych, der seit Jahren die PiS-Chefetage mit medialem Kot bewirft, will sich nicht mit hinteren Plätzen begnügen. Er denkt jedoch nicht daran, gegen Tusk auszuteilen. Giertych, der die meiste Zeit in der Toskana verbringt, braucht die parlamentarische Immunität, denn nur diese schützt ihn vor strafrechtlicher Verfolgung im eigenen Lande. Warum auch den Oppositionsführer jetzt anzählen, sechs Wochen vor dem Showdown? Sinnlos. Und gefährlich.

Königsmörder kommen in Polen auf den Scheiterhaufen. Zum „König“ könnte Tusk jedoch frühestens 2025 gekrönt werden. Dann erst stehen Präsidentschaftswahlen an. Eines scheint nämlich unabwendbar: Die Parlamentswahl im Oktober wird Tusk ohnehin verlieren. Und das weiß er auch. Das zumindest sagen sämtliche Umfragen voraus. Die PiS profitiert von dem Chaos in der Bürgerplattform sowie der medialen Kritik an ihrem schwachen Anführer. Jarosław Kaczyńskis Partei konnte zuletzt in der Wählergunst weiter Boden gut machen und liegt an der Spitze, zwischen schlechten 34 und passablen 42 Prozent.

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In zwei Jahren hätte Donald Tusk tatsächlich noch eine Chance, in den Präsidentenpalast einzuziehen. Der amtierende Staatschef Andrzej Duda kann sich nicht mehr um eine dritte Amtszeit bewerben. Es wird ohnedies auf ein traditionelles Kopf-an-Kopf-Rennen hinauslaufen, wo lediglich Kleinigkeiten entscheiden. Jeder, der klug genug ist, wird daher nicht in die Rolle des Königsmörders schlüpfen, in eine Rolle, die hinweinwirkt in diese ohnehin höchst verunsicherte PO, die noch immer, auch im achten Jahr der Opposition, auf der zermürbenden Suche ist nach sich selbst – eingeklemmt zwischen Vergangenheit und Neuanfang. Der inzwischen in die Jahre gekommene Tusk steht nicht gerade für den ersehnten Neubeginn und doch fällt immer sein Name, wenn es um Instinkt und Machtanspruch geht. Auch in Brüssel, wo man seit Jahren vergeblich vom raschen Fall der PiS-Regierung träumt.

Dem Ego des PO-Vorsitzenden dürfte die Unterstützung Ursula von der Leyens guttun. Machttaktisch aber wird ihm dies keinen Vorteil bringen. Weite Teile der liberal-konservativen Wählerschaft haben ihm ob seiner Allianz mit den Postkommunisten und Gender-Populisten den Rücken gekehrt. Tusk sucht keinen Diskurs, auf viele Wähler wirkt es unattraktiv. Seine Situation ist auch nun wirklich nicht einfach: Vom EU-Ratspräsidenten zum Paria. Wer tut sich das an? Zudem ist seine Wählerschaft inzwischen zu heterogen geworden, sie eint allenfalls das Ziel, die Konservativen abzuwählen. Deswegen tut er sich schwer, den richtigen Ton zu treffen und alle anszusprechen. Stets sind die einen erfreut und die anderen entzürnt. Wenn er die einen beruhigt hat, springen ihm die soeben Erfreuten an den Hals. Wenn man zehn PO-Wähler fragt, welchen Kurs Doland Tusk einschlagen solle, bekommt man zehn verschiedene Antworten. Bestenfalls.

Unkontrollierte Kurswechsel

Eigentlich haben frühere Parteigranden wie Borys Budka und Tomasz Siemioniak gehofft, dass mit der Rückkehr Tusks aus Brüssel die Führungs- und Richtungsfrage geklärt wäre. Dass Tusk als neuer, alter Chef schon ein Koordinatensystem zimmern würde. Modern. Wirtschaftsliberal. Stattdessen fiel der frühere EU-Ratspräsident zuletzt insbesondere durch unkontrollierte Volten auf.

Mal erklärte er, der von der PiS in Auftrag gegebene Zaunbau an der polnisch-belarussischen Grenze sei eine „diktatorische Maßnahme“. Als sich anschließend die von Moskau und Minsk gesteuerte Migrationskrise abermals zuspitzte, verhedderte er sich in einem Interview und sagte, der Zaun sei „zu löchrig“ und die PiS „überlasse illegallen Migranten das Feld“. Kurzum: viel Lärm, kaum Programmatik. „Das Gebaren als Oppositionspartei reicht nicht aus“ – sagen derweil sogar schon überzeugte Tusk-Fans.

Als der linke Abgeordnete Franciszek Sterczewski den PO-Chef für dessen Kurswechsel in der Migrationspolitik zu kritisieren wagte, war die Reaktion eindeutig. Tusks Blick steht dann im scharfen Kontrast zu dem Herz-Logo auf seinem schneeweißen Hemd. Als ob er sagen möchte: „Junge, du hast gerade den Fehdehandschuh geworfen.“ Da bleibt nichts mehr von dem einstudierten Lächeln, das wir noch aus Brüssel kennen. Der Oppositionsführer schweigt zwar, aber er lässt nichts anbrennen. Er rasiert leise. In diesem Wirrwarr aus inhaltlicher Flaute und Fraktionsfehden hat Tusk zudem unfrewillig eine Internet-Armee gezüchtet, die seit Jahren die unangenehme Arbeit für ihn erledigt. Auch von ihnen ist er nun abhängig, diese Söldner sind potenzielle Wähler.

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Übrigens ist die PO die erste Partei, die sich im polnischen Wahlkampf erdreistet hat, künstliche Intelligenz in den Werbespots einzusetzen und Morawiecki Zitate in den Mund zu schieben, die er nie geäußert hat. Dies ist zweifelsfrei ein Novum. Wenn diese Methode künftig zur Norm wird, wissen wir, wer dafür verantwortlich war. Dies ist das Ergebnis einer Politik, die darauf beruht, jeden zum Schweigen zu bringen, der den Kurs des Anführers anzweifelt. Die programmlose, aber pure raumgreifende Präsenz des Donald Tusk lässt keinen Spielraum für Alternativen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass er seine Feinde in der eigenen Partei vermutet und nicht auf den Regierungsbänken. Er nimmt an, er könne die PO allein aus dem Mist ziehen, dabei wird der Haufen immer größer.

Inzwischen gibt es keinen in der PO, der den wirtschaftsliberalen Flügel abdeckt. Unter uns: Die Rolle des Oppositionsführers ist Tusk nicht auf den Leib geschrieben. Und er scheint eines zu vergessen: Er zieht zwar gegen die PiS als Totengräber des Wohlstands ins Gefecht, dabei war er es, der als Premier den Ausverkauf polnischer Wirtschaft vorangetrieben hatte. Bei Tusk weiß man nie, was als Nächstes kommt, jedenfalls nichts, was ihn näher an die Regierungskanzlei bringt.

Vergeblich versucht er, mit neuen „kreativen“ Ideen zu überraschen. So hatte er jüngst versprochen, dass er am Tag nach den „gewonnenen Parlamentswahlen“ nach Brüssel reisen werde, um EU-Gelder aus dem Wiederaufbaufonds freizugeben. Bevor Tusk jedoch erneut zum Regierungschef ernannt wird, sollte man zunächst vielleicht die „unsauberen“ Kapitel seiner Russland-Politik aufklären, die zuletzt Historiker in einer eindrücklichen Doku-Serie ans Licht gebracht haben.

Komponiert und durchgeplant

Im Gegensatz zu Donald Tusk, bei dem man wirklich bisweilen keine Ahnung hat, wofür er eigentlich steht und wohin er die PO hinsteuert, wirken die Auftritte der Konservativen fast schon perfekt komponiert und durchgeplant. Während die Bürgerplattform die nächste ideologische Volte vollzieht, bleibt die PiS in der Migrationspolitik standhaft. Der polnische Innenminister Mariusz Kamiński hat jüngst angekündigt, die Grenzen nach Belarus zu schließen, sollte es zu einem „kritischen Zwischenfall“ wegen der dort präsenten Wagner-Gruppe kommen. Das für Oktober von der Regierung angekündigte Referendum, bei dem die polnischen Bürger ihre Meinung zu der im Juni vereinbarten Reform der EU-Asylpolitik äußern sollen, wird ebenfalls begrüßt. Auch die Militärparade am 15. August, an dem Polen traditionell den Sieg über die Rote Armee im Jahr 1920 feierte, war eine politische „Telemarklandung“, eine eindrucksvolle Machtdemonstration, die in Moskau durchaus registriert wurde.

Polens Präsident Andrzej Duda unterstrich dabei die Bedeutung der Nato-Ostgrenze und erklärte sie zum Schlüsselelement polnischer Staatsinteressen. Überdies kündigte er ein Rekordverteidigungsbudget an. Die Armee soll fast auf das Doppelte anwachsen. Gegenwärtig zählen Polens Streitkräfte über 170.000 Männer und Frauen, darunter mehrere Zehntausend in den freiwilligen Einheiten des Heimatschutzes. In den kommenden Jahren soll diese Zahl voraussichtlich auf 300.000 anwachsen.

Vor einigen Wochen hatte Polen angekündigt, Tausende zusätzliche Soldaten an seine Ostgrenze zu verlegen. Nach dem Tod Jewgeni Prigoschins ist die Gefahr durch die Söldnertruppe Wagner mitnichten gebannt. Diese wichtigen Entscheidungen der Regierung bleiben von der Opposition häufig unkommentiert. Der Militärparade blieben die meisten PO-Politiker ebenfallsfalls fern. Einige von ihnen versuchten, das Ereignis herunterzuspielen, bezeichneten es gar als „pompöses Abenteuer“. Was wollen sie damit bezwecken?

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Auch in der PiS wird gestritten, der avisierte Kurs jedoch kaum angezweifelt. Es will scheinen, dass Morawiecki, Kaczyński und Ziobro strategisch denken, abwägen, ganze Teams an der Wahlkampagne feilen lassen. Der inzwischen 74-jährige Regierungsparteichef Kaczyński ist zwar in den sozialen Medien nur halbherzig präsent, kommt mit der Schnelllebigkeit politischer Talk-Shows allerdings besser zurecht als manch ein jüngerer Kollege. Die Biologie ist gnadenlos, doch er weiß um die Relevanz eines konsistent durchkomponierten Gesamteindrucks. Kaczyński lässt sich vor der nahenden Parlamentswahl viel Zeit mit der Veröffentlichung der Kandidatenaufstellungen. Die Listen liegen bereits in den Schubladen, aber in der PiS-Parteizentrale in der Warschauer Nowogrodzka-Straße herrscht Ruhe. Damit fährt man besser.

Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, so scheint es, beherrscht wiederum die Rolle des geschmeidigen Verstehers. Ein wenig brav und stets auf der Hut. Nur gelegentlich polemisch, vor allem bei Wahlveranstaltungen. Diese Vorsicht hat auch mit seinen Amtsvorgängern zu tun, die einst die PO stellte. Die ungeschickte Ewa Kopacz, die Tusk vor seiner Reise nach Brüssel als Nachfolgerin in der Regierungskanzlei installierte, hinterließ vor dem Wahlsieg der PiS im Herbst 2015 einen Scherbenhaufen unschöner Bilder: Vor dem Bundeskanzleramt in Berlin musste sie von Angela Merkel an die Hand genommen werden, weil sie sich verirrte und kurzerhand den roten Teppich verließ. Zudem stand Kopacz in vielen (heute noch abrufbaren) Interviews mit beklemmender Offenheit zu ihrer eklatanten Inkompetenz. Das kam nicht gut an und besiegelte den Untergang der PO.

Morawiecki würde so etwas eher nicht passieren. Alles unter Kontrolle. Ein Lautsprecher ist er nicht, dafür aber scharfsinnig und ambitioniert. Strukturiert, sortiert und fähig, Koalitionen zu schmieden. Sein Vater Kornel war eine Solidarność-Legende, die einigen Postkommunisten noch heute schlaflose Nächte bereitet. Das prägt. Und hilft, in Zeiten des Ukraine-Kriegs den Kompass nicht zu verlieren.

Ungebetener Gast: Inflation

Doch auch die Regierung hat Probleme. Es gehört zur Folklore des politischen Journalismus, dass man darauf hinweist. Der gesellschaftliche Unmut wächst. Vielerorts bricht er offen aus. Die Umfragewerte sind gut, aber wenn die Inflationsraten weiter in die Höhe schießen, werden die Konservativen früher oder später geradewegs in eine Existenzkrise laufen. Weitere Entlastungspakete werden folgen. Die PiS-Regierung hat zwar eine Erhöhung des Kindergeldes angekündigt, wann dies angesichts der hohen Lebensmittelpreise spürbar wird, steht allerdings in den Sternen.

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Selbst die deutschen Touristen staunten, als sie in diesem Jahr konstatieren mussten, dass die Urlaubspreise in dem östlichen Nachbarland um bis zu 46 Prozent gestiegen sind. Im Juli lag die Inflationsrate in Polen mit 10,8 Prozent fast doppelt so hoch wie in Deutschland, wo sie 6,2 Prozent betrug. Im internationalen Vergleich schwindet damit der Preisvorteil Polens. Zahlten deutsche Urlauber im Jahr 2018 noch 32,9 Prozent weniger für Restaurants und Übernachtungen als in Deutschland, liegt die Ersparnis derzeit nur noch bei 17,8 Prozent. Damit bewegt sich Polen inzwischen auf dem Preisniveau der bei vielen Europäern beliebten Iberischen Halbinsel. Die polnischen Touristen in der Algarve stellen ebenso mit Erstaunen fest, dass die Limonade dort inzwischen billiger ist als am eigenen Ostseestrand.

Zu den gestiegenen Preisen gesellt sich obendrein das Gefühl der wachsenden Bedrohung aus dem Osten. Der anhaltende Zustrom von ukrainischen Geflüchteten sorgt im Alltag unweigerlich für Antagonismen. Laut der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ ist die Ausländerkriminalität in Polen deutlich gestiegen. Für 70 Prozent der Vergehen seien demnach Flüchtlinge aus der Ukraine verantwortlich.

Im Frühling beherrschte die Medien ein anderes Thema: Ukrainisches Getreide, exportiert über Polen nach Afrika, erregte die Skepsis polnischer Landwirte. Das sind reale Probleme, auch wenn die Anteilnahme Polens für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge ungebrochen anhält. Die künftige Regierung, wie immer sie auch aussehen mag, wird diese Probleme anpacken müssen.

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