Nun haben auch die Staatschefs sich also auf die Spitzenämter der EU geeinigt, und Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin der Herzen, sollte erneut in ihrem Amt als Exekutiv-Chefin der Europäischen Union bestätigt werden, sekundiert durch die liberale estnische Staatschefin und profilierte Putin-Gegnerin Kaja Kallas als EU-Außenbeauftragte und – zunächst auf 2,5 Jahre – den portugiesischen Sozialdemokraten António Costa als Ratspräsident, während das auf acht Jahre terminierte Mandat der EZB-Präsidentin Christine Lagarde noch wie vorgesehen drei weitere Jahre laufen wird.
Die Aufgabenverteilung spiegelt hierarchisch in etwa die Wahlresultate der drei großen Parteienfamilien wieder, die sich aufgrund ihrer dominanten Position sowohl im Parlament als auch in den Regierungen der EU zu einem pragmatischen Zweckbündnis zusammengeschlossen haben, wenn es um politische Grundsatzentscheidungen oder die Besetzung der wichtigsten Institutionen geht. Denn eines wird wie 2019 auch 2024 deutlich: Den Rechtskonservativen von ID und EKR will man trotz ihrer großen Zugewinne möglichst keinen Schritt entgegenkommen, um die auch in der EU vielbeschworene „Brandmauer gegen rechts“ nicht zu gefährden.
Dies schließt natürlich nicht aus, daß gerade Ursula von der Leyen stark nach rechts schielen muß, wenn es um die baldige Bestätigung ihrer Nomination durch das EU-Parlament geht. Denn zwar besitzt das Dreiparteienkartell mit 399 von 720 eine deutliche Mehrheit, und diesmal hat man auch das Spitzenkandidatensystem respektiert. Doch sind die großen Gruppen im Parlament alles andere als homogen und unterliegen auch keinem Fraktionszwang, der mit dem in nationalen Parlamenten vergleichbar wäre: Nicht alle Sozialdemokraten, Liberalen und selbst Christdemokraten mögen Ursula von der Leyen, die vielen europäischen Wählern der Inbegriff für EU-Technokratie, für deutsche Besserwisserei und für den Linksruck des Zentrums ist.
Zudem sieht es danach aus, als ob das Dreiparteienbündnis möglichst ohne die Grünen auszukommen versuchen wird, die bei den letzten Wahlen zu den größten Verlierern gehörten – auf deren Unterstützung wird von der Leyen also auch nicht zählen dürfen. Wie 2019 steht daher zu erwarten, daß von der Leyens Mehrheit ziemlich knapp ausfallen dürfte, und sie auf die eine oder andere Stimme von rechts zählen muß, um keine böse Überraschung zu erleben. Hier dürfte – schon wieder – Giorgia Meloni das Zünglein an der Waage werden und entsprechende Zugeständnisse seitens der ach-so-antifaschistischen Demokratieverteidiger erwarten dürfen.
Schon jetzt ließ von der Leyen daher durchsickern, daß der „Green Deal“ ja eigentlich gar nichts mit Klimarettung und Umweltschutz zu tun gehabt habe, sondern vor allem die „Konkurrenzfähigkeit“ der EU gegenüber USA und China steigern solle; auch in der Migrationspolitik wolle man nun – diesmal wirklich, ganz gewiß, ehrlich! – restriktiver vorgehen: Ob dieser in den deutschen Medien wieder einmal routiniert beschworene „Rechtsruck“ der EVP aber mehr ist als bloße Vorwahl-Rhetorik, wird sich erst noch zeigen müssen. Denn Ursula von der Leyen besaß auch 2019 ein überaus kurzes Gedächtnis, als die damals der EKR – faktisch also vor allem der PiS – versprochenen Positionen, nachdem der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte, geflissentlich „vergessen“ wurden.
Ob dieses Spiel sich aber nun mit der italienischen Regierungschefin wiederholen lässt, die oft genug gezeigt hat, daß sie mit allen politischen Wassern gewaschen ist und sich anders als ihre Warschauer Kollegen erfolgreich unentbehrlich gemacht hat? Freilich, die sich in den letzten Tagen abzeichnende innere Krise von EKR und ID dürfte in der kommenden Woche noch für viel Aufregung sorgen, von der die EVP durchaus profitieren könnte.
Diese innere Krise könnten die Staats- und Regierungschefs jedoch selbst vertagt haben, indem sie Meloni bei den letzten Gesprächen um die Spitzenposten de facto ausschlossen und damit die inneren Reihen wieder zementierten. Um einen Eklat zu vermeiden, versuchte man Meloni noch zu kontaktieren, doch die Italienerin ging nicht ans Telefon. Stattdessen äußerte sie sich im italienischen Parlament, bekräftigte, dass die EU eine „Gemeinschaft von Oligarchen“ sei. Die Union sei ein bürokratischer Riese, die Entscheidungen von Ideologie getrieben und gegen den Wählerwillen gerichtet. Man muss dem anfügen, dass sich selbst der EU-freundliche Staatspräsident Sergio Mattarella, der früher gegen die „Populisten“ agiert hatte, kritisch äußerte und sich auf die Seite Melonis stellte: Italien könne man nicht einfach übergehen, so Mattarella. Meloni votierte gegen Costa und Kallas und enthielt sich bei von der Leyen.
„Undemokratisch“, „Macht-Poker“, „Mauschelei“, „Korridor-Demokratie“, „Geschacher“, „Hinterzimmer-Diplomatie“ – solche Begriffe liest man gegenwärtig immer wieder, nicht nur von rechts, wo man sich nur allzu gerne gegenseitig in der Ablehnung der EU bestätigt, sondern auch von grünlinks: Da man diesmal (ein wenig) vom Spiel ausgeschlossen wurde, schmollt man verständlicherweise und beweist, daß man auch auf dieser Seite des Parlaments die Anti-EU-Rhetorik recht gut beherrscht.
Dabei sollte man (auf beiden Seiten) bedenken, daß Politik – in principio et nunc et semper – eben immer ein etwas unappetitliches Spiel von Geben und Nehmen darstellt, egal, welche nominelle Verfassungsform den Realitäten vorgeblendet ist: „Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden“, wußte schon Bismarck. Außerdem ist gerade von rechts zu bedenken, daß man die EU-Institutionen schlecht als undemokratisch kritisieren kann, wenn man sich gleichzeitig über ihre Tendenz zur schrittweisen Staatenbildung beklagt.
Denn von beiden kann man nur eines haben: Entweder, man möchte die EU tatsächlich „demokratisieren“ und Politik- wie Personalentscheidungen entsprechend durch das EU-Parlament oder andere Form der Direktwahlen legitimieren; dann schafft man aber zwangsläufig die Grundlage einer echten, legitimen und unmittelbaren Staatlichkeit, die man doch im Prinzip eben gerade ablehnt. Oder aber, man verfolgt das ideal von einem „Europa der (souveränen) Vaterländer“, das also wesentlich auf intergouvernementalen Absprachen beruht – dann hat man aber eben genau das, was gegenwärtig im Kampf um die Spitzenpositionen kritisiert wird: nämlich das „Geschacher“, welche Politiker in Anbetracht von 27 ehrgeizigen Mitgliedsstaaten mit den wenigen unerläßlichen Mandaten betraut werden, die zur tagtäglichen Geschäftsführung eben dazugehören.
Gegenwärtig steckt die Europäische Union – aus gutem Grund – halbwegs in der Mitte zwischen diesen beiden Polen fest, wie die Nominationsprozedur der neuen Kommission gerade wieder einmal zeigt: Sie ist mehr als ein Staatenbund, aber weniger als ein Bundesstaat. Die Frage ist nur, wie lange sie es sich leisten kann, in diesem für alle ebenso unbefriedigenden wie letztlich akzeptablen Zustand (das, was man gemeinhin als „belgischen Kompromiß“ bezeichnet) zu verbleiben, wo sich nicht nur die Stellung Europas in der Welt, sondern eben auch seine innere Stabilität erheblich verschlechtert hat und endlich echte Entscheidungen gefragt sind. Und natürlich, ob man Personen wie der neuen Trias an der Spitze der EU eine solche Wende überhaupt zutrauen kann …