Noch nie hatte es Donald Tusk mit der Umsetzung eines Wahlversprechens so eilig. Und noch nie wurden in Polen nach 1989 Machtkorrektive wie Rechtsstaatlichkeit und Medienvielfalt so schnell um ihre Wirksamkeit gebracht. Am 20. Dezember spielten sich in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Warschau Szenen ab, die an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte gemahnen.
Die brachiale Gewalt, mit der die neue Equipe die Büroräume des polnischen Staatsfernsehens TVP und des Polskie Radio erstürmte, ist in eine zeithistorische Erfahrung eingebettet, die an den 13. Dezember 1981 erinnert. Acht Jahre vor dem endgültigen Systemzusammenbruch übernahm das Militär die Macht in Polen. An jenem düsteren Sonntag war ich zwei Jahre alt und meine große Schwester wunderte sich, warum die allwöchentliche Kindersendung „Teleranek“ ausblieb. Stattdessen erschien auf dem Bildschirm der kommunistische Armeechef Wojciech Jaruzelski, der in einer für uns unverständlichen Sprache das Kriegsrecht ausrief. Es folgten bittere Jahre der Unterdrückung und des Freiheitskampfes im Untergrund.
Quo vadis, Polska
Am 13. Dezember 2023 wiederum wurde eine Regierungskoalition vereidigt, die mit Ministern gespickt ist, für die sich die frühere Systemnähe immer noch auszahlt. Interessant: Auch diesmal wurde der reguläre Fernsehbetrieb eingestellt. Millionen Polen, die auf die Nachrichtensendung „Teleexpress“ warteten, mussten sich mit einem eintönigen „Bildschirmschoner“ begnügen. Zwei Stunden später, zur besten Sendezeit, wurde ein zwar zivil gekleideter, jedoch altbekannter Haltungsjournalist eingeblendet, der statt der täglichen Hauptausgabe der „Wiadomości“ eine „neue Ära des Staatsfernsehens“ versprach.
Bereits zuvor wurden die Sender TVP Info und TVP World vom Netz genommen. Insbesondere der internationale Sender TVP World galt als eine unabhängige Plattform, die überzeugend über den Ukraine-Krieg berichtete und ebenso belarussischen Oppositionellen feste Sendetermine anbot. Auch die mit beachtlichem Aufwand produzierte Dokuserie „Reset“, deren Schöpfer die Schattenseiten der polnischen Russlandpolitik in den Jahren 2007 bis 2014 aufdeckten, verschwand innerhalb von wenigen Minuten nach der Erstürmung aus dem öffentlich-rechtlichen VoD-Angebot.
Nicht minder umstritten war die Übernahme der Zentrale des Polnischen Hörfunks. Meine Chefin Agnieszka Kamińska sowie die Leiter der Radioagentur IAR wurden aufgefordert, „unverzüglich“ ihre Büros zu verlassen. Einige Mitarbeiter wurden erst gar nicht auf das Gelände in der Aleja Niepodległości gelassen. Zum neuen Vorstandsvorsitzenden des Polskie Radio wurde eine Person ernannt, die einst Pressesprecher des jetzigen Kulturministers Bartłomiej Sienkiewicz war, der wiederum die erwähnten personellen „Säuberungen“ veranlasst hatte. Spätestens an dieser Stelle geraten seine hochtrabenden Worte über eine vermeintliche „Entpolitisierung der Medien“ zur Farce.
Der Urgroßvater des Ressortchefs, der uns allen bekannte Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz („Quo Vadis“), muss sich wohl derzeit beschämt im Grabe herumdrehen. Die neuen Akteure haben vom „Wiederaufbau“ und „notwendigen Reparaturen“ gesprochen. Es ist das gleiche verlogene Begriffsgefüge, derselbe semantische Trick, wie ihn bereits die Brüsseler Autokraten im Rahmen des pandemischen „Marshall-Plans“ angewandt haben. Man kann nicht etwas „reparieren“, was vorher gut funktionierte. Ganz im Gegenteil: Vor allem beim Polnischen Rundfunk hat die nun abgesetzte Führung in den letzten Jahren mit unermüdlichem Engagement das Medium weiterentwickelt. Der Assistent des polnischen Kulturministers darf sich (aus seiner Sicht) glücklich schätzen, ganz ohne persönlichen Aufwand das Radio in dieser Form übernommen zu haben.
Regieren per Dekret
Zahlreiche Journalisten im links-grün-gefärbten Westen wissen gar nicht, dass die feindliche Übernahme der Rundfunkanstalten sowie der Polnischen Presse-Agentur im rechtsfreien Raum ablief. Dabei sollte „Regieren per Dekret“ sogar für jene Demokratie-Puristen anrüchig sein, die Tusk zuletzt lanciert haben. Es stört sie aber offenbar nicht, dass er an den normalen Gesetzgebungsprozess vorbeiregiert. Mehr noch: Einige deutschsprachige Medien suggerierten vor einigen Tagen, der polnische Premierminister möge doch „die Autokraten mit autokratischen Mitteln verjagen“, um einen „Demokratisierungsprozess zu erzwingen“. Unabhängige Journalistenvereinigungen haben dies aufs Schärfste verurteilt. Selbst der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán glaubt, zugegebenermaßen etwas scherzhaft, dass eigentlich NATO-Truppen intervenieren müssten, wenn sich ähnliche Szenarien an der Donau abspielten.
Augenscheinlich hält Donald Tusk jedoch die eilig auf Servietten niedergeschriebenen Erlasse für rechtlich bindend, denn Präsident Andrzej Duda hält sich derzeit vornehm zurück. Der Staatschef sprach zwar von „Rechtsbruch“ und „Anarchie“, aber offenkundig sind ihm die Hände gebunden. Oder etwa doch nicht? „Wenn ich Staatspräsident wäre, würde ich diesen brutalen ideologischen Umbau der Medien nicht zulassen. Die Herrschaften in den Regierungsbänken geben nicht einmal vor, sich an die Verfassung zu halten“, sagte gestern der Oppositionsführer und PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński.
Brutale Praktiken
Es ist in der Tat so, dass Veränderungen in den öffentlich-rechtlichen Medien zunächst sämtliche legislative Hürden überwinden müssen, bevor sie in Kraft treten. Dieser Regierungsstil ist jedoch nicht ganz neu. Während Tusk in den Jahren 2007 bis 2014 an der Macht war, kam es wiederholt zu solcherlei „Übernahmen“. Im Jahr 2011 hatte er den Rauswurf mehrerer Journalisten veranlasst, darunter des Chefredakteurs der „Rzeczpospolita“ Paweł Lisicki (mehr dazu im Artikel: „Soros investiert in eine polnische Verlagsgruppe – Medieneinfluss auf die Wahl?“).
Im Jahr 2014, kurz vor Tusks politischer Flucht nach Brüssel, ließen vermummte Polizisten die Redaktion der Wochenzeitung „Wprost“ abriegeln und beschlagnahmten kommentarlos die Rechner der dort tätigen Journalisten. Die Redakteure gehörten keiner Partei an, lieferten lediglich Informationen, die der Tusk-Regierung unbequem waren. Eine Internetseite, die sich kritisch über den damaligen Präsidenten Bronisław Komorowski geäußert hatte, wurde abgeschaltet, deren Betreiber strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt.
Die brutalen Praktiken am 20. Dezember 2023 werden also nur jene Journalisten erstaunt zurücklassen, die schon damals auf dem linken Auge blind waren. Einen Verfassungsbruch erkennen sie nicht einmal dann, wenn Donald Tusk allen Ernstes den Chef der Polnischen Nationalbank Adam Glapiński absetzen will. Erst ein Brief der EZB-Chefin Christine Lagarde, in dem sie erklärt, man könne einen „unsympathischen Bankchef nicht einfach so seines Amtes entledigen“, ermunterte den Premier dazu, seine waghalsige Entscheidung zu überdenken. Allerdings macht Tusk nach wie vor Glapiński für die weltweit hohen Inflationsraten verantwortlich, sonst niemanden.
Ranghoher Besuch
Interessant sind die Reaktionen der EU-Institutionen auf die Rechtsbrüche in Polen. Statt das Problem beherzt anzupacken, ignorierten die EU-Kommission und das EU-Parlament die letzten Ereignisse in Warschau. Am Tag der gewaltsamen Übernahme der Rundfunkanstalten gastierte in der polnischen Hauptstadt Kommissionsvize Věra Jourová. Die für „Werte und Transparenz“ verantwortliche Beamtin traf sich mit dem neuen polnischen Justizminister Adam Bodnar, der sie in den Jahren zuvor regelrecht angefleht hatte, der konservativen PiS-Regierung ein Ende zu setzen. Der ranghohe Besuch aus Brüssel, der diesen schwarzen Tag für die Pressefreiheit unkommentiert ließ, war ein unmissverständliches Signal: „Donald, solange du mit uns klarkommst, darfst du auch mal die eigenen Gesetze brechen.“
Denn dass wir es hier faktisch mit einer gewaltsamen und verfassungswidrigen Gleichschaltung der polnischen Medien zu tun haben, ist nicht zu bezweifeln. Dies bestätigten die für diesen Arbeitsbereich zuständigen nationalen Rundfunkräte KRRiT und RMN. Doch auch von diesen Expertisen bleibt die neue Regierung unbeeindruckt. Innerhalb von wenigen Stunden verschwand die einzige Alternative zu den mächtigen Medienkonzernen, die den PO-Vorsitzenden sowieso seit Jahren unterstützen. Konservative Nischensender wie TV Republika oder wPolsce.pl können mit den kommerziellen regierungsnahen Sendern TVN oder Polsat nicht mithalten. Vor seinem Regierungsantritt am 13. Dezember wollte Tusk die Staatsmedien finanziell nicht mehr unterstützen. Jetzt aber, als er wieder die Kontrolle über sie erlangt hat, ließ er prompt verlauten, dass sich „bestimmt irgendwo einige Milliarden finden ließen“.
Intellektuelle Schranken
Der Einfluss der neuen Regierung auf die Berichterstattung war nach der rechtlosen Übernahme sofort spürbar. Wir erfuhren nichts darüber, dass der unlängst besiegelte EU-Migrationspakt die Schleusen für noch mehr illegale Migration öffnet. Wir erfuhren nicht, dass es nur für Ankommende aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von unter 20 Prozent Grenzverfahren geben wird. TVP berichtet nicht mehr darüber, dass alle anderen Flüchtlinge weiterverteilt und EU-Mitgliedsländer wie Polen zur Aufnahme oder zur Zahlung gezwungen werden. Nach der Ansicht des Krakauer Politologen Kazimierz Kik, der nun wirklich nicht der Sympathie für die PiS bezichtigt wird, könnte Tusks dominanter Einfluss auf die Medienöffentlichkeit zu einem regelrechten „Bürgerkrieg“ auswachsen.
Hatte denn die PiS vorher alles richtig gemacht? Natürlich nicht. Wenn man in jeder Hauptausgabe der Nachrichtensendung „Wiadomości“ den Oppositionsführer Tusk gefühlt zehn Mal „nur für Deutschland“ sagen lässt, so nimmt es nicht wunder, dass diese Information irgendwann ihre Wirkungskraft verliert (unabhängig davon, ob sie stimmt oder nicht). Das kleine Einmaleins der journalistischen Arbeit sollte man schon beherrschen, wenn man einen Job in den öffentlich-rechtlichen Medien übernimmt. Manch eine „intellektuelle Schranke“ oder dramatisierende Untermalung hätte vielleicht hin und wieder mal ausgiebiger überprüft werden müssen. Dies darf jedoch der neuen Regierung keinen Anlass geben, den gesamten legislativen Weg zu umgehen.
Nun ist es mehr als fraglich, dass Journalisten auch künftig in den polnischen Staatsmedien weiterhin ihre liberal-konservative Stimme erheben können. Es ist noch nicht zu spät. Der Kulturkampf um die Zukunft der polnischen Medien mutet allerdings düster an. Viele Kollegen können sich dem EU-freundlichen Meinungsdruck unter ihresgleichen selbst dann nur schwer widersetzen, wenn sie das wollten.
Deutschland darf indessen aufatmen: Die nunmehr linksliberal dominierte Medienlandschaft an der Weichsel passt nahtlos zu dem grün-linken Meinungsklima westlich der Oder. Obgleich diese Konsonanz in Berlin als völlig sachangemessen empfunden wird, wird sie einen analytischen Zugang zu der besonderen politischen Kultur Polens erschweren. Etwas Wichtiges lässt uns aber optimistisch in die Zukunft schauen: Die Freiheitssehnsucht der Polen sowie ihr ziviler Widerstand gegen jegliche Auswüchse der linken Autokratie sind im Dezember 2023 noch stärker als im Winter 1981.