2020 brachte einen Exodus aus den amerikanischen Innenstädten, der kaum über Nacht gekommen war. Die radikalen Einschränkungen des öffentlichen Lebens waren nur der letzte Tropfen, der das Fass des Überdrusses für viele Städter zum Überlaufen brachte. Es hatte keine Vorteile mehr, in der Innenstadt zu leben. Eigentlich gab es sogar massive Nachteile, seit die Unruhen des Sommers 2020 eine Tyrannis der wohldenkenden Fäusteschwinger (im Zeichen von „Black Lives Matter“) errichtete und die Kriminalitätsrate in die Höhe schnellen ließ. Der Zusammenhang wurde schon 2014 als „Ferguson-Effekt“ beschrieben: Massive Unruhen, die sich mit grundsätzlicher Kritik an der Polizei verbinden, sorgen für eine Überforderung und einen Rückzug der Beamten und öffnen so die Wege für alle Arten von Verbrechen, unter denen gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten gewöhnlich am meisten leiden.
Noch tiefer grundiert war der Exodus durch einen die letzten Jahre dauernden Prozess, der in den Staaten wie im alten Europa die Innenstädte ihres wirtschaftlichen Lebens beraubte: Die „Amazonisierung“ des Lebens bedeutete den Tod vieler Einzelhändler und ihrer Geschäfte, von denen in früheren Zeiten die Lebendigkeit eines Zentrums und ein Stück sozialer Kontrolle ausgegangen war.
Insofern kehrt ein Effekt jetzt zu seinem Erzeuger zurück, wenn das Versandunternehmen Amazon nun selbst aus einer Innenstadt zurückweicht, wie Newsweek mit Verweis auf KOMO News berichtet. An der Firmenzentrale in Seattle verkündete der Bezos-Konzern, dass Mitarbeiter und Bürokräfte vorerst von zu Hause aus arbeiten sollen. Langfristig wird man ihnen wohl andere Büros in weniger zentraler Lage zuweisen. Der Grund: Die Gewaltkriminalität im Zentrum der Stadt hat einen neuen Höchstwert erreicht. Am 2. März wurde der 15-jährige Michael del Bianco an der Kreuzung von 3rd Avenue und Pike Street erschossen. Ganz in der Nähe liegen auch Büros des Versandriesen. Die Polizei errichtete zeitweise eine mobile Wache an der Kreuzung und verstärkte die Streifen.
2020 wurden Teile des Zentrums zur polizeifreien Zone erklärt
Die Stadt am Lake Washington, in deren Nähe sich nach wie vor die Boeing-Werke befinden, bietet heute ein Bild des Jammers, wie auch der linke Guardian nicht verhehlt: Graffiti-beschmierte Altbauten mit Sperrholzbrettern statt Fenstern stehen offenbar schon seit Langem leer. Obdachlose hausen in den Grünflächen und rauchen auf offener Straße Fentanyl. „Dope Slope“ (deutsch etwa „Drogenhang“) nennt sich die bekannteste der wilden Obdachlosensiedlungen, die die einst berühmten Parks der Stadt verunstalten.
Die Corona-Maßnahmen sind nicht unschuldig an dem Zustand: Plötzlich gab es viel weniger Plätze in den städtischen Nachtunterkünften für Obdachlose. Daneben schoss die Gewaltkriminalität in die Höhe. Verletzte und Tote durch Messerangriffe und Schusswaffen sind an der Tagesordnung. Im Zuge der Unruhen vom Sommer 2020 wurde ein Teil der Stadt von Aktivisten besetzt: Auf dem Capitol Hill wurde eine „autonome Zone“ (Capitol Hill Occupied Zone, CHAZ) errichtet, nachdem die örtliche Polizeistation aufgegeben worden war. Die autonome Zone wurde bald von Gewaltverbrechen heimgesucht. Nach einem knappen Monat konnte sie geräumt werden. Das Geschehen zeigte allerdings, welche Risse im Stadtgewebe existierten.
Die Kriminalität ist in den Vereinigten Staaten derzeit in einem stetigen Anstieg begriffen. Die gewaltsamen Todesfälle stiegen 2021 um sieben Prozent. Die Finanztechnologiefirma MoneyGeek hat versucht, die wirtschaftlichen Kosten der Kriminalität insgesamt (also Eigentums- ebenso wie Gewaltverbrechen) zu ermitteln, und errechnete für das Jahr 2020 Kosten in Höhe von 203 Milliarden US-Dollar. Diese Kriminalitätskosten stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 15 Prozent. In Chicago wurde eine Steigerung von 29 Prozent ermittelt, in New Orleans lag sie bei 40 Prozent, in Seattle bei 42 Prozent.
Es fällt auf, dass die nach dieser Berechnungsmethode – wie auch nach anderen Methoden – unsichersten Städte der USA meist im Mittleren Westen liegen, in den sogenannten Fly-Over-States, die nicht von den wirtschaftlichen Vorteilen der beiden Küsten profitieren. Das bedeutet aber nicht, dass Küstenstädte immer im Vorteil sein müssen, wie New Orleans und Seattle zeigen. In New Orleans ist die Kriminalität nicht im Sinken begriffen. Einige haben auch hier auf den möglichen Zusammenhang mit den kleineren Haftstrafen hingewiesen, die auch hier in der Folge der BLM-Proteste zurückgingen.
Kriminaltourismus in Kalifornien
In Kalifornien gab es in den Neunzigerjahren schon einmal deutlich mehr gewaltsame Tötungen, aber zuletzt stieg die Rate scharf an, um 50 Prozent im Jahr 2021 im Vergleich zum Prä-Pandemie-Jahr 2019. Ähnliche Steigerungsraten gab es aber bei den Eigentumsdelikten wie Raub, Einbruch, Autodiebstahl. Eines der neueren Probleme in diesem Bereich hört auf den Namen Kriminaltourismus, „crime tourism“. Südamerikanische Einbrecherbanden machen den Sonnenstaat unsicher, nachdem sie sich zuvor im Internet unkompliziert mit Touristenvisa versorgt haben. Nun sind Einbruchsraubzüge ausländischer Banden nichts Ungewöhnliches und aus vielen Ländern bekannt. Aber dass die Kriminellen aus einem benachbarten Kontinent einfliegen und dabei offizielle Einreisepapiere nutzen, scheint neu und besonders. Auch das Wall Street Journal fragt sich, ob Kalifornien es den Kriminellen nicht zu leicht macht.
Im Hintergrund steht auch die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Kriminalbehörden, einerseits der Polizei, doch vor allem der Staatsanwaltschaften, die – sei es aus Überlastung, sei es aus politischer Absicht – die Verfolgungsgrenzen bei Eigentumsdelikten angehoben haben. Einige Ex-Polizisten verraten in Interviews, dass ihre Kollegen häufig „nicht das Gefühl haben, dass sich eine Festnahme lohnt“, da die Verdächtigen ohnehin nicht angeklagt werden. In San Francisco wird Diebstahl heute erst ab 950 Dollar (früher 400 Dollar) als schwere Straftat („felony“) eingestuft, die mit mehr als einem Jahr Haft zu bestrafen ist.
Man erinnert sich, dass in vielen Großstädten „progressive“ Staatsanwälte – häufig mit direkter Unterstützung durch linke Netzwerke um den Investor-Philanthropen George Soros – gewählt wurden. Das betraf zuletzt auch das ländliche Amerika. Aber auch in den großen Städten warf Soros sein Geld in den Ring, um linke Mehrheiten aufzupolstern.
Räumt die neue Staatsanwältin in Seattle auf?
Im November wurde nun die Republikanerin Ann Davison zur Staatsanwältin für Seattle gewählt. Sie konnte sich unter anderem auch deshalb gegen ihre linke Konkurrentin durchsetzen, weil diese am Vorhaben einer sukzessiven „Abschaffung“ der Polizei festhielt. Seattle hat grundsätzlich eine linke, demokratische Mehrheit. Davison will nun versuchen, gesammelte Kleindelikte als „felonies“ (schwere Straftaten) zu verfolgen und allgemein Wege aus dem „Kreislauf des Verbrechens“ zu suchen. Vor allem muss sie aber wohl erst einmal in der eigenen Behörde aufräumen, wie die Seattle Times berichtet. In den alten Akten fand sie Vermerke zu 118 Personen, denen insgesamt 2.400 Vergehen zur Last gelegt werden könnten. Das Verhältnis von etwa 20 Vergehen pro Person, wobei alkoholisiertes und anderweitig benebeltes Autofahren sowie häusliche Gewalt nicht einmal berücksichtigt sind, dürfte sehr ernsthafte Strafverfahren begründen.
Amerika gilt in vielem als Blick in unsere Zukunft. Man möchte hoffen, dass es in diesem Fall nicht so ist. Eine gewisse Abkehr von den Plänen zu „Abschaffung“ der Polizei lässt sich immerhin feststellen, auch in Joe Bidens Rede zum „State of the Union“ von Anfang März, wo er unter dem Applaus von Delegierten aus beiden Lagern sagte: „Die Lösung ist nicht, der Polizei Mittel zu entziehen. Die Lösung ist, die Polizei zu finanzieren.“ Die amerikanische Linke schlägt nun ein Sowohl-als-auch vor. So meint die New York Times neuerdings wieder, dass man sich nicht entscheiden müsse zwischen Sicherheit und „equal justice“, zwischen Polizeiarbeit und „anderen sozialen Diensten“. Merkwürdig bleibt, dass man Gerechtigkeit nicht von der Polizei erwartet, sondern auslagern will an andere „Dienste“. Etwas Ähnliches hatte man auch Biden in seine Rede vor den beiden Kongresskammern hineingeschrieben.
Der sich so zeigende neu-amerikanische Ansatz ist, dass sich eine ernstzunehmende Kriminalitätsrate vermeiden lassen soll, wenn man Armut und Chancenarmut – zumal unter bestimmten ethnischen Randgruppen – vermindert. Prävention statt Repression. Aber es bleibt die Frage, ob man wirklich alle Probleme einer Gesellschaft mit Geld reparieren kann.