Ein Volk bestimmt per Referendum, dass rund zwei Drittel des Nachbarlandes annektiert werden sollen. So könnte man überspitzt den Vorgang bezeichnen, der sich gestern in Venezuela abgespielt hat. Staatschef Nicolás Maduro feierte den Ausgang. 96 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf den Vorschlag, dass ein neuer Bundesstaat Guayana Esequiba geschaffen, und den Bürgern auf diesem Gebiet die venezolanische Staatsbürgerschaft gewährt werden solle.
Man könnte das als eine absurde Posse abkanzeln, insbesondere angesichts des wirtschaftlichen Zustands Venezuelas, das mit seiner Hyperinflation, seinen Güterengpässen und der Flucht des Staatsvolkes in kürzester Zeit zum Gespött Lateinamerikas geworden ist. Damit aber nicht genug: Denn ein Sturz Maduros, auch mit US-Hilfe, ist seit Jahren ein Gedankenspiel, das von den Garantiemächten Russland und China nicht zuletzt mit dem Argument des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Ablehnung der äußeren Einflussnahme begründet wurde. Nun beschließt Venezuela nonchalant, dass zwei Drittel des Nachbarlandes eigentlich ihm zustehe.
Venezuela sieht sich bei der Grenzziehung aus dem Jahr 1899 betrogen, bei der die heutigen Grenzen zwischen Venezuela und Britisch-Guayana gezogen wurden. 1966 zeigte sich Großbritannien bereit, über die Grenzen neu zu verhandeln – wenige Monate, bevor Guyana unabhängig wurde. Dass es aber bei diesen Verhandlungen um die „Maximallösung“ gegangen wäre, nämlich eine Abtretung sämtlicher Gebiete Guayanas westlich des Flusses Essequibo, kann man als durchaus fraglich ansehen.
Zum historischen Hintergrund: Wie die meisten Grenzen in Südamerika waren auch die zwischen Venezuela und Guayana nur lose definiert. Eine effektive Kontrolle besaßen weder die Spanier noch die Niederländer als Vorgängerkolonialmächte in der Region. Erst nach der Unabhängigkeit Venezuelas und der Abtretung Guayanas an Großbritannien hatte Letzteres ein Interesse an der genauen Grenzvermessung. 1835 legte Robert Schomburgk die nach ihm benannte Grenzlinie fest, die Venezuela 1841 bereits als ungültig ansah, da es sich auf die nominellen Grenzen des spanischen Kolonialreiches bezog. Es waren allerdings die Briten, denen es gelang, das Gebiet dann nicht nur nominell, sondern auch de facto zu beherrschen. Venezuela drängte die USA dazu, als neutrale Macht eine Kommission einzusetzen, um über den Grenzverlauf zu entscheiden. Die USA hatten aufgrund der von ihnen verhängten Monroe-Doktrin kein Interesse daran, dass eine europäische Macht Einfluss in Amerika errang. Zur Überraschung kamen aber auch die Amerikaner zum Schluss, dass die seit 1835 anerkannte – und bis heute gültige – Grenze die richtige ist. Venezuela versucht demnach nicht nur eine angeblich „willkürliche“ Grenze von 1899, sondern bereits eine von 1835 zu revidieren.
Zu den Fragen, die bei dem Referendum gestellt wurden, gehörte auch die Ablehnung des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen (IGH) in der Angelegenheit. Die vierte Frage zeigt dann, worum es wirklich geht: nämlich die Ablehnung, dass Guayana „unilateral“ die Gewässer vor Essequibo benutzen dürfte. Denn genau dort befinden sich die Ölvorkommen, die der Exxon-Konzern 2015 entdeckt hat. Das ist nicht ohne historische Ironie, denn Venezuelas Interesse an dem Gebiet im 19. Jahrhundert rührte auch daher, dass westlich des Essequibo Gold entdeckt worden war. Das Referendum ist zwar nicht bindend, da es Maduro aber selbst angeheizt hat, wäre es verwunderlich, wollte er aus dem Ergebnis kein Kapital schlagen wollen.
Man muss das Referendum daher in mehrfacher Hinsicht interpretieren. Da ist zuerst einmal das Manöver der Ablenkung und Zusammenschweißung der venezolanischen Bevölkerung vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024. Da ist zum anderen die Möglichkeit, selbst die Hände auf die Ölquellen zu legen. Drittens ist dies eine aus der Perspektive Moskaus und Pekings optimale Möglichkeit, um den US-Energiekonzern Bedrängnis zu bringen – und damit die Energieversorgung des Erzrivalen. Viertens zeigt es auf, dass die oftmals kolportierte Propaganda Peking-Moskaus, die Einmischung in die interne Angelegenheit anderer Staaten sei lediglich US-Sache, während man ja selbst der „Alle unter einem Himmel“-Doktrin angehöre, nichts weiter als Märchen sind.
Sowohl in Venezuela als auch in Bolivien und Brasilien haben China und Russland ihre Interessen in der Vergangenheit durchgesetzt, obwohl hier wohl kaum von einem natürlichen „Großraum“ die Rede sein kann, der angestammte russische oder chinesische Einflusssphäre wäre. Dass ein zweihundert Jahre alter Konflikt, den die Weltgeschichte bis dato vergessen hatte, plötzlich aufflackert, ist wohl eher ein Beleg dafür, dass nach der Erosion der US-Macht keine bessere, sondern eine chaotischere Weltordnung anbricht; es lösen lediglich neue die alten Imperien ab.