Am kommenden Donnerstag und Freitag findet der Gipfel der EU-27 statt. Fest erwartet wird die offizielle Nominierung Ursula von der Leyens als Präsidentin der Kommission. Doch einer will das verhindern: Der Belgier Frédéric Baldan hat im April 2023 ein Strafrechtsverfahren gegen von der Leyen angestrengt. Dazu gab es eine erste Anhörung am 17. Mai vor dem Strafgericht in Lüttich. Die Vertreter von der Leyens forderten die Einstellung, das ging nicht in Ordnung. Das weitere Verfahren wurde auf den Dezember verschoben und bleibt damit in der Schwebe.
Dieser unbefriedigende Zustand hat Baldan dazu veranlasst, nun einen Eilantrag gegen die Nominierung von der Leyens als Kommissionspräsidentin zu stellen. Laut Baldans erstem Strafantrag hat von der Leyen sich im Pfizergate-Skandal der „Anmaßung von Titeln und Ämtern“, „illegaler Interessenvertretung und Korruption“ und der „Vernichtung öffentlicher Dokumente“ schuldig gemacht. Der Pfizerdeal über 1,8 Milliarden Dosen war der letzte von drei mRNA-Verträgen der Kommission mit dem US-Pharmariesen. Fällig wurden damit letztlich 35 Milliarden Euro von der EU an Pfizer, zu zahlen von den Mitgliedsstaaten. Es ist der teuerste je von der EU abgeschlossene Vertrag.
Ohne einen Auftrag der Mitgliedsländer, und obwohl es ein offizielles Verhandlerteam gab (daher der Vorwurf der Amtsanmaßung), hatte UvdL die (immer noch geheimen) mRNA-Verträge mit Pfizer-Vorstand Albert Bourla ausgehandelt, und zwar im wesentlichen per SMS. Dieselben habe sie dann entweder zerstört oder enthalte sie mutwillig den Behörden vor, was beides gegen die Verhaltensregeln für EU-Kommissare verstoße. Damit glaubt Baldan den Knoten ausreichend geschürzt zu haben für einen in seinem Sinne positiven Ausgang des Eilantrags.
Ob diese Gründe ausreichen und damit eine Nominierung von der Leyens durch EVP und EU-Rat unmöglich machen, muss nun eine Brüsseler Richterin entscheiden. Ihr Urteil will sie tatsächlich auch bis zum kommenden Donnerstag verkünden – also noch rechtzeitig vor dem großen EU-Gipfel. Aber ist überhaupt vorstellbar, dass ein kleines Brüsseler Gericht dem großen Rat in die Tagesordnung hineinredet? Eher nicht. Aber eigentlich müsste es so sein.
Seit dem Skandal um die Wissenschaftskommissarin Édith Cresson, die 1999 zum Rücktritt der gesamten Kommission Santer führte, gibt es einen ethischen Verhaltenskodex für Kommissare, dem auch Ursula von der Leyen als „erste Kommissarin“ unterliegt. 1999 war die Kommission Santer im Grunde wegen einer kleinen Vetternwirtschaftsaffäre Cressons kollektiv zurückgetreten, nachdem das Parlament mit der Abwahl durch ein Misstrauensvotum gedroht hatte. Pfizer- oder Ursulagate führten nicht zu einer Entwicklung: Das Parlament drohte mit nichts, sprach von der Leyen vielmehr wiederholt frei, indem die Mehrheitsfraktionen weder eine Veröffentlichung der mRNA-Verträge noch der Von-der-Leyen-SMS verlangte. Und so sah sich auch die Kommission zu nichts gezwungen, kein Rücktritt, kein Garnichts, dafür viel Weiterso.
Erste Klagen gegen einen amtierenden Kommissionspräsidenten
Mit seinem neuen Antrag wendet sich Baldan aber nicht nur gegen die bevorstehende Benennung von der Leyens durch die Staats- und Regierungschefs der EU, die bei dem Gipfel nächste Woche erwartet wird, sondern auch gegen die zuückliegende Nominierung durch die EVP, den EU-Arm von CDU und CSU. Beide Nominierungen sind laut Baldans Antrag widerrechtlich.
Schon die „Nominierung von Frau von der Leyen durch die EVP für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission“ sei „ein Machtmissbrauch“ gewesen. Sie erfülle nämlich „nicht die Bedingungen, die in den Europäischen Verträgen, dem Verhaltenskodex für die Mitglieder der Europäischen Kommission und sogar im Verhaltenskodex ihrer eigenen Partei für dieses Amt festgelegt sind“. Die Nominierung durch die EVP war somit nicht möglich. Das sind ganz neue Maßstäbe für Politikerkarrieren.
In der Tat sind Baldans Klagen die ersten gegen eine amtierende Kommissionspräsidentin in der Geschichte. Eigentlich dürften sie gar nicht notwendig geworden sein, wie auch der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn (Die Partei) glaubt: „Wären die Mechanismen der institutionellen und interinstitutionellen Selbstkontrolle in der EU auch nur halbwegs intakt, wäre es zu keiner der von Frédéric Baldan geführten Klagen je gekommen.“ Für Sonneborn hätten Kommission, Rat und Parlament übereinkommen müssen, von der Leyen abzusetzen. Baldan versuche nun, die „Fehlfunktion der EU-Institutionen nun notdürftig“ mit juristischen Mitteln „zu reparieren“. Das sei die „Notwehr eines EU-Bürgers gegen das Versagen dieser Institutionen“.
Von der Leyen: Höchste Beamtin der EU
Dass die Nominierung von der Leyens durch die EVP ein Machtmissbrauch sei, das wisse auch die EVP sehr gut, sagt Baldan im Interview mit Martin Sonneborn: „Weil sie wissen, dass das im Grunde eine Verletzung der europäischen Verträge ist. Es gibt eine Verletzung des Verhaltenskodexes. Und was Frau von der Leyen getan hat, ist nicht einmal mit den Statuten ihrer eigenen Partei vereinbar.“ Offensichtlich hätten bestimmte Personen beschlossen, gegen den Rechtsstaat, gegen die europäischen Verträge, gegen ihre eigenen Parteistatuten und alle ethischen und Verhaltensregeln der EU zu verstoßen. Gemeint sind damit fürs erste die EVP-Granden wie etwa Parteichef Manfred Weber (CSU), aber auch alle, die der Nominierung in Berlin Applaus spendeten.
Vor zwei Wochen hat Baldan förmliche Aufforderungen zur Rücknahme der Benennung von der Leyens an Ratspräsident Charles Michel, die Kommissarin für Werte und Transparenz Věra Jourová und den EVP-Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) gerichtet. Darauf folgte, wie zu erwarten, nichts. Aber die EVP musste am vergangenen Freitag auf einer öffentlichen Anhörung vor dem Brüsseler Gericht erscheinen.
Baldan stellt zudem klar, dass Ursula von der Leyen keine gewählte Politikerin sei und daher nicht von der Immunität demokratisch gewählter Abgeordneter profitieren kann. Sie sei schlicht eine öffentliche Beamtin, eine Technokratin, die nach der letzten EU-Wahl in ihr Amt (Präsidentin der Kommission) eingesetzt wurde und nun auf eine Vertragsverlängerung hofft. Martin Sonneborn stellt Baldan als „Lobbyisten der Bürger“ vor. Seinen offiziellen Lobby-Status im Straßburg-Brüsseler Parlament hat Baldan übrigens im Zuge seiner Klagen verloren – natürlich rein zufällig.
EU-Staatsanwälte sollen den Fall still beerdigen
Noch wichtiger ist allerdings, dass auch von der Leyen – aus Baldans Sicht – gegen die EU-Grundrechtecharta, mehrere EU-Verträge und den Verhaltenskodex für Kommissare verstoßen hat, und das mache ihre Wiederbenennung als Kommissionspräsidentin im Grunde unmöglich. So gibt es einen „Verhaltenskodex für die Mitglieder der Europäischen Kommission“, laut dem die EU-Kommissare „in ihrem Verhalten und bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben“ vollkommene „Unabhängigkeit, Integrität und Würde sowie Loyalität und Diskretion“ wahren müssen. „Sie genügen den höchsten Ansprüchen im Hinblick auf ethisches Verhalten“, heißt es zudem. Ihr Verhalten und ihre Äußerungen dürfen „ihrer Unabhängigkeit, ihrer Integrität und der Würde ihres Amtes“ in keiner Form abträglich sein. Auch jede Situation, „die zu einem Interessenkonflikt führen kann oder die bei vernünftiger Betrachtung als eine solche Situation wahrgenommen werden kann“, müssen die EU-Amtsträger vermeiden.
Und sogar die EVP hat sich doch tatsächlich zu „Unabhängigkeit“ und „Unbestechlichkeit“ ihrer Politiker bekannt: „Diejenigen, die Macht ausüben, müssen an einen höheren moralischen Standard gebunden sein. Politiker müssen die Rechtsstaatlichkeit respektieren.“ Außerdem dürfe es „keine Verschwendung öffentlicher Mittel geben“. Jede „Situation, die auf Bestechung, Korruption oder unzulässige Einflussnahme hindeuten könnte“, muss gemäß EVP-Statuten unterlassen werden. Baldan schloss messerscharf, dass weder der Rat noch die EVP eine Person wie Ursula von der Leyen zum praktisch höchsten Amt in der EU vorschlagen dürfen.
Übrigens: Die Einmischung der EU-Staatsanwaltschaft (EuStA oder EPPO) in Baldans erste Klage sieht Sonneborn wohl richtig als Ablenkung und mögliche Frustration des Verfahrens, das in eine Sackgasse geführt werden soll (TE berichtete bereits in diesem Sinn).
Die EuStA untersteht ja dem EU-Justizkommissar, dem Belgier Didier Reynders, und der wiederum ist von der Leyen verpflichtet. Eine unabhängige Entscheidung – wenn überhaupt – ist daher nur vom Lütticher Gericht zu erwarten, nicht aber von der EuStA in Zusammenarbeit mit dem noch nicht einmal eingeschalteten Europäischen Gerichtshof (EuGH). Auch eine Anfrage der EuStA an die Kommission nach den verschwundenen Von-der-Leyen-SMS ist nicht bekannt geworden. Alles deutet darauf hin: Die EuStA-Ermittlungen sollen ins Leere laufen.