Die Wiederwahl zur Kommissionspräsidentin sei sicher. Er erwarte „nichts anderes als die Nominierung von Ursula von der Leyen“, sagt EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn. Auch sonst mehren sich die Signale. So möchte Bundeskanzler Olaf Scholz, dessen SPD den europäischen Sozialisten angehört, ebenfalls der Deutschen den Rücken stärken. Auch Emmanuel Macron tendiere dazu, von der Leyen zu stützen. Am Sonntagabend ließ die EVP zudem verkünden, mit ihren traditionellen Partnern, also den Sozialisten und den Liberalen von Renew, zusammenzuarbeiten. Die Option, mit der nationalkonservativen EKR zu verhandeln, fand keine Erwähnung. Nach der EU-Wahl ist also vor der EU-Wahl?
Überdies hat die EVP zwar an Sitzen im EU-Parlament gewonnen. Doch insgesamt musste die „Koalition Ursula“, die sie vor fünf Jahren an die Macht brachte, Federn lassen. Abgesehen von der EVP ist es eine Formation der Wahlverlierer – was noch umso mehr zuträfe, sollte man zusätzliche Stimmen bei den gerupften Grünen suchen.
In Deutschland besteht der Eindruck, bei der EVP handele es sich lediglich um einen Anhang der CDU/CSU. Doch in Wirklichkeit hat die EVP ihre Stärke im Jahr 2024 nicht dem mediokren Ergebnis der Union, sondern den zahlreichen Schwesterparteien in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu verdanken. Gerade in diesem neuen EVP-Block ist aber die Kritik am „Green Deal“ am größten. Er wird als deutsche Schöpfung verstanden.
Selbst ein Donald Tusk hat – trotz aller Freude an der Erstickung der polnischen Opposition mit Schützenhilfe Brüssels – nur wenig Interesse am Verbrennerverbot. Ohne gewaltige Geldverschiebungen wäre die Umstellung auf den E-Betrieb für die meisten Bürger in den süd- und osteuropäischen Ländern gar nicht zu stemmen. Überdies stehen die meisten Schwesterparteien eher rechts von der CDU und haben nur wenig Verständnis für die „Vergrünung“ des großen deutschen Bruders.
Heißt: In anderen europäischen Ländern herrscht keine Allparteienkoalition oder eine Annäherung an Grün, sondern eine Orientierung nach rechts vor. Mit von der Leyen oder gar einer „Mitwahl“ der Grünen im EU-Parlament würde also nach Ansicht vieler EVPler, die den Green Deal abwickeln oder wenigstens einschränken wollen, genau das falsche Zeichen gesetzt. Von der Leyen sieht sich demnach von Freunden in der eigenen Partei umzingelt, die ihr eigentlich das Schlechteste wünschen. Der Name des griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis fällt immer wieder als möglicher Alternativkandidat.
Doch auch in den anderen beiden Fraktionen, die man als „traditionelle Partner“ ansieht, steht die Front nicht ansatzweise so fest, wie man es immer behauptet. Bei der letzten EU-Wahl hat Kanzlerin Angela Merkel ihre Wunschkandidatin durchgedrückt. Heute sitzt dort ein geschwächter Kanzler Olaf Scholz, der höchstens deswegen Interesse an der Ex-Verteidigungsministerin hat, weil sie Ballast für die EVP darstellt. Trotz Wahlkatsche für die Sozialisten wollen diese Katarina Barley als Präsidentin des Europäischen Parlamentes sehen.
Deswegen kann von der Leyen nicht auf alle Stimmen aus der eigenen Fraktion zählen – ebenso wenig, wie sie bei der Wahl im EU-Parlament auf alle Stimmen von den Liberalen und Linken hoffen kann. Denn zwar nominieren die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsländer den Kommissionspräsidenten. Abgesegnet werden muss er dennoch vom EU-Parlament. Letztes Mal hat von der Leyen mit nur neun Stimmen Mehrheit gewonnen. Heute ist nicht nur ihre eigene Koalition kleiner geworden. Auch Stimmen von außen, etwa von den Basislinken des italienischen Movimento 5 Stelle oder der polnischen PiS sind dieses Mal nicht zu erwarten.
Bleiben die Grünen als Mehrheitsbeschaffer. Das wäre ganz im Interesse der Sozialisten, um die EVP auf Jahre an den sozial-ökologischen Kurs festzuketten und den Green Deal nicht zu verwässern. Es widerspräche jedoch nicht nur dem Wählervotum, das diesen Kurs abgestraft hat, sondern auch der möglichen zukünftigen strategischen Ausrichtung der EVP, in der die deutsche Position von Wahl zu Wahl eher abnimmt. Zudem wäre es bereits jetzt möglich, das Projekt „Green Deal“ bei einer offenen Wahl abzuwickeln, denn die Mitte-Rechtsparteien und Unabhängigen kämen bereits auf eine Mehrheit, um jeden Vorstoß der Linken abzuwehren.
Prinzipiell sind die Fraktionslosen im EU-Parlament ein Unsicherheitsfaktor: Zu ihnen gehört derzeit nicht nur der ungarische Fidesz, sondern auch die VVD des kommissarisch amtierenden niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte. Letztere wurde wegen ihrer Zusammenarbeit mit Geert Wilders ausgeschlossen. Die der Bauernbewegung nahestehende BoerBurgerBeweging, die ebenfalls mit Wilders koaliert, hat indes angekündigt, sich der EVP anzuschließen – was nur überrascht, wenn man davon ausgeht, dass die EVP ein reiner Von-der-Leyen-Wahlverein ist.
Das kann man als Demütigung auffassen – und als Platzzuweisung. Von der Leyen wird in ihrer zweiten Amtszeit deutlich mehr Druck ausgesetzt sein. Vielleicht spekulieren auch schon einige der sie umzingelnden Freunde darauf, sie auch im EU-Parlament beim Wahlgang durchfallen zu lassen, um dann doch noch einen anderen Kandidaten aus dem Hut zu zaubern. Entscheidend wird dabei nicht nur das Treffen am Montag sein.
Denn bereits am morgigen Donnerstag treffen sich einige der europäischen Regierungschefs beim G7-Gipfel in Italien. Gastgeberin: Giorgia Meloni. Die italienische Ministerpräsidentin gehört zu den wenigen Gewinnern der EU-Wahl, die auch ein Amt bekleiden. Sie wird mit dem schwächelnden deutschen Kanzler und dem taumelnden französischen Staatspräsidenten ebenfalls darüber reden, wie die italienischen Vorstellungen aussehen. Ihr fällt die angenehme Rolle der Königsmacherin zu. In Rom macht man bekanntlich die wichtigsten Geschäfte beim Mittagessen. Und ein paar Brötchen dürfte auch Frau von der Leyen abbekommen.