Tichys Einblick
Parteienlandschaft im Wandel?

Der Schmetterlingseffekt in der ungarischen Politik

Ungarns Innenpolitik ist derzeit spannender als jeder Psychothriller. Eine unscheinbare Begebenheit vor langer Zeit generiert derzeit eine Krise nach der anderen. Wo wird die Kettenreaktion aufhören?

IMAGO / Pond5 Images

Der „Schmetterlingseffekt“, ein Begriff aus der Chaostheorie, scheint derzeit die ungarische Innenpolitik zu bestimmen. Er besagt, das winzige Variationen an einer Stelle unvorstellbare Konsequenzen an ganz anderer Stelle auslösen können: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien könne einen Tornado in Texas auslösen.

Vor vielen Jahren förderte der damalige Minister für Humanressourcen in Ungarn, Zoltán Balog, eine talentierte junge Frau, die zunächst Staatssekretärin bei ihm wurde, dann Ministerin, und letztlich Staatspräsidentin: Katalin Novák. Die von ihr gestaltete ungarische Familienpolitik wurde auch international gepriesen, als Staatschefin setzte sie unabhängige Akzente, selbst heftige Orbán-Kritiker ließen sie zumeist in Ruhe. Mit Balog, ihrem „Entdecker“, verband sie über all die Jahre ein besonderes Vertrauensverhältnis, geprägt von Dankbarkeit und persönlicher Loyalität.

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Das wurde ihr zum Verhängnis, als Balog sie dazu bewog, einem verurteilten Beihelfer in einem Pädophilie-Fall Gnade zu gewähren. Der Mann war ein bis dahin allseits geachtetes Mitglied der reformierten Kirche gewesen, deren Oberhaupt Balog zu dem Zeitpunkt war. Judit Varga, damals Justizministerin, hatte das Gnadengesuch zwar nicht unterstützt, aber nachdem Novák nunmal entschieden hatte, wollte Varga ihre (erforderliche) Unterschrift nicht verweigern – denn daraus wäre eventuell ein Konflikt mit Novák entstanden, was die Opposition hätte ausschlachten können.

Ausgeschlachtet wurde der Fall am Ende dennoch, als oppositionsfreundliche Medien zwar zehn Monate später, aber pünktlich zum Beginn des Wahlkampfs (EU-Wahlen, Kommunalwahlen) den Fall Anfang des Jahres „entdeckten“. Novák und Varga (die mittlerweile nicht mehr Ministerin, sondern EU-Politikerin war) traten daraufhin verantwortungsbewusst zurück. Varga ließ wissen, sie ziehe sich ganz aus der Politik und dem öffentlichen Leben zurück.

Ihr Rücktritt führte zu unvorhergesehenen Folgen. Ihre Ehe war längst zerrüttet, und sie war frisch geschieden. Wohl als Folge dessen verlor ihr Ex-Mann Péter Magyar lukrative Jobs, die er dem Vernehmen nach dank Vargas guter Verbindungen bekommen hatte. Als diese Ehekrise Gestalt annahm, und die Scheidung drohte, begann er – noch vor ihrem Rücktritt – heimlich Tonaufnahmen zu fertigen. Varga sagt, er habe sie damit erpresst, um die Scheidung zu verhindern.

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Dem Vernehmen nach war er zudem sowieso immer ein wenig neidisch auf Vargas Erfolg gewesen, und hatte selbst politische Ambitionen. Nach ihrem Rücktritt – sei es, weil er nun nicht mehr Rücksicht auf ihre Karriere nehmen musste, sei es, weil er ihre nunmehr rasch schwindende Prominenz nur als Sprungbrett nutzen konnte, wenn er schnell handelte – ging er sofort an die Öffentlichkeit. Er behauptete, seine politisch konnotierten Jobs aus Protest gegen die Regierung gekündigt zu haben (statt gekündigt worden zu sein), und „Beweise“ zu korrupten Machenschaften der Regierung zu haben. Er will nun auch eine Partei gründen.

Der „Beweis“ war dann eine heimlich gefertigte Tonaufnahme Vargas, in der eher indirekt anklingt, jemand aus der Regierung habe Akten der Staatsanwaltschaft in einem laufenden Korruptionsverfahren manipuliert (es wird nicht ganz klar, wer und was). Dem geht die Staatsanwaltschaft nun nach, und vernahm auch Judit Varga am 27. März als Zeugin. Ihrerseits hat sie nun ihre Zurückhaltung aufgegeben und erzählt schauerliche Einzelheiten über ihre von Drohungen und Gewalt geprägte Ehe mit Péter Magyar.

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All dies wiederum verändert die ungarische Parteienlandschaft. Der Regierungspartei scheint es nicht zu schaden, ihre Anhänger bleiben bei der Stange. Aber die Oppositionsparteien sind als Folge dieser Entwicklung mit einer Ausnahme fast bedeutungslos geworden. Als Magyar am 15. März eine Veranstaltung zum Nationalfeiertag organisierte, kamen mehr Menschen als – zusammengerechnet – zu allen anderen Oppositionsveranstaltungen. Nur die „Demokratische Koalition“ des einstigen sozialistischen Premiers Ferenc Gyurcsány hat überhaupt noch politische Bedeutung.

Es ist noch zu früh, um Endgültiges zu sagen, aber bislang scheint es, dass Magyar nicht enttäuschte Fidesz-Wähler anzieht, sondern Unentschlossene und enttäuschte Oppositionswähler.

Was kommt als Nächstes? Wird der Schmetterlingsflügel (Balogs Bitte an Novák, einem Gnadenersuch zuzustimmen) weitere Stürme in fernen Gefilden verursachen? Am besten wappnet man sich – denn durch Ungarns bisher ruhige politische Landschaft fegen heftige Winde.

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