Im Zentrum der ungarischen Innenpolitik steht derzeit das Ei. Genauer gesagt, die Inflation, welche die Bürger zur Verzweiflung treibt. Ungarns Lebensmittelpreise stiegen im Jahresdurchschnitt laut Eurostat um 43 Prozent. Das ist Europarekord.
Nirgends wird die Dimension der Teuerung, und ihre Auswirkung auf den Alltag der Menschen, psychologisch so spürbar wie beim Hühnerei. Man nimmt ein Ei in die Hand, sieht auf den Preis, und denkt: Was?
120 Forint, umgerechnet fast 30 Eurocent mussten Kunden Anfang November durchschnittlich für ein Ei (mittlere Größe) berappen. Experten prophezeiten, dass sich der Preis bei 150 HUF (mehr als 35 Eurocent) einpendeln werde.
Schneller als der Preis für das Ei schoss nur der Preis für Kartoffel in die Höhe: Im Oktober kosteten sie 73 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Brot, Nudeln, Milch, Butter wurden ebenfalls allmählich zum Luxusprodukt für ärmere Einkommensschichten.
Die Durchschnittsrente beträgt umgerechnet etwa 430 Euro. Eine Sekretärin verdient netto durchschnittlich 750 Euro. Davon gilt es neben der Miete – auch die Mieten sind deutlich gestiegen – noch Gas und Strom zu bezahlen. Und Lebensmittel.
Diese Zahlen können über Leben und Tod in der Politik entscheiden. Eine der größten Leistungen der Regierung von Viktor Orbán ist, dass der Anteil, den die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung für Lebensmittel ausgeben müssen, seit 2010 von mehr als 50 Prozent ihres Einkommens auf nur noch etwas über 40 Prozent sank. So blieb mehr Geld übrig für andere Dinge. Es ist Orbáns eigentliches Erfolgsgeheimis: dass es den untersten Einkommenschichten dank seiner Regierung besser geht als früher.
2014 gewann er die damaligen Wahlen auch deswegen, weil er für private Haushalte eine drastische Preisobergrenze für Strom und Gas einführte. Die Marktpreise waren damals mit die höchsten in der EU gewesen, ärmere Ungarn standen buchstäblich vor der Wahl, ob sie essen oder heizen wollten. Für beides reichte das Geld nicht.
Als der Ukraine-Krieg die Energiepreise dann 2022 in den Himmel trieb, konnte die Regierung diesen Preisdeckel nicht mehr halten – die Differenz zum Marktpreis musste ja immer der Staat begleichen. Seit August zahlen Haushalte zwar immer noch weniger als den Marktpreis, aber doch das Doppelte des bisherigen Verbraucher-Strompreises – und das Siebenfache für Gas.
Folgerichtig führte die Regierung neue Preisobergrenzen ein. Zunächst, vor einem Jahr (November 2021), für Benzin. 2022 folgten Preisdeckel für Speiseöl, Milch, Mehl, Kristallzucker und manche Sorten Hühner- und Schweinefleisch. Seit November 2022 gelten nun auch Preisdeckel für Eier und Kartoffel.
Die Folge: Benzin wurde zur Mangelware, auch weil Österreicher, Slowaken und Kroaten in Ungarn tankten, da es billiger war.
Der Einzelhandel reagierte auf die Preisdeckel mit Preissteigerungen bei anderen Produkten. Die Inflation blieb deswegen insgesamt unverändert hoch. Der Effekt ist eher, den einkommenschwachen Bevölkerungsschichten etwas zu helfen, während die Mittelklasse die teureren Preise für nicht-gedeckelte Produkte zahlt, also einen relativ stärkeren Kaufkraftverlust erleidet. Das Problem: Nicht nur die untersten Einkommensschichten, auch die Mittelklasse wählte bisher mehrheitlich Fidesz. Weil es den Menschen besser ging. Jetzt sind viele frustiert. Freilich hat auch die Opposition keine Lösung im Angebot.
Bei Kartoffeln hieß es allerdings schon vor der Preisbegrenzung, dass sie ab Januar Mangelware würden: Weil die Energiekosten für ihre Lagerung zu hoch seien. Erzeuger, so hieß es, erwägen daher, die Lagerbestände lieber zu entsorgen.
Das größte Problem ist auf Dauer, dass die Marktpreise nicht so bald sinken werden. Das bedeutet: Sobald die Preisobergrenzen entfallen, wird das Leben sofort brutal (noch) teurer. Sie aufrechtzuerhalten, belastet den Staatshaushalt jedoch immer mehr. Ein politisches Dilemma: Eine Rückkehr zu Marktpreisen birgt die Gefahr einer Abstrafung an den Urnen bei den nächsten Wahlen. Eine Beibehaltung der Obergrenzen engt jedoch den finanziellen Handlungsspielraum des Staates ein.
Vereinzelt wird der Ruf nach noch radikaleren Lösungen laut: Deswegen sei alles so teuer, weil die Privatwirtschaft profitorientiert produziert. Eine Verstaatlichung etwa von Agrarböden könne eine Bewirtschaftung ohne Profit, also niedrigere Preise ermöglichen.
Das wäre jedoch eine teilweise Rückkehr zur sozialistischen Planwirtschaft. Dass das nicht funktioniert, haben 40 Jahre Kommunismus bewiesen. Wie man es auch dreht, ein Happy End ist vorerst nicht in Sicht, und guter Rat – nun ja: teuer.