Am vergangenen Samstag haben etwa hunderttausend Anhänger der Opposition aus der Hauptstadt und den Regionen in Budapest demonstriert. Ihre erklärten Ziele waren, ein Zeichen gegen die „Hetzkampagne“ der Regierung zu setzen (gemeint war die Ablehnung der unkontrollierten Migration), die Forderungen nach einem neuen Wahlrecht und der Wiederherstellung der Demokratie. Aufgerufen haben die Oppositionsparteien, die bei den Wahlen eine Woche vorher verloren hatten, sowie verschiedene Aktivistenorganisationen. Márton Gulyás, einer ihrer Anführer, hatte sogar die Hamburger Antifa zur Teilnahme eingeladen, die musste jedoch wegen des Widerstands der anderen Träger am Ende zu Hause bleiben.
Ungarn ist – das kann man so sagen – zweifellos in Europa angekommen, denn es zeigt inzwischen die gleiche Spaltung der Gesellschaft wie sie von den westeuropäischen Ländern bekannt ist. Auch hier ist eine mobile, globalistisch orientierte Elite entstanden, die sich mit den Ideologien ihrer westlichen Vorbilder identifiziert: mit Antipopulismus, Antirassismus, Multikulti, Diversität, Gendertheorien und Ökologismus. Es ist eine besondere Pikanterie der Geschichte, dass bedeutende Teile dieser Elite direkte Abkömmlinge der kommunistischen Nomenklatura sind. Sowohl die sozialistische MSZP als auch die Partei des Ex-Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány DK sind mehr oder minder Nachfolgeorganisationen der USAP Kádárs, und zu ihren Mitgliedern zählen neben noch lebenden älteren Kadern deren Kinder, Bekannten- und Freundeskreise.
Noch hat diese Mainstream-Elite, wie die Wahlen gezeigt haben, nicht die Fähigkeit, Mehrheiten zu erringen. „Die ungarischen Wähler haben nicht die Regierung, sondern die Opposition abgewählt“, stellte der politische Analyst Gábor Török über das Wahlergebnis fest. Aber von der moralischen Überlegenheit ihrer Sache fest überzeugt, haben alle Oppositionsparteien nur Schuldzuweisungen als Erklärung für ihre Niederlage übrig: Ungarn sei keine Demokratie mehr, die Wahlen seien – in welcher Weise auch immer – gefälscht und deshalb illegitim, und die migrationsfeindliche Propaganda von Fidesz habe unter der ländlichen Bevölkerung – wo sie eine überwältigende Mehrheit der Stimmen erhalten hat – nur verfangen, weil diese dumm, ungebildet und autoritätshörig sei.
Was an den Wahlen unfrei gewesen sein soll, wurde bisher nicht näher erklärt. In Ungarn gibt es das Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Wer die Mehrheit in einem Wahlbezirk hat, hat dort gewonnen. Die Demonstranten am Samstag haben „Wir sind die Mehrheit“ gerufen – was stimmt: Fidesz bekam etwas mehr als 49 Prozent der Stimmen. Aber hätten die Oppositionsparteien die gleiche Stimmzahl erreicht, hätten auch sie damit eine Regierung mit Zweidrittelmehrheit stellen können. Das Wahlrecht bevorzugt die jeweilige Mehrheit, egal, von wem sie erreicht wird. Über nennenswerte Wahlfälschungen wurde bisher nicht berichtet.
Keine Medienfreiheit?
Das Hauptargument für die Unfreiheit der Wahl ist die Behauptung, in Ungarn gebe es keine Medienfreiheit. Deshalb hätten sich die Wähler nicht informieren können und seien hilflos der Fidesz-Propaganda ausgesetzt gewesen. Worauf stützt sich dieser Vorwurf? Vor allem auf die Existenz von staatlichen Fernsehsendern, die im ganzen Land „umsonst“ zu empfangen sind. Außer dass die Bürger für den Empfang mit Steuergeldern und nicht mit einem gesonderten Rundfunkbeitrag bezahlen müssen, unterscheidet sich dieses System in gar nichts von den Öffentlich-Rechtlichen Sendern in Deutschland oder der Schweiz. Wer außer diesen Sendern im Fernsehen und im Radio sonst nichts schaut oder liest, würde einseitig informiert, stellt die Opposition richtig fest. Aber wer wollte, konnte sich vielseitig bei privaten Fernsehsendern, im Internet, in Zeitungen und Zeitschriften informieren, denn das Medienangebot ist da. In den Printmedien und im Netz dominieren immer noch die linken Publikationen, die in ihrer Parteilichkeit zum Teil längst die Grenze des guten Geschmacks überschritten haben (letzteres gilt auch für die vielen rechtsradikalen, rassistischen und antisemitischen Internetpublikationen). Dafür, dass die von den linken Intellektuellen präferierten Medien nicht genug Leser finden, kann Fidesz wirklich nichts.
Wählerbeschimpfung
Inzwischen bekommt man ein ziemlich klares Bild davon, wer die Wähler von Fidesz sind. Die Arroganz der linken Elite ihnen und vor allem den ländlichen Wählern gegenüber ist bodenlos. „Gütiger Himmel, mit was für Menschen leben wir in diesem Land zusammen? Wie können sie glauben, dass unsere Kultur durch die Migranten gefährdet sei? Warum ist so viel Hass in den Ungarn?“, schrieb András Földes in einem Artikel im Internetmagazin Index, dem er den Titel gab: „Wie kann ganz Ungarn so blöd sein?“ Zu den Blöden gehört demzufolge die knappe Hälfte der ungarischen Bevölkerung. Fidesz ist in allen Altersgruppen die stärkste Partei, sie ist es auch – trotz der relativen Stärke der Oppositionsparteien – in Budapest mit 34 %. Sie erreichte 42 % in den anderen regionalen Städten und gewann mit 51 % in den ländlichen Gemeinden. Für Fidesz stimmten 46 % der Frauen und 40 % der Männer. Aber nicht nur die Ärmeren, auch viele der Wohlhabenden gehören zu den Fidesz-Wählern: Die besseren Budapester Bezirke gingen ebenso an Fidesz wie die reichen Regionalstädte, die von der Mittelschicht bewohnten Vorstädte der Hauptstadt ebenso wie die ganze wohlhabende Region an der Westgrenze Ungarns.
Orbán hat nicht deshalb die Wahl gewonnen, weil die Ungarn blöd, ungebildet und unterwürfig sind, sondern weil er für jeden verständlich den entscheidenden Wertekonflikt der Zeit benannt, und dabei einen klaren Standpunkt bezogen hat: für die nationale Selbstbestimmung, für die traditionellen Bindungen wie Nation und Familie und gegen die Islamisierung Europas. Dafür hat er das Lob und auch die Unterstützung aller Demokraten ob in Europa oder Amerika verdient. Die Mehrheit hat sich für diese Werte entschieden, denn Wahlen werden letztlich darum geführt, wie die Menschen leben wollen. Orbán und seine Fidesz-Partei sind jedoch nicht ohne Fehl und Tadel. Es gebe genug vernünftige Kritik an Orbáns Amtsführung, mit der sowohl er als auch Fidesz ablösbar wären. Die Bedingung dafür wäre zumindest zur Zeit, dass die Kritiker die Richtigkeit der politischen Grundsätze Orbáns anerkennen.
Berechtigte Kritik tut not
Was wäre an Orbán und Fidesz zu kritisieren? In erster Linie die Vetternwirtschaft, die wirtschaftliche Bevorzugung von Freunden, Verwandten und Verbündeten, die Klientelpolitik als Machtinstrument. Wenn die Allokation der Mittel nicht aufgrund der besten Angebote, sondern aufgrund von privaten Beziehungen geschieht, schadet das dem Land und erzeugt böses Blut. Es gibt viele solche Fälle aus dem Umkreis des Ministerpräsidenten, wie zum Beispiel die maßlose Bereicherung des neuen Lieblingsoligarchen Lörinc Mészáros, eines Unternehmers aus der Geburtsregion Orbáns, der inzwischen einer der reichsten Männer Ungarns ist. Zu kritisieren wäre der Etatismus, das immer größere Gewicht des Staates, die Verteilung von Zuwendungen an die Bürger nach Gutsherrenart. Und überhaupt das Thema „nach Gutsherrenart“: Orbán hat sich etliche nur auf seinen eigenen Vorlieben beruhende kostspielige Entscheidungen geleistet: Seine fußballerisch unbedeutende Heimatgemeinde bekam von bekennenden Fußballfanatiker ein überdimensioniertes, von seinem Lieblingsarchitekten entworfenes Fußballstadion und eine eigene Schmalspurbahn, deren Sinnhaftigkeit nicht nur Kritiker in Frage stellen. Alles finanziert von Steuergeldern. Sein Politikstil ist ein Anachronismus: Er benimmt sich nicht wie ein moderner Politiker, sondern wie ein „pater familias“, ein Landesvater, der lobt und tadelt, der nimmt und gibt und sich um seine Untertanen kümmert – was im Übrigen die persönlichen Sympathien auf dem Lande zumindest teilweise zu erklären hilft.
Wahrscheinlich hat der Staatsrechtler Péter Tölgyessy recht, wenn er sagt: „Das System Orbán wird nicht von dieser Opposition abgelöst werden“. Aber die Zeit arbeitet für die Erstarkung einer irgendwie gearteten Mainstream-Opposition. Gemeint ist nicht nur die immer stärker werdende Propaganda des Westens und der wachsende Druck der EU. In dem Maße, wie Ungarn mit der Zeit reicher wird, nimmt auch dort die Verstädterung zu, die jetzt noch starken ländlichen Gemeinschaften werden erodieren. Es ist fraglich, wie lange es einer Regierung und einem einzelnen Mann gelingen kann, das Umsichgreifen des Extremindividualismus mit all den bekannten Folgen aufzuhalten.
Krisztina Koenen ist Publizistin und Übersetzerin. Zuletzt erschien von Ihr in deutscher Übersetzung: