Ha! Orbán ist eingeknickt! Beim EU-Gipfel zur Ukraine am 14./15. Dezember akzeptierte der ungarische Regierungschef Olaf Scholz’ bauernschlaue Idee, der entscheidenden Abstimmung im Europäischen Rat zur Ukraine fernzubleiben. So beschlossen 26 statt 27 Regierungschefs mit der erforderlichen „Einstimmigkeit“, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beginnen – obwohl diese die von der EU formulierten sieben Voraussetzungen sogar nach Meinung der EU-Kommission nur teilweise erfüllt hat. Egal, es ist ja die Ukraine, da darf man die Dinge nicht so eng sehen.
Orbán hält die Entscheidung für falsch, und blockierte danach eine Aufstockung der EU-Hilfen für die Ukraine sowie eine nachträgliche Erweiterung des EU-Haushaltes. Erst möchte Orbán wissen, wo denn das viele Geld geblieben ist, und fordert, dass die EU ihre erheblichen Schulden gegenüber Ungarn begleicht. Zwar gab die Kommission jetzt 10 Milliarden Euro frei, aber 21 Milliarden bleiben weiterhin suspendiert, wegen „rechtstaatlicher Probleme“ (nach ungarischer Darstellung aber wegen politischer Differenzen unter anderem zu Migration, EU-Integration und „LGBTQ-Propaganda“).
Wie ist all das zu werten? Zunächst einmal, Ungarns eleganter Rückzug auf Olaf Scholz’ Empfehlung hin sagt etwas über die Beziehung zwischen Scholz und Orbán – sie ist vielleicht besser, als man meinen solle. Vor nicht allzu langer Zeit sagte Orbán dem Verfasser dieser Zeilen in einem Hintergrundgespräch, wie er Scholz einschätze: „Ich glaube, er weiß, was gut wäre für Deutschland. Er kann es nur nicht tun.“ Denn der muss ja auf die Koalitionspartner Rücksicht nehmen.
Zweitens, es ist außer Symbolik nichts passiert. Orbáns Strategie-Berater und Namensvetter Balázs Orbán kommentierte lakonisch, bis zu einem EU-Beitritt seien noch „70 einstimmige Entscheidungen“ des Europäischen Rates nötig – also 70-mal Gelegenheit für Ungarn, nein zu sagen.
Drittens, die übrigen EU-Länder haben sich wieder einmal hinter Ungarn versteckt. Niemand hat wirklich Lust, in wirtschaftlich kargen Zeiten endlos Geld in Richtung Kiew zu pumpen. Als Orbán diese Entscheidung blockierte, war fast Erleichterung zu spüren: Vielleicht sei es wirklich besser, dieses Thema erstmal ruhen zu lassen, sagte der sonst so Orbán-kritische niederländische Premier Mark Rutte. Man vertagte sich auf Januar. Stürme der Entrüstung blieben aus.
Im Vorfeld des Gipfels war aber ein interessantes Phänomen zu beobachten: Ungewöhnlich schrille Attacken deutscher Grünen-Politiker gegen Orbán. Den Anfang machte Außenministerin Annalena Baerbock, als sie am 5. Dezember Orbán aufforderte, er solle aufhören, zum Thema Ukraine „Spiele zu spielen“. Anton Hofreiter, der stämmige Grünen-Abgeordnete mit der Nostalgiefrisur aus Studentenzeiten, holte dann den verbalen Baseballschläger aus dem Schrank, um auf Orbán einzudreschen: Er sei „ein Krimineller“, mit dem die EU viel härter umgehen müsse, sagte er im ZDF-Morgenmagazin am 12. Dezember. Man brauche Orbán überhaupt nicht in der EU, und Ungarn sei „keine Demokratie“.
So schnell kann das gehen, wenn grüne Germanen auf den Tisch trümmern: Da wird mit starker Hand ein ganzes Land ohne weiteres Federlesen verbal aus der EU geworfen. Herrschte Herr Hofreiter über ganz Europa, würde das wohl auch tatsächlich passieren.
Über ganz Europa scheint aber Annalena Baerbock zu herrschen, zumindest macht sie sich Sorgen um „unser Volk“. Damit sind nicht die Deutschen gemeint. Politico zitierte sie auf Englisch: Europa befände sich „under attack“, werde also angegriffen (wohl von Russland). Und „we must do everything we can (…) to protect our people“. Wir müssen also alles tun, um „unser Volk“ zu schützen, so könnte man den Satz übersetzen. Aber der verbale Bezugspunkt waren nicht die Deutschen, sondern „Europa“. Annalena Baerbock schützt das europäische Volk. Na, dann ist ja alles gut.
Wie auch immer, grüner Hass gegen Orbán fällt den meisten Menschen wahrscheinlich nicht als etwas Besonderes auf – war es nicht immer so? Die Twitterseite des grünen Europaabgeordneten Daniel Freund liest sich wie das Tagebuch eines jungen Mannes, der unter einer bedenklichen Fixation auf eine verhasste Vaterfigur leidet: Orbán.
Und doch sind die jüngsten Tiraden grüner Politiker gegen Orbán ungewöhnlich. Zwar hat die Außenministerin einen Besuchsstopp von Regierungsmitgliedern nach Ungarn verfügt, wenn man dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer glauben darf (das erzählte er mir nach einem Gespräch in der deutschen Botschaft in Budapest). Aber öffentlich haben sich Grünen-Politiker auf bundesdeutscher Ebene in Regierung und Parlament bislang eher zurückgehalten. Daniel Freund ist deswegen ein etwas anders gelagerter Fall, weil er nicht auf dem deutschen Parkett agiert, sondern in Brüssel und Straßburg bemüht ist, Deutschland und überhaupt alle Nationalstaaten abzuschaffen.
Historisch waren die Beziehungen der Grünen zur ungarischen Regierungspartei sogar zeitweise besser als die der CSU mit Fidesz: So verhandelte die baden-württembergische grüne Staatsministerin Theresa Schopper 2019 in Budapest mit dem ungarischen Innovationsminister László Pálkovics über gemeinsame Projekte, ohne mit der Wimper zu zucken. Zu einer Zeit, da bayerische CSU-Landesminister keine Fidesz-Minister treffen durften. Es lief also schon einmal besser zwischen Grünen und Fidesz.
Was hat sich geändert? Vielleicht hilft ein Vergleich mit den Niederlanden, um zu verstehen, was los ist. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte klang in den letzten Jahren oft so wie Hofreiter und Baerbock dieser Tage: permanentes Herumprügeln auf Orbán. „Ich weiß auch nicht, wieso er mich hasst”, sagte Orbán dazu einmal. Er wusste es aber sehr wohl, darf man vermuten, und es ist ja auch denkbar einfach: Ruttes Position daheim als Ministerpräsident schwächelte, und er hoffte, mit billigen Anti-Orbán-Phrasen an Popularität zu gewinnen. Umsonst – die jüngsten Wahlen verlor er krachend. Und schon klang er beim jetzigen Gipfel viel sanfter, seine übliche Orbán-Kritik blieb aus.
Vielleicht ist die plötzliche Orbán-Schelte bundesdeutscher Grünen-Politiker ähnlich zu deuten. Der einstige Höhenflug der Grünen in den Umfragen ist zum Sturzflug geworden, und wenn sich nicht bald etwas ändert, werden sie ihre politische Macht so schnell verlieren, wie sie sie errangen.
Die lauten Beleidigungen in Richtung Ungarn und Orbán sind keine Demonstration der Stärke, sondern ein Zeichen grüner Schwäche: Man hat Angst, vom Wahlvolk bald abserviert zu werden.
Sollte es aber Baerbock und Hofreiter doch um Inhalte gehen, so darf man mitleidig den Kopf schütteln. Das würde bedeuten, dass die Grünen tatsächlich glauben, Orbán blockiere Verhandlungen mit der Ukraine, um die Gelder zu bekommen, die die EU Ungarn seit Jahren schuldet.
Wer das glaubt, hat nichts von ungarischer Politik verstanden. Orbán sieht die Geldfrage als ein Thema aus der Kategorie taktischer Problemlagen, die Ukraine-Frage aber als historisch. Entscheidungen von historischer Reichweite aus taktischen Erwägungen zu fällen, so sagt er, führt oft zu Katastrophen. Er würde das nie verküpfen. Er fordert eine europäische Strategie-Diskusson zur Ukraine, bevor irgendetwas entschieden wird.
Es gibt auch ein Signal von ihm, worüber man zum Beispiel reden müsste: Gibt es einen Weg für eine ukrainische EU-Mitgliedschaft, ohne sämtliche anderen EU-Länder zu Nettozahlern zu machen, mit der Ukraine als einzigem Empfänger? Aber darüber will niemand reden.