Wie nah befindet sich Europa am Rande eines Krieges? Folgt man dem Center for Defense Strategies, dann ist er – zumindest in absehbarer Zeit – sehr unwahrscheinlich. In einem Artikel der Zeitung Kyiv Independent führt der ukrainische Think Tank beispielsweise auf, dass es bislang keinen Beweis dafür gebe, dass die russische Armee mit dem Aufbau einer medizinischen Versorgung für eine mögliche Invasion der Ukraine begonnen habe. „Im Allgemeinen sind laut Experten noch nicht alle kritischen Indikatoren und Geheimdienstindikatoren bekannt geworden, die den Abschluss der Vorbereitungen der russischen Armee auf eine groß angelegte strategische Offensivoperation kennzeichnen“, heißt es da.
Das ist nur ein Argument. Weitere Anhaltspunkte? „Wir beobachten nicht die erforderliche Formation von mehreren Hunderttausend Soldaten, nicht nur an der Grenze zur Ukraine, sondern auch auf russischem Territorium hinter der Frontlinie“, führt der Think Tank weiter aus. Auch strategische Reserve-Einheiten würden nicht ausgehoben. Die Zahl der 127.000 Soldaten an der russisch-ukrainischen Grenze habe sich nicht erhöht. Das sei aber nicht nur für eine Invasion zu wenig, sondern auch für eine mögliche Besetzung ukrainischer Gebiete.
Die Ukraine erwartet keinen klassischen Krieg in den nächsten Wochen, sehr wohl aber eine „hybride Invasion“
Das Institut schließt nicht aus, dass Russland durch weitere Heranführung von Truppen, Ausbau der Logistik und der Vorbereitung von Feldlazaretten doch in eine für die Ukraine gefährliche Position gelangt. Doch bis Russland tatsächlich zu einer Invasion größerer Dimension in der Lage sei, veranschlagt die ukrainische Denkfabrik zwei bis drei Wochen. Viel wahrscheinlicher erscheint eine „hybride Invasion“, begleitet von Desinformation, Cyber-Attacken und damit gezielten Schlägen auf die kritische Infrastruktur.
Auf der russischen Seite hat der Direktor des Carnegie Moscow Center, Dmitri Trenin, die strategischen Möglichkeiten und Szenarien gegenüber der Tageszeitung Kommersant erläutert. Er spricht von einem „logischen“ und einem „energischen“ Hauptszenario. Auch er sieht nicht die Gefahr eines großen bewaffneten Konflikts in den nächsten vier Wochen. Allerdings ließ er durchblicken, dass ein Konflikt, der von Moskau gewonnen würde – gleich zu welchem Preis – für die USA eine gleichermaßen verheerende Niederlage darstellen würde wie das Debakel in Afghanistan. Die Situation würde von anderen Mächten wie China genau beobachtet. Seiner Ansicht nach hätten die USA genügend Kontrolle über Kiew, als dass die Ukraine Provokationen mit unabsehbaren Folgen Richtung Russland senden würde.
Russlands Militär als politisches Mittel zur Verhandlung
Trenin gab dabei zu, dass in letzter Instanz das Vorgehen Russlands von der Entscheidung des Präsidenten Wladimir Putin abhinge – und niemand genau wisse, was Putin eigentlich vorhabe. „Was ist sein Plan? Was ist seine Strategie? Welche Optionen sieht er für verschiedene Szenarien? Das ist von außen sehr schwer zu beurteilen“, erklärte der Chef der russischen Denkfabrik. Es sei aber klar, dass Moskau Forderungen an den Westen gestellt habe, der Westen diese aber nicht erfüllt habe, und Putin eine „Antwort“ darauf vorbereite.
Mit den Forderungen bezieht sich Trenin auf die Nichterweiterung der NATO. Auch die russische Seite geht nicht davon aus, dass es je einen „rechtsverbindlichen NATO-Nichterweiterungsvertrag“ geben werde. Doch die Diskussion habe ihre Vorteile gehabt. So sei der Westen zumindest schriftlich auf die russischen Bedenken eingegangen und habe sich auf ein Gespräch für ein gegenseitiges Moratorium für die Stationierung von Mittel- und Kurzstreckenraketen eingelassen. „Sie sind jetzt bereit, über die Begrenzung militärischer Manöver in der Nähe unseres Territoriums zu sprechen“, erklärte er die russische Position.
Die Ukraine-Krise ist eine Richtungsentscheidung russischer Außenpolitik
Die angedrohten „Höllensanktionen“, wie sie Putin verurteilte, könnten jedoch den endgültigen Bruch mit dieser Vorstellung bedeuten. Dann könnte sich die Außenpolitik endgültig in einer radikalen Abkopplung äußern und in einem deutlichen Schulterschluss mit US-Gegnern – allen voran China und dem Iran. Der Kampf um Einflusssphären könnte deutlich verschärft werden. Ein Regime-Change wie im Irak durch die USA sei dann für Russland ein Beispiel, wie man seine eigene Herrschaft ausbreite. Eine Anerkennung der abtrünnigen, ostukrainischen Gebiete und deren Aufnahme sei dann nicht mehr ausgeschlossen, dasselbe gelte für Abchasien und Südossetien.
Die eine Option, so formulierte es ein Journalist, sei demnach ein hochkomplexes Schachspiel, die andere das wütende Umwerfen des Schachbretts. Es ist bezeichnend, dass auch der Stratege Trenin nicht festlegen kann, welches Szenario eintritt, weil niemand in den Kopf des russischen Präsidenten sehen kann. Es zeigt aber zumindest deutlich, dass nicht so sehr ein Krieg in Osteuropa die Strategien der ukrainischen und russischen Strategen beherrscht, denn vielmehr das, was dahinterstehen könnte. Die Ukraine ist Schauplatz einer langfristigen geostrategischen Neuordnung, die sich am Ende vielleicht nicht so sehr in der Grenzverschiebung vor Ort, als in einer Richtungsentscheidung zukünftiger Außenpolitik zwischen NATO und Russland äußert. Mit dem Bedeutungsverlust der USA in Europa stellt sich die Frage nach dem Sicherheitsgerüst auf dem Kontinent.
US-Denkfrabrik: Russlands Ölgeschäft verletzlicher als das Gasgeschäft
Indes plant man auf der US-Seite, wie man einen Krieg durch kräftige Sanktionsdrohungen verhindern könnte. Edward Fishman vom Atlantic Council äußerte sich dazu bei Politico. O-Ton: „Die Debatte in den USA hat sich fälschlicherweise auf die Bestrafung von Oligarchen konzentriert und dabei die Realität übersehen, dass es die gesamte russische Wirtschaft ist, die die Ressourcen bereitstellt, die das Militär des Landes benötigt.“ Deshalb sollte das Maßnahmenpaket möglichst umfassend sein. Nicht nur die bekannten Gespräche zur Aussetzung von SWIFT oder einem Boykott von Öl und Gas gehört dazu, sondern auch Restriktionen beim Export von Autos, Smartphones, Elektronik oder Maschinenteilen nach Russland. Ausländische Investitionsbeschränkungen und -verbote seien ein ebenso gangbarer Weg.
Das Abschneiden großer russischer Banken vom US-System schadet mehr als der Rauswurf aus SWIFT
Fishman macht dabei keinen Hehl daraus, dass ein solches Vorgehen auch für den Westen Einschnitte bedeute – besonders für Europa, das von russischen Ressourcen abhängig sei. Die globalen Ölpreise würden steigen, und die in Europa vorhandene Energiekrise sich zwangsläufig verschärfen. Öl sei dabei eine deutlich größere Achillesferse als Gas für Russland. Selbst die Nichtinbetriebnahme von Nordstream 2 habe eher symbolischen denn politischen Wert.
Zudem sieht der amerikanische Think Tank in der Abkoppelung vom SWIFT-System eine weitaus geringere Drohung als häufig dargestellt. Er empfiehlt dagegen einen Vorschlag des US-Schatzministeriums. Die Vereinigten Staaten könnten damit drohen, große russische Banken vom US-Finanzsystem abzuschneiden. „Eine große russische Bank wie Sberbank, VTB oder Gazprombank auf die schwarze Liste zu setzen, würde es für jeden auf der Welt schwierig – wenn nicht unmöglich – machen, mit ihr Geschäfte zu machen.“ Würde die Sberbank trockengelegt, würde das einen großen Teil der Russen direkt treffen, die ihre Rentenzahlung von diesem Institut erhalten.
Bei so vielen Überlegungen, wie man Russland im Zweifel in die Knie zwingen kann, begleitet von der Androhung, das Land zusätzlich vor den Vereinten Nationen wegen Störung des Weltfriedens anzuklagen, vergisst man leicht, dass Kiew selbst seit einigen Wochen das Gebaren der amerikanischen Schutzmacht kritisch beäugt. Man fühlt sich nicht nur bevormundet, sondern auch als Aufhänger missbraucht, um Weltpolitik zu spielen. Es ist schwierig einzukreisen, wie ernst es dem russischen Außenminister Sergej Lawrow ist, wenn er bekräftigt, Russland wolle keinen Krieg mit der Ukraine. Klar ist jedoch, dass die Ukraine am wenigsten an einer Eskalation interessiert ist, da diese am ehesten auf ihrem eigenen Territorium stattfindet.
Die Ukraine sieht sich zu Unrecht als Krisengebiet ausgewiesen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wehrte sich etwa gegen die von den USA suggerierte Situation, ein Krieg stünde kurz bevor. „Wir brauchen diese Panik nicht“, sagte das Staatsoberhaupt. Oleksiy Danilow, der Chef des ukrainischen Sicherheitsrates, der wirklich nicht im Ruf eines Putinfreundes steht, machte dem transatlantischen Verbündeten ähnliche Vorwürfe. Er behauptete, dass die Panikmache, die hauptsächlich von den USA und Großbritannien angeheizt wird, der Ukraine schade und Putin nütze. Er spekulierte darüber, dass diese Panikmache von innenpolitischen und geopolitischen Überlegungen in den Ländern getrieben sei. Während er den westlichen Verbündeten dafür dankte, dass sie ihre Unterstützung bekundeten und Waffen schickten, um die russische Aggression abzuwehren, warnte er sie davor, die Ukraine zu „manipulieren“.
Der Grund für den Ärger: die Ausweisung der Ukraine als Dauerkrisenzone schadet der heimischen Wirtschaft enorm. Wer investiert in ein Territorium, das seit Monaten auf den Einmarsch russischer Truppen wartet? Der ehemalige BBC-Reporter Leonid Ragozin fasst eine weitere Befürchtung so zusammen: „Die Ukrainer haben Grund zu der Annahme, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien mit ihrer radikalen Rhetorik, die von der realen Bedrohung nicht übertroffen wird, sowie ihrem Enthusiasmus für ‚mutige Ukrainer‘, die für die westliche Sache kämpfen und sterben, bereit sind, die Ukraine über die Klinge springen zu lassen, um Russland in einen verheerenden Krieg zu verwickeln.“ Neben den „russischen Alptraum“ trete ein „amerikanisches Problem“.
Selenskyj hat sich verkalkuliert
Die wahre Angst, die Kiew bewegt, ist demnach nicht die vor einem Einmarsch, sondern die vor einem „umgedrehten“ Maidan, heißt, einem Putsch durch russlandfreundliche Kräfte. Damit hielten Lawrow und Trenin Wort: kein Krieg gegen die südlichen Brüder, dafür ein Umschwenken auf „Regime change“-Strategien. Dabei hat Selenskyj die politische Sackgasse, in der er jetzt sitzt, selbst verursacht. Nach der Amtseinführung Joe Bidens wechselte er zu einer deutlicher akzentuierten, anti-russischen Politik und machte massive Werbung für einen NATO-Beitritt. Er umgab sich mit amerikanischen Think Tanks, etwa dem erwähnten, Biden-freundlichen Atlantic Council, das Gelder von ukrainischen Oligarchen erhielt. Ganz offensichtlich hat sich Selenskyj verkalkuliert und Putins Reaktion nicht vorhergesehen.
Dass sich mit dem jüngsten Gespräch zwischen Putin und Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron eine Deeskalation der Lage ankündigt, ist demnach weniger überraschend als man denkt. Es geht, wie Macron sagte, um einen „tiefergehenden Dialog“ – also die Absicht, die schon Trenin formulierte. Putin hat durch Säbelrasseln offenbar die Verhandlungsposition erreicht, die er wollte. Und die Ukraine hat am eigenen Leib gespürt, was es bedeutet, westlicher Verbündeter zu sein. Der Westen kann für sich verbuchen, mit Sanktionsdrohungen Putin an den Verhandlungstisch gezwungen zu haben und damit sein Gesicht wahren. Wer den tatsächlichen Sieg im monatelangen Armdrücken davonträgt, wird sich daran zeigen, wenn klar ist, wie die neue Sicherheitsordnung in Osteuropa aussieht.