Tichys Einblick
Präsidenten-Darsteller wird Präsident

Ukraine: Merkels Wunschkandidat verliert dramatisch

Fernseh-Komiker Selenski hat die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine haushoch gewonnen und Amtsinhaber Poroschenko deklassiert. Der Wahlsieger will sich mit Putin an den Verhandlungstisch setzen – obwohl er schon mal mit der Faust zuschlägt.

imago images / Christian Spicker

Auf den letzten Metern vor dem Ziel kam Wolodymyr Selenski noch einmal ins Straucheln. Schuld daran war exakt das, was seine Gegner ihm am meisten vorhalten – das Fehlen politischer Erfahrung. Im Wahllokal hielt der 41-jährige Komiker und TV-Unternehmer am Sonntag strahlend seinen Wahlzettel in die Kamera. Und zwar so, dass haargenau zu erkennen war, für wen er abgestimmt hatte – nämlich für sich selbst. Damit hat Selenski das Wahlgeheimnis verletzt – ein Gesetzesverstoß. Wenig später kam deshalb die Polizei zu Selenski, in seinen Wahlkampfstab. Er muss jetzt ein Bußgeld zahlen.

Die Strafe kann der Schwiegermutter-Traum mit dem Hollywood-Lächeln nicht nur deshalb verkraften, weil sie mit umgerechnet 50 Euro nicht allzu dramatisch ausfiel. Selenski, der aus einer russischsprachigen jüdischen Familie in der Industriestadt Krywyj Rih in der Südukraine stammt, wurde seinem Ruf, wie mit Teflon beschichtet zu sein, wieder einmal gerecht: Auf bissige Nachfragen von Journalisten verwies sein Sprecher Dmitri Rasumkow darauf, dass doch die meisten schon einmal eine Ordnungswidrigkeit begangen hätten – und Selenski eben auch als künftiger Präsident keine Sonderbehandlung in Anspruch nehme. Vor dem Gesetz würden jetzt endlich alle gleich. Prompt war aus dem Fauxpas ein Sympathiepunkt geworden.

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So glatt lief der gesamte Wahlkampf für Selenski: Mit 73,1 Prozent deklassierte er in der Stichwahl Amtsinhaber Petro Poroschenko. Der schwergewichtige Milliardär, der seinen Herausforderer um Kopflänge überragt, kam nur auf 24,5 Prozent und gab damit wie schon in den Wochen zuvor eine fast schon tragische Gestalt ab. Oligarch Poroschenko, wegen des wirtschaftlichen Niedergangs und massiver Vorwürfe der Korruption und Vetternwirtschaft bei großen Teilen der Wähler sehr unbeliebt, schien die Niederlage erwartet zu haben: Als er am Wahlabend vor seine Mitstreiter trat, schienen weder er noch diese geschockt: Die Niederlage hatte sich abgezeichnet, nachdem es der Amtsinhaber im ersten Wahlgang am 21. April nur auf 15,9 Prozent gebracht hatte – fast nur halb so viel wie Selenski mit 30,3 Prozent.

Zwei Tage vor der Wahl hatten sich die beiden Kandidaten im Kiewer Olympiastadion eine einstündige Debatte geliefert, einen groben Schlagaustauch, der teilweise unter die Gürtellinie ging. Es war mehr Schlammschlacht als Diskussion. Selenski ging demonstrativ auf die Knie für die Angehörigen der Soldaten, die in der Ostukraine gefallen sind – der Krieg dort kostete fast 13.000 Menschenleben. Der Herausforderer forderte den Amtsinhaber auf, ebenfalls auf die Knie zu gehen. Das tat Poroschenko auch – allerdings drehte er den Zehntausenden Zuschauern im Stadion die Hinterseite zu und ging auf die Knie vor einer ukrainischen Flagge, die hinter ihm hing. Beobachter verwiesen auf den Symbolcharakter dieser Szene – die Abwendung des Amtsinhabers von den Wählern, die diese in die Hände des Komikers trieb, der politisch ein völlig unbeschriebenes Blatt ist. Poroschenko habe sich zu sehr in die Rolle des „Retters des Vaterlandes“ und das eigene Pathos hineingesteigert, und damit auch eigene krumme Geschäfte überdeckt, werfen im Kritiker vor.

Selenski wiederum vermied im Wahlkampf jede politische Festlegung – um für Wähler jeder Couleur akzeptabel und für seinen Gegner nicht greifbar zu sein. Er versprach nur, die Ukraine weiter an EU und Nato anzunähern, den Krieg in der Ostukraine zu beenden, die Korruption und die Oligarchen zu bekämpfen und den Lebensstandard der Menschen zu verbessern.  Statt auf die traditionellen Medien und üblichen Wahlkampfmitteln setzte er fast ausschließlich auf die sozialen Netzwerke – und seine Bekanntheit als TV-Star. Insofern sind gewisse Ähnlichkeiten mit Donald Trump in den USA nicht von der Hand zu weisen.

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Zum gefeierten Star wurde Selenski vor allem durch die TV-Serie „Diener des Volkes“. Dort spielt er die Rolle, auf die er auch im Wahlkampf setzte: Einen Außenseiter, der durch Zufall bekannt und zum Präsidenten gewählt wird. Wassili Goloborodko, wie der von Selenski gespielte TV-Held heißt, schafft seine Leibwache ab und radelt in den Dienst. Rund um die Uhr kämpft er gegen bestechliche Politiker, Beamte und Richter. Zwanzig Millionen Ukrainer – fast die Hälfte der Bevölkerung -, sahen das Märchen auf der Mattscheibe. Und viele ließen sich offenbar von dem schönen Traum bezaubern – nur so ist der Erdrutschsieg Selenskis zu erklären. Die fast schon verzweifelten Warnungen Poroschenkos in der Debatte, Selenski sei eben nicht Goloborodko aus der TV-Serie, verpuffte. Ebenso wie die Wahlkampfstrategie des Amtsinhabers, den Herausforderer zu diffamieren, abwechselnd als Puppe Russlands oder des Oligarchen Ihor Kolomojsky. Dem gehört der Fernsehsender 1 & 1, in dem das Politik-Märchen lief.

Mit seiner Serie legte der Vater eines Sohnes und einer Tochter seine Finger genau in die Wunden der ukrainischen Politik: Die Allmacht der milliardenschweren Oligarchen, zu denen auch der jetzt abgewählte Präsident Poroschenko gehört. Ihre Intrigen, ihren Widerstand gegen Transparenz und Korruptionsbekämpfung. Der gelernte Jurist Selenski, der seine Frau seine „beste Freundin“ nennt und mit ihr alle wichtigen Entscheidungen berät, wirkt auch äußerlich wie das Gegenmodel zum bis heute in der ukrainischen Politik vorherrschenden Apparatschik sowjetischer Prägung mit Greifinstinkt in die Staatskasse.  So unerfahren der 41-jährige politisch sein mag –  er ist nicht nur Komiker, sondern auch erfolgreicher Geschäftsmann, der es zu Wohlstand gebracht hat. Er führte als Topmanager gleichzeitig sechs Fernsehkanäle; zudem ist er Gründer und künstlerischer Leiter der Produktionsfirma „Studio Kwartal 95“, die auch seine Serie produziert.

Gerüchte, er selbst eine Oligarchen-Marionette, wies Selenski weit von sich: „Ich bin ein Mensch, der sich von niemanden steuern lässt. Die einzigen, denen das manchmal gelingt, sind meine Kinder. Kolomojsky ist lediglich ein Geschäftspartner von mir“, beteuerte der Kandidat in einem Interview: „Mein wichtigstes Motto im Leben ist: heute so zu handeln, dass man sich morgen nicht dafür schämen muss.“ Schon als Kind habe ihm sein Vater, ein Kybernetik-Professor eingebläut, nie zu schweigen, wenn man mit Lügen konfrontiert werde.

Selenski hat angekündigt, maximal eine Amtszeit, also fünf Jahre, zu regieren. „Ich werde Sie nicht enttäuschen“, versprach er am Wahlabend den Ukrainern. „Ich will, dass die Leute mich achten. Das kann man für Geld nicht kaufen. Ich werde nie auf irgend etwas eingehen, mit dem ich meine Ehre oder meine Würde verletzen könnte“, hatte er schon zuvor angekündigt.

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Nicht immer gibt sich Selenski, der nach eigenem Eingeständnis im Alltag sehr zerstreut ist und oft etwas verliert oder liegen lässt, so staatstragend. Bei einem Auftritt in Berlin attackierte er einen Zuschauer, weil sich dieser wiederholt respektlos über die Ukraine äußerte und eine russische Fahne enthüllte. Weniger aggressiv klang der Wahlsieger, wenn es um den Krieg in seinem Land ging. „Ich bin gegen eine militärische Lösung. Menschenleben sind das wichtigste“, beteuerte er. Und dass er keine Probleme damit habe, sich mit Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zu setzen: „Wir müssen reden miteinander. Egal ob wir wollen oder nicht. Entscheidend ist, dass kein einziger Mensch stirbt. Wir müssen das Schießen beenden und unser Land aufbauen.“ Solche Töne sind manchen Ukrainern zu moderat. Ebenso wie es für Unmut sorgt, dass Selenski meistens Russisch spricht. Kein Wunder, dass er in der eher russischsprachigen Ostukraine die besten Wahlergebnisse einfuhr. Umso erstaunlicher aber, dass er dennoch offenbar auch in der Westukraine die Nase vorne hatte.

Der Verlierer Poroschenko kündigte an, nicht aufzugeben, und weiter in der Politik zu bleiben. Für Selenski mag das ein erster Wermutstropfen sein – zumal die Mehrheitsverhältnisse im Parlament wohl kaum zu seinen Gunsten stehen, zumindest bis zu den Neuwahlen im Herbst. „Das ist ein historischer Tag, der in die Geschichte unseres Landes eingehen wird“, kommentierte dennoch der Kiewer Star-Journalist Dmitri Gordon: „Die Ukraine hat heute gezeigt, dass sie ein wirklich demokratisches Land ist, in der Lage, einen Präsidenten, der ihr nicht gefällt, abzuwählen.“ Es müsse jetzt einen Generationenwechsel geben, weg von den Politikern, die noch in der Sowjetunion geprägt wurden: „Ich habe keine Illusionen, was Selenski und sein Team angeht, ihnen fehlt Erfahrung, auch Orientierung, sie werden Fehler machen, viele, aber ich hoffe, sie werden keine Diebe sein, und echte Reformen machen.“

Blamiert hat das Wahlergebnis auch die Bundeskanzlerin: Sie hatte kurz vor den Wahlen noch den Verlierer Poroschenko im Kanzleramt empfangen – nicht aber Selenski. Dass sie ihre Sympathien so klar machte und sich damit de facto auch in den Wahlkampf einmischte, dürfte ihr bei dem künftigen Staatschef keine Sympathiepunkte gebracht haben. Frankreichs Präsident bewies deutlich mehr Weitblick – was sich allerdings aber auch nicht allzu schwierig gestaltete, da bei realistischer Sichtweise Selenskis Sieg deutlich absehbar war: Emmanuel Macron empfing vor der Stichwahl beide Kandidaten. Realitäten ins Auge zu blicken, statt sich ihnen zu verweigern, zahlt sich eben aus.

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