Tichys Einblick
Blockade durch ungewählte Lords droht

Ruanda-Plan: Sunak probt den Aufstand gegen Gerichte und Konventionen

Das britische Unterhaus hat das Sicherheit-von-Ruanda-Gesetz gegen illegale Einreisen beschlossen. Die Regierung nimmt den Kampf mit nationalen wie internationalen Gerichten auf, die sich immer wieder gegen Londons Ruanda-Flüge gestellt haben. In Deutschland ist nichts vergleichbares zu sehen, weder im Kleinen noch im Großen.

©UK Parliament/Jessica Taylor

In London ist eine rapide Zunahme der Messerverbrechen zu konstatieren, wogegen jetzt sogar der schwarze Schauspieler Idris Elba angehen will. Elba fordert außerdem ein Verbot von Macheten und filmreifen „Zombie-Messern“. Warum ausgerechnet Elba? Ist das ein Identifikationsangebot für die Täter? Gegenüber der BBC erklärt ein junger Syrer aus Newcastle: „Das Tragen von Messern wird immer beliebter, weil die Leute sich für Gangster halten.“ Die Mutter des schon 2013 erstochenen Tom Brittain aus Colchester glaubt, dass ein Mangel an Zugehörigkeit „die Jugendlichen“ in Gangs, Drogenhandel und Messerkriminalität hineinzieht.

Derweil beginnt ein Londoner Integrationsprojekt auf Grund zu laufen: Es geht um die multikulturelle Michaela-Community-Schule im Wembley-Viertel, die ihren Erfolg auf eine strikte Disziplin und vegetarische Kost für alle zurückführt. Doch nun hat ein Schüler wegen des Verbots von Gebetsräumen Klage eingereicht. Es handelt sich natürlich um einen Muslim, und die Klage geht nicht von ihm alleine aus. Ihm stehen 100.000 Pfund und mehr an staatlicher Prozesskostenhilfe zur Verfügung. Die von Ex-Premiersgattin Cherie Blair mitbegründete Anwaltskanzlei Matrix Chambers vertritt den Fall. Zuvor soll der Kläger andere Schüler bedrängt haben, weil sie den Ramadan nicht einhielten. Daneben gab es eine Aktion von 30 Schülern, die muslimische Gebetsrituale im Pausenhof organisierten. Dagegen schritt die Schulleitung ein.

An einer anderen Schule im Osten Londons, St Stephen’s, wurde ein Hijab-Verbot für Grundschüler (!) nach Protesten von Eltern fallengelassen. An vielen Stellen im Land kritisieren muslimische Eltern den Sexualkundeunterricht an Schulen – nicht nur für Kinder im Grundschulalter, sondern überhaupt. Weit vom nordenglischen Batley in West Yorkshire entfernt, muss sich ein Lehrer seit mehr als zwei Jahren versteckt halten, weil er die Mohammed-Zeichnungen aus Charlie Hebdo im Religionsunterricht gezeigt hat. Er bekam umgehend Morddrohungen. Mit seiner Partnerin und vier kleinen Kindern lebt er unter neuer Identität weit entfernt von seiner alten Schule, außerhalb von Yorkshire, der einst größten Grafschaft des Landes. Unbekannt, ob er noch Lehrer ist. Ein Anwalt der Gegenseite behauptet freilich, der Lokal-Exilierte könne ohne Lebensgefahr nach Batley zurückkehren. Es sei eine Schande, dass er dieses Angebot ausgeschlagen habe.

Drei Wege: Israel, Japan oder „der Westen“

Das Vereinigte Königreich, das sich gerne für sein Diversitäts-Management auf die Schulter klopft, kommt heute an seine Grenzen allein durch jene, die dort seit einer Generation oder länger leben. In dieser sich aufbauenden Stimmung wird auch die aktuell hinzukommende Migration diskutiert, inzwischen auch die legale Zuwanderung, die freilich durch die vielen „Anker“ im Lande enorm erleichtert wird.

Ex-Brexit-Unterhändler David Frost verwies im Telegraph auf drei Wege, die man in Sachen Demographie gehen kann: 1. „Israel“, was allerdings drei Kinder pro einheimischer Frau bedeuten würde. 2. „Japan“, wo eine schrumpfende Bevölkerung für eine wirtschaftliche Stagnation sorge. 3. „Der Westen“, der sich für den Import einer „Ersatzbevölkerung“ entschieden habe. Doch auch diese Massenzuwanderung habe dem Wachstum nicht geholfen, vielmehr hohe Staatsausgaben hervorgerufen und öffentliche Dienstleistungen belastet. Der Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird erst nach Jahren deutlich.

Und Frost stellt noch eine bohrende Frage: Hat die hohe Zuwanderung dem Wachstum vielleicht sogar geschadet, hat sie die Produktivität der britischen Wirtschaft gesenkt? Frost macht darauf aufmerksam, dass bei Fortsetzung des jetzigen Kurses in den 2050er Jahren ein Drittel der Briten ausländische Wurzeln hätte, nach 2080 vermutlich sogar die Hälfte. Das sind Vielfache des heutigen Anteils, und so kommt der konservative Politiker zu dem Ergebnis, dass Immigration keines der Probleme auf der Insel löst.

Demokratische Entscheidung eines souveränen Parlaments

Vor genau diesem Hintergrund täglich einprasselnder Nachrichten und Ansichten hat die konservative Regierung – in wechselnder Zusammensetzung – über ihr neues Ruanda-Gesetz beraten und es am vergangenen Donnerstag in dritter Lesung beschlossen. Das neue Gesetz wurde notwendig, nachdem ein Gericht sich gegen die Anwendung des vorangegangenen Braverman-Gesetzes zur Anwendung des britischen Ruanda-Abkommens ausgesprochen hatte.

Damit hat ein vom Volk gewähltes, souveränes Parlament eine demokratische Entscheidung getroffen und ein Gericht in seine Grenzen gewiesen. Wer immer dagegen aufstehen sollte, würde also nicht die Demokratie, schon gar nicht den Souverän verteidigen, sondern etwas ganz anderes. Allerdings ist da noch das Oberhaus, in dem 184 Crossbenchers zusammen mit 26 geistlichen Lords das Zünglein an der Waage bilden. Die Prälaten sind dabei auch in England notorisch einwanderungsfreundlich. Das neue Ruanda-Gesetz wurde von ihnen noch gar nicht diskutiert. Doch am Montagabend haben die Lords mit einer Mehrheit von 43 Stimmen das Ruanda-Abkommen selbst auf Eis gelegt und weitere Sicherheitsgarantien gefordert – über jene hinaus, die Ruanda dem Königreich schon zugesagt hat.

Erfahrene Beobachter stellen das Singuläre des Falls fest: Es sei das erste Mal, dass die Lords die Ratifizierung eines bilateralen oder sonstwie internationalen Abkommens blockiert haben. Das allein zeigt schon die Ausnahmesituation, in der sich die britische Öffentlichkeit befindet. Allerdings dürfte das Unterhaus diese Blockade leicht lösen können. Die Lords-Entscheidung darf aber als schlechtes Omen für die neue Gesetzgebung und den Ruanda-Plan an sich gelten.

Die Gegner der Regierung behaupten nun noch grundlegender, das neue Ruanda-Gesetz verstoße gegen „das Recht“, ja, es erhebe sich über „das Recht“ und sei insofern ein Schritt in Richtung „Totalitarismus“. So etwa ein gewisser Lord Carlile (bis 2017 ein Lib Dem, seitdem Crossbencher), der einst in offizieller Mission die britische Antiterrorgesetzgebung begutachtete. Das sind ähnliche Töne, wie sie in Deutschland wachwerden, wo es um politische Ansichten zu Migration und Remigration geht. Aber sind sie auch berechtigt?

Die Antwort aus Downing Street ist nein. Im Vereinigten Königreich gibt es noch eine (für die meisten) klare Unterscheidung zwischen internationalen Verträgen, die von der Exekutive unterschrieben oder von der Legislative ratifiziert sein mögen, und dem Recht, das dort ausschließlich vom Parlament ausgeht. Im neuen Ruanda-Gesetz heißt es deshalb: „das Parlament des Vereinigten Königreichs ist souverän, und die Gültigkeit eines Gesetzes wird durch das Völkerrecht nicht berührt.“

Schon von daher ist die Behauptung von Lord Carlile ziemlich kurios, ein Gesetz des Parlaments verstoße gegen „das Recht“. Denn diese Fragen sind alle längst geregelt, übrigens auch in anderen Westminster-Demokratien. Das Recht steht in ihnen nicht über dem Parlament, sondern wird von demselben – also von gewählten Abgeordneten – immer neu bestimmt und gemacht. Das Oberhaus hat hier eher eine beratende denn entscheidende Funktion.

Der weitere Gang: Sunak warnt vor Lords und Labour

Im neuen Gesetzestext werden übrigens sogar jene internationalen Verträge aufgezählt, deren Auswirkungen die Konservativen in diesem Fall ausdrücklich ausschließen wollen. Dazu gehören Flüchtlings- wie Menschenrechtskonventionen, sogar die UN-Konvention gegen Folter. Sie alle sollen künftig keine Flüge nach Ruanda mehr verhindern können, einfach weil man sich bei Ruanda sicher zu sein scheint, dass es dort sicher ist. Auch daran erinnert das Gesetz. Dass eine deutsche Regierung sich ähnliches traut, liegt noch in weiter Ferne. Aber natürlich ist Großbritannien uns in vielem voraus.

Rishi Sunak hat sein Ruanda-Gesetz im Unterhaus also durchbekommen, obwohl fünf Clubs der Parteirechten gedroht hatten, es scheitern zu lassen, wenn es nicht die von ihnen gewünschten Verschärfungen gäbe. So verlangten die Parteirechten, dass abzuschiebende Ausländer die Möglichkeit zum Einspruch weitgehend genommen wird. Die zentristischen One-Nation-Tories wiederum wollten keine Verschärfungen sehen, weil sie um linke Wechselwähler fürchteten. Heraus kam ein Kompromiss, der vielleicht nicht viel bewirken wird, der aber im Prinzip sehr klar ist: Die konservative Regierung will die widerrechtliche Migration verhindern und abschrecken, vor allem wenn sie sich „unsicherer und illegaler Routen“ bedient.

Sunak warnte (kurz vor der Blockade des Ruanda-Abkommens) sowohl vor den Lords, die das Gesetz noch aufhalten können, als auch vor der Labour-Partei und deren Anführer Keir Starmer, die bei einem Machterwerb alle Fortschritte zunichtemachen könnten. Dann hieße es, so Sunak wörtlich, „zurück auf Start“ für die Asyl- und Migrationspolitik des Königreichs. Er fragt in Richtung des Oberhauses: „Wird die Opposition im ernannten Oberhaus versuchen, den Willen des Volkes, wie er vom gewählten Haus zum Ausdruck gebracht wurde, in dem nicht gewählten Haus zu vereiteln, oder wird sie mitmachen und das Richtige tun?“ Das nennt sich wohl politischer Druck auf ungewählte Größen im Staate. Aber Sunak spürt auch Druck von den eigenen Bänken.

Labours Lachen und geschlossene Reihen bei den Konservativen

Letztlich stimmten nur elf Tory-Rebellen gegen das Gesetz, was Sunak als Geschlossenheit im Kampf gegen die kleinen Boote las. Ex-Innenministerin Suella Braverman blieb allerdings bei ihrer Ablehnung, was weiterhin Coup-Gerüchte im konservativen Lager befeuert. Bleibt Sunak bis zu den Wahlen in knapp einem Jahr am Steuer?

Andere Abgeordnete hatten sich durch lachende Labour-Kollegen in der Lobby zu einem Ja bewegen lassen. Diesen Triumph gönnten die Rebellen dem eigentlichen politischen Gegner nicht – so der Red-Wall-Abgeordnete Lee Anderson im Video. Sunak versprach, dass die Regierung einstweilige Verfügungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes ignorieren werde. Die Rede ist auch von „Pyjama-Verfügungen“, weil diese oft so knapp vor Durchführung einer Abschiebung eingehen.

Die größte Gefahr für das Gesetz könnte nun sein, dass es das Oberhaus unbeschadet passiert, um dann an der Realität zu scheitern wie bisher alle Flüge nach Ruanda. Das lag aber auch an den internationalen Rechtsabkommen, die im neuen Gesetz alle als irrelevant für die Aktionen des britischen Parlaments und Staats angesehen werden. Doch Sunak beharrt darauf: Bis zum Sommer werde es Flüge nach Kigali geben.

Keir Starmer ließ seine Abgeordneten zwar gegen das Ruanda-Gesetz stimmen, machte aber an anderer Stelle eine brauchbare Oppositionsarbeit. So konfrontierte er Sunak mit der Zahl 85 Prozent oder auch 4.250 Personen. So viele von insgesamt 5.000 ausreisepflichtigen Ausländern hätten die britischen Behörden nämlich in letzter Zeit schlicht „aus den Augen“ verloren. Auf die Frage, wie das sein könne, wusste Sunak nichts Substantielles zu erwidern. Starmer wollte wissen, wo die verloren gegangenen Ausreisepflichtigen sind. Aber genau das konnte die Regierung ihm nicht sagen. An solchen Kleinigkeiten sieht man, dass etwas schief läuft in einem Politikfeld. Neuigkeiten sagen nun, dass 16.000 illegale Bootsmigranten Stellen in dringend nachgefragten Berufen vermittelt wurden – die Arbeitserlaubnisse kamen vom Londoner Innenministerium. Nigel Farage kritisiert das auf X und hält das Ruanda-Gesetz demgegenüber für unmaßgeblich.

In Deutschland immer wieder Handlungsdruck, aber keine großen Linien

In Deutschland scheinen die Kleinigkeiten ebenso wie die großen Linien der Migrationspolitik längst irrelevant geworden – um nicht vom „Abschieben im großen Stil“ (Olaf Scholz) zu sprechen. Auf die gleichsinnigen Ankündigungen im Koalitionsvertrag („Rückführungsoffensive“) folgte bis heute nur ein missratenes Gesetz, das laut Regierungseinschätzung für 600 zusätzliche Abschiebungen in einem Jahr sorgen soll.

Vor allem Unionsvertreter (Frei, Linnemann, Throm) haben ähnliche Vereinbarungen wie den britischen Ruanda-Vertrag gefordert – etwa mit den aus deutscher Sicht sicheren Drittstaaten Ghana oder Senegal, was aber gänzlich folgenlos blieb. Niemand aus der Ampelkoalition ging darauf ein. Die Union müsste sich also andere Koalitionen suchen, wenn sie ihre „Ideen“ umsetzen will. Die Regierung von Ruanda bleibt angeblich offen für weitere Abkommen nach britischem Vorbild – Deutschland könnte sich hier beteiligen. Dänemark und Österreich suchen nach Wegen, ähnliches in für EU-Mitglieder zu ermöglichen.

Die AfD geriet seit Anfang des Monats in eine weniger hitzige denn eiskalt durchgezogene Diskussion, die wohl noch nicht an ihrem natürlichen Ende angelangt ist. Der Streitpunkt ist auch der Einsatz der AfD für Remigration in größerem Ausmaß, also etwa für die Ausreise und Rückkehr von Kriegsflüchtlingen in ihre Heimat. Durch überwiegend gefälschte „Recherchen“ wurde die Partei nun mit dem Redner und Buchautor Martin Sellner in Zusammenhang gebracht, der ähnliches, aber nicht notwendigerweise dasselbe fordert. Die AfD will dazu rechtsstaatliche Vorschläge einbringen, was auch Sellner so zu sehen scheint. Dagegen bewegen sich SPD und CDU mit ihren Ad-hoc-Vorschlägen zum Vorgehen gegen Clankriminalität oder auch zu Abschiebungen oft am Rande des Verfassungsgemäßen, was allerdings den immer wieder entstehenden Handlungsdruck anzeigen dürfte. Nur ein zentraler Auslass, ein funktionierendes Ventil ist offenbar nicht geplant. Darin unterscheidet sich London von Berlin.

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