In Frankreich trafen sich am Sonntag Regierungsvertreter aus Deutschland, Belgien und Holland mit ihrem französischen Innenminister Gérald Darmanin. Auf der Tagesordnung stand der Kampf gegen das Schleuserwesen in der Europäischen Union. Dazu wollte man die polizeiliche, juristische und humanitäre Zusammenarbeit verbessern.
Eigentlich hatte Darmanin auch seine britische Amtskollegin Priti Patel eingeladen, doch nach größeren Uneinigkeiten zwischen Boris Johnson und Präsident Emmanuel Macron wurde Patel wieder ausgeladen. Normalerweise müsste man von einem Affront sprechen, aber eventuell ist es den Briten ganz recht, die EU-Europäer einmal im eigenen Saft schmoren zu lassen.
Boris Johnson hatte am Freitag einen Offenen Brief an Macron geschrieben, in dem er fünf Schritte von den Franzosen forderte, darunter gemeinsame oder gegenseitige Patrouillen im Ärmelkanal, die Nutzung von Radar und Bodensensoren sowie Verhandlungen über die Rücknahme von Migranten durch Frankreich: »Solange es ein solches Rückführungsabkommen auf der EU-Ebene noch nicht gibt, schlage ich vor, dass wir ein bilaterales Abkommen schließen, damit alle illegalen Migranten, die den Ärmelkanal überqueren, zurückgeschickt werden können.« Besonders dieser letzte Punkt dürfte den französischen Präsidenten verärgert haben. Er sprach von der gespaltenen Zunge der Briten, wobei nicht klar ist, welche Aussagen Londons einander widersprechen sollen. Zweifel bleiben, dass die EU-Staaten in Abwesenheit Großbritanniens Großes bewegen werden. Doch die britische Regierung ist immerhin auf der Arbeitsebene bei dem Treffen vertreten. Vielleicht ergibt sich so, hinter den Kulissen, ein konstruktiver Ansatz.
Doch NGOs und sogenannte Hilfsorganisationen befürchten wohl genau das, wenn sie eine ausschließlich »repressive und sicherheitsbezogene« Antwort an die Wand malen, so wie eine Vertreterin der Hilfsorganisation Secours Catholique gegenüber AFP. Secours Catholique, ein offizielles Hilfswerk der katholischen Kirche in Frankreich und Mitglied von Caritas Internationalis, arbeitet mit in der sogenannten »groupe décès« (dt. »Gruppe Todesfall«), die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Identitäten verunglückter Bootsmigranten zu recherchieren und an die Öffentlichkeit zu tragen. Es geht kaum nur um ein würdiges Begräbnis mit einem Namen am Grab. Schon eher geht es um eine Veröffentlichung der Namen zum Zweck der Agitation. Nun ruft man auch noch den französischen Staat zur Hilfe: Mit der aktuellen Aufgabe seien die privaten Organisationen überfordert.
Am vergangenen Mittwoch waren 27 Migranten beim Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren, ums Leben gekommen. Laut anderen Migranten aus der Küstenregion und mutmaßlichen Verwandten der Toten handelte es sich um irakische Kurden, Iraner und Afghanen.
Johnson: Ein Rückführungsabkommen wie das mit Weißrussland
Boris Johnson hat geschickt gehandelt, indem er nicht zögerte, das Thema groß aufzuhängen. Die Indiskretion des auf Twitter geposteten Briefs gehörte dazu. Denn auch wenn sie kein großes Publikum finden, so versuchen NGOs und andere ›Hilfsorganisationen‹ unterschwellig aus solchen Vorfällen Kapital zu schlagen – im Sinne der Bereitstellung ›sicherer Migrationsrouten‹. Ein Schlüsselsatz des Briefs lautet: »Die EU hat Rückführungsvereinbarungen mit [vielen] Ländern, darunter Weißrussland und die Russische Föderation; ich hoffe, eine solche Vereinbarung kann auch mit dem Vereinigten Königreich schnell geschlossen werden.« Johnson packte sich Macron sozusagen bei dieser sich bietenden, erstbesten Gelegenheit. Und Macron nahm es ihm füglich übel.
Der britische Premier verweist dabei insbesondere auf verschiedene internationale Dokumente, die selten in den Fokus der europäischen Diskussion geraten: Das Palermo-Protokoll der Vereinten Nationen zum Menschenhandel (15. November 2000), das UN-Zusatzprotokoll zur Schlepperei von Migranten vom Januar 2008 (in Ergänzung des Übereinkommens gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität) und die Menschenhandelskonvention des Europarats vom Mai 2005, die im wesentlichen dieselben Inhalte auf eine ›europäische‹ Ebene herunterbricht. Zusammen legen die Konventionen Zeugnis vom starken Wachstum dieses kriminellen Wirtschaftszweigs in den letzten Jahren ab.
Morawiecki in London: Polen und Briten haben gemeinsame Prioritäten
Sie zeigen außerdem, dass Staaten auf Zusammenarbeit angewiesen sind, wenn sie – abseits einschneidender Maßnahmen wie Seegrenzschutz und der Errichtung von Barrieren – illegalen Menschenhandel verhindern wollen. Großbritannien stöhnt unter der großen Last laufender Asylverfahren. 54.000 sind es derzeit laut dem Wochenmagazin The Spectator, noch 15.000 mehr als vor der Pandemie. Daneben gibt es 40.000 abgelehnte Asylbewerber, die auf ihre Abschiebung warten. Doch auch auf der Insel finden nur sehr, sehr wenige Rückführungen statt. In diesem Jahr, so verriet unlängst ein Minister, wurden nur fünf illegale Bootsmigranten abgeschoben.
Priti Patel stellte fest: »Das Vereinigte Königreich kann dieses Thema nicht allein bewältigen.« In ganz Europa müssten alle Verantwortung übernehmen. Großbritannien werde weiterhin Druck in diese Richtung ausüben. Die britische Innenministerin kritisierte auch den vollständigen Verzicht auf Grenzschutz in der Schengen-Zone. Es ist, wie wenn sich eine Gefechtslage aus dem Brexit-Prozess umgekehrt hätte: Damals bestand die EU lange darauf, auch nach dem EU-Austritt der Briten noch auf der Insel mitzureden. Heute sagt London dem Kontinent, nicht wo es langgeht, aber was es von ihm erwartet.
Am Freitag war Mateusz Morawiecki in Downing Street. Gemeinsam beklagte man die verunglückten Migranten vom Vorvortag. Zugleich war Morawiecki froh, die Briten in solchen Zeiten, da die Welt um Polen herum »verrückt« spiele, an seiner Seite zu wissen. Man müsse sich auf zentrale Prioritäten konzentrieren, mit Großbritannien sei man sich einig, singe sozusagen dieselben Hymnen. Ganz ähnliche Worte hatte der polnische Premier schon zuvor in Berlin gefunden, war aber auf geringeres Verständnis gestoßen. Boris Johnson stimmte zu und versicherte, all das zeige, dass man in diesen Fragen noch stärker zusammenarbeiten müsse.