Nachdem ein ähnliches Ansinnen 2015 abgelehnt worden war, stimmt am Freitag das britische Unterhaus erneut über ein Gesetzesvorhaben ab, das assistierten Suizid in England und Wales ermöglichen soll. In Schottland soll ein eigener Gesetzentwurf eingebracht werden. Initiiert wurde das Vorhaben von der Labour-Abgeordneten Kim Leadbeater, allerdings herrscht kein Fraktionszwang; der Ausgang ist daher ungewiss.
Begleitet wird die Abstimmung um assistierten Suizid, der, wenn von Dritten ausgeführt, überall in der Welt, außer in Deutschland, unumwunden als „Euthanasie“ bezeichnet wird, von einer lautstarken Diskussion: Befürworter behaupten, lediglich ein Sterben in Würde ermöglichen zu wollen. Kritiker halten dem entgegen: „Kill the bill, not the ill“ („Töte das Gesetz, nicht den Kranken“):
Unzureichender Wissensstand aufgrund von Angst
Viele Menschen haben große Angst vor Schmerzen und dem Verlust der Handlungsfähigkeit, setzen sich zugleich aber aufgrund dieser Angst mit dem eigenen Lebensende nur unzureichend auseinander. Die schemenhafte Furcht, selbst einmal in einer ausweglosen Situation unter unerträglichen Schmerzen dahinsiechen zu müssen, ist hartnäckig. Obwohl Palliativmediziner durchweg darauf hinweisen, dass etwa die Gabe lebensverkürzender Schmerzmittel erlaubt ist, werden Möglichkeiten der Palliativmedizin in der öffentlichen Diskussion kaum gewürdigt.
Die Ermöglichung des assistierten Suizids erscheint als „humane“ Lösung, und soll ja lediglich dem seltenen, tragischen Einzelfall gerecht werden: Auch in England sind die vorgesehenen Regelungen streng. So soll Euthanasie im engen Sinne verboten bleiben, der Patient muss das Mittel selbst einnehmen. Das Verfahren darf nur Anwendung finden, wenn ansonsten der Tod des Patienten innerhalb von sechs Monaten erwartet wird, er muss den Sterbewunsch mehrfach äußern und eine Bedenkfrist einhalten.
Zahlen assistierter Suizide steigen rasant
Mit diesen Bestimmungen sollen negative Auswirkungen verhindert werden. Doch die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass überall dort, wo Tötung auf Verlangen legalisiert wird, gleich, in welch engen Grenzen, eine Normalisierung des Prozesses eintritt, und der Einzelfall auf immer mehr Menschen ausgedehnt wird.
Mit verheerenden Folgen: Laut Telegraph verdoppelte sich die Zahl der durch assistierten Suizid Getöteten weltweit innerhalb von fünf Jahren auf über 30.000 im letzten Jahr.
Besonders notorisch sticht Kanada hervor. In Québec und British Columbia war assistierter Suizid 2022 für 5,5% bzw. 6,6% der Todesfälle verantwortlich. Von Ausnahmefällen kann also nicht die Rede sein.
Hier heißt das staatlich erlaubte Tötungsprogramm des Gesundheitswesens übrigens zynischerweise „MAiD“, „Dienerin“. Der Name suggeriert, dass hier im Dienst des Kranken gehandelt werde. Aber Medical Assistance in Dying hat die inhärente Grausamkeit eines Gesundheitssystems, das zuweilen lieber die Tötung des Patienten finanziert statt seine Behandlung, schonungslos offengelegt.
Die ursprünglich auf schwere, als unheilbar geltende Krankheiten beschränkten Maßnahmen sollen mittlerweile auch auf Diagnosen wie psychische Krankheiten ausgeweitet werden – die entsprechende Anpassung des Gesetzes wurde allerdings wiederholt verschoben, die zuletzt für März 2024 angesetzte Änderung soll nun erst 2027 greifen.
Bedrückende Realität: Assistierter Suizid als Gesundheitsleistung
Regelmäßig machen in Kanada Fälle Schlagzeilen, die zeigen, dass der tragische Einzelfall allzuoft eigentlich ein Fall von unterlassener Hilfeleistung ist: Da sind Obdachlose und Drogenabhängige, die sich selbst aufgegeben haben, und deshalb MAiD in Anspruch nehmen; eine Frau mit schweren Allergien, die keine erschwingliche Wohnung fand, in der keine für sie schädlichen Chemikalien verwendet wurden, hielt dem Leidensdruck nicht mehr stand. Besonders verstörend: Aus Angst, dass man ihr nach Jahren der verzweifelten Suche nach Hilfe auch den assistierten Selbstmord vorenthalten könnte, ließ sie verfügen, dass ihr Fall erst nach ihrem Ableben öffentlich gemacht werden solle.
Veteranen, die wegen posttraumatischer Belastungsstörungen um Hilfe anfragten, wurde nahegelegt, sich doch suizidieren zu lassen. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Veteranin und Paralympionikin Christine Gauthier. Als sie einen Lift für ihren Rollstuhl beantragte, riet man ihr zu assistiertem Suizid. Die Logik des finanziellen Drucks auf Gesundheits- und Sozialysteme führt dazu, dass unter Umständen die Tötung des Patienten einer teuren Behandlung vorgezogen wird: Statt Hilfe Tod.
Während immer wieder Berichte das Leiden derer bleuchten, die an ihrem Sterbewunsch festhalten, und dafür unter Umständen sogar ins Ausland gehen, bleiben die zahlreichen Geschichten jener, die von einer rücksichtslosen Gesellschaft „freiwillig“ aus dem Leben gedrängt werden, häufig im Dunkeln und erregen weniger mediales Echo. Dementsprechend sind sie in der Öffentlichkeit weniger präsent.
So können sich Befürworter solcher gesetzlicher Regelungen weiterhin auf Mitleid, Würde und Selbstbestimmung berufen; obwohl zahlreiche Fälle belegen, dass assistierter Suizid eben gerade aus gegenteiligen Gründen „gewählt“ wird; obwohl die Tötung des Leidenden ja gerade bedeutet, sich des – kräftezehrenden – Mitleiden-Müssens zu entziehen, obwohl die Würde eines Menschen danach verlangt, dass er an der Hand, nicht durch die Hand eines Menschen sterben darf. Und obwohl das Maß der Autonomie eines Menschen unter Schmerzen, Leidensdruck, Angst oder auch sozialem Druck fraglich ist.
Niederlande: 5,4% der Todesfälle aufgrund von Assistiertem Suizid
In den Niederlanden, die mittlerweile über 20 Jahre Erfahrung mit entsprechender Gesetzgebung haben, können de facto – bei anderslautender Gesetzeslage – Menschen jeden Alters bei Vorliegen „unerträglichen Leidens“ durch Ärzte getötet werden. Abgesehen davon, dass dieser Parameter nicht objektiv messbar ist, wird hier über das sogenannte Groningen-Protokoll selbst die Tötung von Kleinkindern und Säuglingen geregelt, um Ärzte faktisch vor Strafverfolgung zu schützen, obwohl die gesetzlich zwingend notwendige Zustimmung des Patienten in solchen Fällen nicht eingeholt werden kann.
Mit 5,4% der Todesfälle ist assistierter Suizid bzw. Euthanasie auch in den Niederlanden alles andere als die Seltenheit, als die er stets propagiert und eingeführt wird. Zudem stiegen hier 2023 Fälle aufgrund von psychischen Krankheiten um 20%. Angesichts der Folgen etwa der Covid-Krise für die Psyche stellt sich durchaus die beunruhigende Frage, ob die angemessene Antwort auf mangelnde Resilienz und großen Leidensdruck wirklich die staatlich erlaubte Tötung sein kann.
Die Brisanz des Themas wird allerdings weithin geschickt verborgen. In einer Erörterung der Thematik in der Stanford Encyclopedia of Philosophy schreibt Robert Young in Bezug auf die Evaluation verschiedener niederländischer Studien bereits 2017 bzw. 2018 unbekümmert, dass kein „slippery slope“, also keine „abschüssige Bahn“ existiere: Bei 60% der in den Studien aufgeführten Fälle hätte es sich klar um „freiwillige Euthanasie“ gehandelt. Heißt das, dass man bei 40% nicht sicher davon ausgehen kann? Tatsächlich: In der „großen Mehrheit“ der übrigen Fälle seien die Betroffenen nicht „competent“, d.h. nicht zustimmungsfähig gewesen. Obwohl das niederländische Gesetz diese Zustimmung voraussetzt. Kein Problem laut Young: Wo Patienten nicht mehr zur Einwilligung fähig gewesen seien, hätten zumeist enge Angehörige in Abstimmung mit den Ärzten entschieden, so dass man diese Fälle nicht als unfreiwillig qualifizieren könne. Unfassbar: Da entscheiden also nun Dritte darüber, ob der ohnehin lästig und teuer gewordene Unterhalt der bettlägerigen, dementen Großmutter noch nötig ist: Alte und Kranke werden auf Leben und Tod ausgeliefert, aber eine abschüssige Bahn will man darin nicht erblicken? Selbst bei eindeutigen Bestimmungen ist also ein Missbrauch des assistierten Suizids keine Ausnahme, sondern regelmäßig der Fall.
Hinzu tritt der indirekte Druck – insbesondere auf Frauen – es doch ihren Nachkommen leichter zu machen, ihnen Mühe und finanzielle Last durch den eigenen „Freitod“ zu ersparen. Für Kim Leadbeater, die das geplante Gesetz für England und Wales eingebracht hat, ist dies nicht etwa eine furchtbare Perversion von Verantwortungsgefühl und Liebe, sondern berechtigt: Sich als Last zu fühlen, sei ein legitimer Grund, sich töten (lassen) zu wollen.
Die Dehumanisierung des Gesundheitssystems und der Gesellschaft ist so nicht etwa eine mögliche, sondern eine zwangsläufige, bereits empirisch fassbare Folge, wenn Ärzte ihren Beruf nicht mehr auf Grundlage des hippokratischen Eids ausüben, und zu Erfüllungsgehilfen von Sparmaßnahmen, sozialer Kälte und Mitleidlosigkeit werden.
Wird Großbritannien den warnenden Beispielen folgen?
Es darf mit Spannung erwartet werden, ob Großbritannien den Weg, den die Niederlande, Belgien oder Kanada gewählt haben, beschreiten wird, oder ob den warnenden Stimmen aus Gesellschaft und Gesundheitssystem Gehör geschenkt wird.
Wer aber Individuen und Gesellschaft aus der Verantwortung füreinander entlässt, indem man die Tötung Schwacher und Kranker befürwortet, statt ihnen Beistand zu leisten, kündigt letztlich eine zivilisatorische Grundlage auf.