Tichys Einblick
Bravermans Abschiedsbrief an Sunak

Die kleinen, freien Boote und die gefesselten Staaten Europas

Kurz vor England konnten französische Küstenschützer ein paar illegalen Migranten nicht aufhalten. Eigentlich eine Alltagsszene. Doch sie bezeichnet die Mängel an vielen Grenzen Europas. In Großbritannien bricht die Zeit ohne Suella Braverman an. In einem Brief erklärt sie, warum Sunak scheitern wird.

Migranten in Dünkirchen am 19. September 2023. Neben Calais gilt der Ort als Abfahrtsstätte für in das Vereinigte Königreich.

IMAGO / ZUMA Wire

Es ist leider das Gleiche an fast allen europäischen Grenzen: Die Grenzpolizisten machen freundliche Angebote, die illegalen Migranten nehmen sie nicht immer an. Die Beamten sind durch Recht, Gesetze, Dienstvorschriften gebunden. Die Migranten sind frei zu tun, was sie wollen. Jedenfalls auf hoher See, vor Frankreichs Küsten, machte es nun genau diesen Eindruck, wie ein internationale Agenturmeldung zeigt.

Am vergangenen Montag retteten französische Küstenschützer 201 Migranten vor Calais, die sich gerade auf den Weg nach England gemacht hatten. Das bedeutet, sie näherten sich den vielleicht manövrierunfähigen Schiffen und luden die Migranten ein, um sie zurück nach Frankreich zu bringen. Ein Verfahren, das normal sein sollte, denn niemand zweifelt an der Sicherheit Frankreichs für diese Migranten. Eher ist es andersherum. Allerdings konnten die französischen Küstenschützer eine unbestimmte Anzahl weiterer Migranten – ungefähr eine Bootsladung – nicht in derselben Weise vor drohendem schlechtem Wetter retten. Die Migranten weigerten sich, brachten ihren Bootsmotor wieder zum Laufen und fuhren den Franzosen davon. Die schickten angeblich noch ein Überwachungsboot hinterher.

„Sie haben es geschafft, den Motor wieder zu starten, und sich geweigert, sich retten zu lassen“, sagte die Präfektur dazu. Das klingt schon leicht genervt, und man könnte es verstehen. Denn warum sollte eigentlich diese Ecke ganz im Norden Frankreichs so beständig von einer Plage wie den dort kampierenden und wild auf den Ärmelkanal zusteuernden Migranten heimgesucht werden? Es ist ein kapitales Regierungsversagen, und man kann es vermutlich der Pariser ebenso wie der Londoner Regierung zuschreiben.

Wie die französischen Behörden weiter mitteilten, können Migranten in solchen Fällen nicht dazu gezwungen werden, das Boot der Küstenwache zu betreten, da die Gefahr bestehe, dass sie dabei ins Wasser fallen und einem Temperaturschock oder sonst ein Trauma erleiden.

Am Sonntag haben es laut der britischen Regierung 615 Migranten in zwölf Booten von Calais bis nach England geschafft. Eine Pause zwischen zwei Stürmen hatte ihnen die Überfahrt erlaubt. Am selben Tag wurden 67 Migranten in einem Boot von den Franzosen wieder nach Calais gebracht, von wo aus sie es dann vermutlich bald wieder versuchen werden. Ein weiteres abgefangenes Boot enthielt 134 Personen, ein anderes 21. Insgesamt wächst aber die Zahl der Passagiere pro Boot.

Die Londoner Regierung hat den Franzosen zuletzt 540 Millionen Euro (auszuzahlen bis 2026) dafür zugesagt, dass sie das eigene Polizeiaufgebot verstärken und vermehrt Migranten im Ärmelkanal abfangen. Das entspricht immerhin zehn Prozent des französischen Grenzschutz-Budgets. In den letzten Jahren gelang das aber nicht einmal bei der Hälfte der Boote. Seit 2018 wurden 3.400 Boote gestoppt, 3.500 nicht; 81.000 Bootsmigranten wurden abgefangen, 111.000 nicht, wie Politico berichtet. Inzwischen betreibt Paris hier auch einigen Aufwand, vor allem dank dem britischen Geld. Seit Beginn des Jahres gab es mehr als 26.000 illegale Einreisen auf die Britischen Inseln. Die tatsächliche Zahl könnte aber höher liegen, da nicht alle Grenzübertreter auf frischer Tat von den Behörden ertappt werden. Vielerorts gibt es Szenen wie in Deutschland auch.

Braverman kritisiert das Festhalten am Straßburger Gerichtshof

Am Montag war zudem die britische Innenministerin Suella Braverman entlassen worden, die für einen harten Kurs in Fragen der „kleinen Boote“ stand, sich aber laut ihrem Abschiebsschreiben an Premierminister Rishi Sunak mit ihren Forderungen und Erinnerungen an das konservative Wahlprogramm kaum durchsetzen konnte. Sie schreibt: „Wie Sie wissen, habe ich das Angebot, als Innenministerin zu dienen, unter bestimmten Bedingungen angenommen.“ Dazu zählte laut Braverman ein Auslaufen der Gültigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention (sowie auch des britischen Human Rights Acts) in Fragen der illegalen Migration, um die Boote auf dem Ärmelkanal zu stoppen.

Die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundlage für die Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) ist, gibt den Migranten die Möglichkeit, eine Vielzahl von Rechten einzufordern und so zum Beispiel ihre Abschiebung oder Rücküberstellung in sichere Herkunfts- oder Transitländer zu verhindern. Es ist ein ähnliches Spiel, wie es in Deutschland die Verwaltungsgerichte zusammen mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) treiben. Seit dem EU-Austritt besitzen Urteile des EuGH für Großbritannien keine Wirksamkeit mehr. Im Falle des Straßburger EGMR ist das anders, denn das ist der Gerichtshof des Europarats (um einiges älter als die EU), dem das Vereinigte Königreich immer noch angehört.

Braverman stellt fest, dass schon seit einiger Zeit klar war, dass Sunak die Menschenrechtskonvention des Europarats nicht verlassen wollte, ebenso wenig wollte er den britischen Human Rights Act abschaffen oder reformieren, obwohl Braverman beides als Voraussetzung für einen Erfolg im Kampf gegen die Invasion der Boote ansah. Man darf sich fragen, warum Sunak diesen Weg wählte, und hier führt wohl kein Weg an den „internationalen“ Kontakten Sunaks und vielleicht seiner Gefallsucht gegenüber dem „woken“ Britannien. Auch den Ruanda-Plan der Regierung sah Braverman dadurch als sehr erschwert an. Warum sie dann nicht selbst früher unter Protest zurücktrat, das ist die andere Frage. Laut ihrem Brief hat sie Sunak immer wieder an ihre gemeinsame Abmachung und die Versprechen gegenüber den Wählern erinnert, hatte aber anscheinend keinen Erfolg damit.

Sunak verrät das Wahlprogramm von 2019 und das Referendum

Braverman weist in ihrem Schreiben noch einmal deutlich darauf hin, worum es bei ihren Forderungen an Sunak ging: „Das waren keine privaten Steckenpferde von mir. Das waren unsere Versprechen gegenüber dem britischen Volk in unserem Wahlprogramm von 2019, die uns einen Erdrutschsieg einbrachten. Das war, wofür die Wähler 2016 im Brexit-Referendum gestimmt haben.“ Sunak habe auch sein eigenes Versprechen gebrochen, zu tun, „was immer es braucht“, um die Boote zu stoppen. Er habe sich zudem des „magischen Denkens“ schuldig gemacht, da er dem Glauben anhing, sich durch die anstehenden Problem durchschummeln zu können, ohne die „Meinung der besseren Stände“ (polite opinion) zu erschüttern. Das ist offenbar etwas, an das die Kulturkämpferin Braverman nicht glaubt, die immer wieder genau diese „polite opinion“ aufrüttelte und gegen sich aufbrachte.

Die anstehende Entscheidung des Supreme Court zum Ruanda-Plan der Regierung ist damit fast bedeutungslos geworden, wie Braverman schreibt. Gewönne die Regierung die Wette, dann werde sie trotzdem kaum etwas damit anfangen. Im Gesetz zur illegalen Einwanderung (eigentlich gegen sie) seien zu viele Kompromisse gemacht worden, schreibt die bis vor kurzem dafür verantwortliche Ministerin, die Umsetzung der Abschiebungen in den zentralafrikanischen Staat werde also schwierig werden. Der durchschnittliche Antragsteller werde über Monate gegen Entscheidungen der Behörden klagen können. Und die Macht des Straßburger Gerichts sei aufgrund der Intervention Sunaks in das Gesetz ungebrochen. Wenn das Supreme Court gegen die Regierung entscheidet, dürfte der Ruanda-Plan ohnehin fürs erste gescheitert sein.

Neben diesen Mühen ihrer Amtszeit regt sich Braverman auch noch über den Anlass ihres Abgangs auf. Denn auch an dieser Stelle haben sie Sunak beständig unter Druck gesetzt: das notwendige Verbot der anti-israelischen und vielfach radikal-islamischen „Hassmärsche“, die Rassismus, Einschüchterung und die Glorifizierung des Terrors in die Mitte der Gesellschaft trügen. Sie sei direkt heiser geworden über ihre diesbezüglichen Aufrufe. Das Team Sunaks habe hier auf einer anderen Auffassung beharrt, außerdem habe er selbst eindeutige Entscheidungen gescheut, um sein „politisches Risiko“ zu minimieren. Das könnte als Fazit unter dem kurzen Regnum Rishi Sunaks stehen bleiben.

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