Es gibt Geschichten, für die sich niemand in Europa zu interessieren scheint, zumindest nicht an den offiziellen Sitzen der EU in Straßburg und Brüssel. Die Linke im EU-Parlament hält lieber Anhörungen ab, in denen „Flüchtlinge“ in der EU von ihrer Enttäuschung durch die europäischen Asylsysteme berichten. „Für uns war Europa die Menschlichkeit“, sagt Hamzah Ali, Flüchtling aus dem Irak. Doch dann wurden er und andere „wie Tiere behandelt, wir waren gefangen, wir wurden nicht wie Menschen behandelt. Ich war wie versteinert, litt unter Stress und Angstzuständen und nahm schließlich Medikamente, um damit fertig zu werden.“ Das ist das – anscheinend traurige – Zwischenfazit einer Migrationsgeschichte nach Europa.
Wie anders ist es in Libyen. Im Videobericht des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera geht es um die Geschichte des Nigerianers Sammy, der erzählt, wie die libysche Küstenwache ihn abfing und für einige Zeit in Gewahrsam nahm, bevor er wieder freikam. Es dürfte eine durchaus repräsentative Geschichte sein, die so vielen Menschen passiert, angefangen vom glücklosen Versuch, nach Europa zu gelangen, und endend mit der Einsicht, dass man in Libyen auch überleben kann, wenn auch nicht so komfortabel wie in der EU. Und das ist schließlich der Grund dafür, dass viele es immer und immer wieder versuchen werden.
21.000 Migranten in Tunesien stehen 680.000 in Libyen gegenüber
Im Fokus der EU-Öffentlichkeit stand zuletzt Tunesien ob des gewaltigen Ansturms, der von dort aus derzeit auf Lampedusa und Sizilien zielt. Man kann das nicht sehr viel anders lesen denn als Neuauflage der Methode Erdogan, Lukaschenko oder auch König von Marokko. Immer geht es dabei einem EU-Nachbarn darum, sich einen Verhandlungserfolg zu sichern durch die Androhung eines unmaßstäblichen Zuwanderungsdrucks. Nun hat eben Präsident Kais Saied diesen Hebel gefunden, weil er derzeit wirklich sehr unter Druck steht durch die eigene Schuldenlast und ein drohendes IWF-Programm.
Die EU hat das nun mit knapp einer Milliarde Euro an Zuschüssen zumindest teilweise abgewandt. Das Land könnte Kredite in der doppelten Höhe gebrauchen. Eine gewisse Gerechtigkeit besteht allenfalls darin, dass Tunesien nun selbst Probleme mit den Migranten in seinen Städten bekam. Es kam zu Unruhen und Messerstechereien. Am Ende wurden Migranten Richtung Libyen abgeschoben. Doch auch die können sich ja am Ende Richtung EU auf die Reise machen.
Nach verbreiteten Schätzungen haben allein in diesem Jahr über 9.500 Migranten Tunesien erreicht, die meisten aus der Elfenbeinküste, Syrien, dem Sudan und Kamerun. Das kann zahlenmäßig natürlich nur ein Ausschnitt sein, denn durch das Land dürfte ein Vielfaches an Migranten geflossen sein. Nach anderen Quellen leben 21.000 Migranten in Tunesien, was immer noch wenig wäre im Vergleich zu den 680.000 Migranten, die sich laut offiziellen Schätzungen in Libyen aufhalten. Seit einiger Zeit wird auch diese Zahl wieder vermehrt ins Spiel gebracht.
Und ja, es fällt auf, dass vor allem junge Männer sich auf die Reise machen. Doch in vielen Fällen holen sie Frauen und Kinder via Familienzusammenführung nach, die sie zuvor in ihrem Herkunftsland zurückließen. Diese Länder sind offenkundig sicher. Eine Eheschließung im Zielland kann sich aber auch problematisch gestalten, wie der Fall des eritreischen Messermörders mit äthiopischer Braut von Illerkirchberg zeigt.
Italiens zäher Kampf der Dekrete
Im März hatte die italienische Regierung die offizielle Zahl der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer Unterorganisation der UN, aufgegriffen. Allein im letzten Jahr haben demnach 105.000 Menschen Italien über das Mittelmeer erreicht, der Großteil davon über Libyen. Dass das Land auch selbst Arbeitsmöglichkeiten für Migranten bietet, interessiert die deutsche und EU-Migrationslobby nicht. Sie ist vielmehr daran interessiert, Libyen als Unrechtsregime darzustellen, mit dem die EU in Migrationsfragen nicht zusammenarbeiten darf.
Ganz anders der anfangs zitierte Bericht des katarischen Fernsehsender Al Jazeera. Die Abfang-Erfolge bleiben laut offiziellen Zahlen die Ausnahme: 25.000 Migranten erreichten demnach dieses Jahr Italien aus Libyen, nur 6.000 wurden von der libyschen Küstenwache aufgehalten. In den Sommermonaten der vergangenen Jahre traten jeweils bis zu 10.000 Migranten die gefährliche Reise nach Italien an, um teils von (meist deutschen) NGO-Beihelfern bei der illegalen Einreise unterstützt zu werden – etwa vom Dresdner gemeinnützigen Verein Mission Lifeline e.V., dem Regensburger (teils aus dem Stadtsäckel finanzierten) Verein Sea-Eye e.V. oder den Schiffen von Sea-Watch e.V. aus Berlin-Kreuzberg, Gneisenaustraße. Zuletzt tat sich auch der französische (aber wiederum von einem Deutschen mitgegründete) Verein SOS Méditerranée mit seinem Offshoreversorger „Ocean Viking“ hervor, der ebenfalls mehrfach von den Behörden festgesetzt wurde, weil er überladen oder baulich ungeeignet war.
Einige der Schiffe wurden von der italienischen Regierung zumindest zeitweise festgesetzt und mit Geldstrafen belegt, weil sie gegen ein neues Regierungsdekret des Innenministers Matteo Piantedosi verstoßen haben, das die „Rettungsaktionen“ regelt. Dazu zählt neben dem Banksy-Schiff „Louise Michel“ auch die „Mare*go“, die Anfang Juni festgesetzt wurde, nachdem sie gleich auf ihrer ersten Fahrt (!) nicht den zugewiesenen Hafen Trapani (auf Sizilien), sondern die überfüllte Insel Lampedusa mit ihrer menschlichen Fracht angelaufen hatte.
Die „Mare*go“ hat eine Vorgeschichte als „Mare Liberum“ vor Lesbos
Die „Mare*go“ hat übrigens eine bewegte Geschichte, bildete zuvor in der Ägäis als blaugestrichene „Mare Liberum“ die Schaltzentrale des gleichnamigen Vereins, der die illegale Migration im Zusammenspiel mit Akteuren in der Türkei organisierte. Inzwischen hat das Schiff neue Betreiber, nämlich die Schweriner NGO Zusammenland gUG, die von dem „Seapunk“ Raphael Reschke angeführt wird. Aktuell berichten die Betreiber von ihrem „vierten Einsatz innerhalb von 24 Stunden“. Es scheint wie ein erneuter Rechtsbruch nach dem Vergehen der ersten Fahrt. Aber noch sind keine Konsequenzen bekannt geworden. Vielmehr hält sich die Reschke-NGO nun an die Regeln, wenn auch nölend.
Das Piantedosi-Dekret missachtet hat auch die „Sea-Eye 4“, die entgegen den behördlichen Anweisungen zwei Einsätze hintereinander fuhr. „Nachdem die ‚Sea-Eye 4‘ die erste Rettungsaktion in libyschen Gewässern durchgeführt hatte, verstieß sie gegen die Anweisung, so schnell wie möglich den Hafen von Ortona zu erreichen, und steuerte stattdessen auf ein anderes Migrantenboot zu, zu dem bereits ein Patrouillenboot der italienischen Küstenwache unterwegs war“, teilte die italienische Küstenwache mit.
Zahlen verdreifachen sich gegenüber Vorjahren
In diesem Jahr berichtet Italien von über 75.000 illegalen Überfahrten bis zum 14. Juli, also zwei Wochen über die Jahresmitte. In der Graphik sind die Anlandungen der Jahre 2021 und 2022 jeweils bis zum selben Stichtag verglichen. Das Bild ist kein Gutes: Laut den Zahlen der Abteilung für öffentliche Sicherheit (angesiedelt im Innenministerium) haben sich die Anlandungen in diesem Jahr im Vergleich mehr als verdoppelt. Die Herkunft der Migranten ist hier vor allem afrikanisch. An erster Stelle stehen die Elfenbeinküste und Guinea (je zwölf Prozent aller Angelandeten), gefolgt von Ägypten (10 %). Erst danach folgen die Herkunftsländer Bangladesch (9 %), Pakistan (8 %) und Tunesien (7 %). Syrer spielen mit fünf Prozent kaum eine Rolle.
In Italien angelandete Migranten jeweils vom 1. Januar bis zum 14. Juli jeden Jahres (Quelle: Abteilung für öffentliche Sicherheit im italienischen Innenministerium)
Anteil der häufigsten Nationalitäten unter den in Italien angelandeten Migranten vom 1. Januar bis zum 14. Juli 2023 (Nationalität wie bei der Landung angegeben; Quelle: Abteilung für öffentliche Sicherheit)
Inzwischen gibt es noch einige andere Dekrete. So bestimmt das Cutro-Dekret, benannt nach einem kalabrischen Küstenort, vor dem sich jüngst ein Bootsunglück ereignete, dass der Aufenthaltstitel des „besonderen Schutzes“ nicht in einen Aufenthaltstitel zu Arbeitszwecken umgewandelt werden kann. Dadurch will die Regierung dem Missbrauch des Asylrechts und damit der illegalen Migration als vermeintlichem Weg in den italienischen Arbeitsmarkt entgegenwirken.
Außerdem bleiben Asylbewerber – im Gegensatz zu Deutschland – ausgeschlossen vom Aufnahme- und Integrationssystem (SAI). Daneben sind Haftstrafen von bis zu 30 Jahren für Schlepper vorgesehen. Auch ein Straftatbestand gegen diejenigen, die durch Menschenhandel den Tod von Menschen oder schwere Verletzungen verursachen, wurde geschaffen.
Derweil hat die Regierung Meloni erklärt, dass sie 450.000 Arbeitsmigranten pro Jahr anwerben will. Der größte Teil dürften Saisonarbeiter und Erntehelfer sein. Diese zeitlich begrenzte Zuwanderung, angeblich ohne Möglichkeit eines Familiennachzugs, will Giorgia Meloni auch in Verhandlungen mit Tunesien und Libyen als Joker einsetzen. Man muss auch hier den Erfolg abwarten. Derzeit sieht es noch nicht so aus, als ob sich die Migrationsströme im zentralen Mittelmeer durch eher „administrative“ Maßnahmen und Geldgeschenke stoppen lassen. Ein langer Atem ist ohne Zweifel gefragt. Noch ist nicht klar, dass die italienische Antwort auf das Problem entschieden genug ist.