„Ich trete mit sofortiger Wirkung von meinem Amt als Europäischer Kommissar zurück.“ Das schreibt Thierry Breton an Ursula von der Leyen. Den Brief teilt er zweckmäßigerweise dann auch gleich noch bei X-früher-Twitter.
Der Franzose ist im EU-Kosmos bisher ein mächtiger Mann, zuständig für die Industrie- und Digitalpolitik. Paris hatte ihn nach den EU-Wahlen gerade erst für eine weitere Amtszeit nominiert. Sein plötzlicher Rücktritt ist eine echte Überraschung.
Breton attackiert von der Leyen frontal: „Vor einigen Tagen, in den letzten Zügen der Verhandlungen über das zukünftige Kollegium, haben Sie Frankreich gebeten, meinen Namen zurückzuziehen – aus persönlichen Gründen, die Sie zu keinem Zeitpunkt mit mir persönlich besprochen haben.“ So etwas liest man in Brüssel selten. Um ihn loszuwerden, habe die deutsche Kommissionspräsidentin Frankreich im Gegenzug „ein angeblich einflussreicheres Ressort“ in der neuen Kommission angeboten.
Anders: Von der Leyen hat Breton mit einer handfesten Intrige aus der Kommission geekelt.
Zugegebenermaßen war der Franzose im EU-Kosmos alles andere als beliebt. Immer wieder geriet er in die Kritik, weil er einseitig die wirtschaftspolitischen Interessen von Paris vertrat. Das tun in Brüssel zwar alle (außer den Deutschen) – obwohl die EU-Kommissare eigentlich unabhängig von den nationalen Interessen einzelner Regierungen agieren sollen. Aber Breton tat das besonders schamlos und unverfroren. Zudem verlangte Breton – ganz im Sinne Frankreichs – eine viel stärkere Kontrolle über die großen Digitalkonzerne wie Apple, Google und Meta. Und er führte unabgestimmt eine Art Privatkrieg mit Elon Musk.
Bisher konnte Breton sich das alles leisten, weil Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine schützende Hand über ihn hielt. Gegen Macron traute von der Leyen sich nicht aufzubegehren: Dem französischen Staatsoberhaupt verdankt sie überhaupt ihren Job. Ohne seine Zustimmung wäre sie nie auch nur in die Nähe der EU-Kommissionspräsidentschaft gekommen.
Aber Macrons Lager hat sowohl die letzten EU-Wahlen als auch die jüngsten Parlamentswahlen in Frankreich krachend verloren. Der Franzose ist politisch arg gerupft und gilt bei sich zuhause längst als „lame duck“: als lahme Ente.
Das nutzt von der Leyen jetzt, um sich ihres lästigen Intimfeindes Breton zu entledigen. Macron hat im Moment so enorm viele Baustellen, dass er ihr unmoralisches Angebot annimmt: Er lässt Breton über die Klinge springen, wird jemand anderen als neuen französischen EU-Kommissar nominieren – und der dürfte dann im Gegenzug eine Art Super-Ressort bekommen.
Aber auch ganz ohne Thierry Breton hat Ursula von der Leyen mehr Probleme, als ihr lieb sein kann. Die CDU-Politikerin hat von den Mitgliedsländern verlangt, je einen Mann und eine Frau für das Amt in der Kommission vorzuschlagen. Mehr als die Hälfte der 27 EU-Staaten hat diese Vorgabe schlicht ignoriert (darunter übrigens auch Frankreich).
Aber auch dort, wo man von der Leyen erhörte, erweist sich ihr Quoten-Furor als sensationelles Eigentor:
Slowenien hatte einen (männlichen) Kandidaten, auf den sich Regierung und Opposition im Land schon verständigt hatten: den früheren Präsidenten des Rechnungshofs. Auf Druck von der Leyens wurde der Mann aber zurückgezogen – und gegen die frühere Ministerpräsidentin ausgetauscht. Das sieht die Opposition in Laibach nun aber nicht ein. Sie blockiert deshalb die formalen Schritte, die notwendig sind, damit Slowenien offiziell und rechtskonform einen Kandidaten für die EU-Kommission nominieren kann.
Sowas kommt von sowas.
Zusätzlich kompliziert wird es, weil die linken, sozialdemokratischen und liberalen Kräfte im EU-Parlament nicht wollen, dass von der Leyen den Kommissaren der (aus ihrer Sicht) rechts regierten Staaten Ungarn und Italien wichtige Ressorts zuteilt. Die nach den jüngsten EU-Wahlen enorm starken konservativen und rechten Fraktionen in Brüssel wollen aber genau das.
Im Ergebnis dürften die notwendigen Anhörungen zur Bestätigung der Kommissare viel länger dauern, als bisher geplant war. Wahrscheinlich ist die neue EU-Kommission nicht mehr vor den US-Präsidentschaftswahlen am 5. November im Amt.
Für von der Leyen wäre das eine Blamage.
Darüber dürfte nun wiederum Thierry Breton nicht allzu traurig sein. Seinen Abschied aus Brüssel garnierte er mit einem Bild, das viele Deutungen zulässt: