Tichys Einblick
Zur Lage nach Assads Sturz

„Die Frage ist, ob überhaupt alle Syrer wirklich Demokratie wollen“

Assad hat humanitäres Asyl in Moskau gefunden. Damaskus ist an radikale Dschihadisten gefallen, doch das Land bleibt geteilt, die Lage komplex. Der Autor, Islamwissenschaftler und Ex-Diplomat in Nahost Alfred Schlicht warnt im Interview mit TE vor zu viel Optimismus.

Syrien, Milizenführer al-Dscholani in Damaskus Abu Mohammed al-Jolani Leader Of Syrian Insurgents HTS HTS Hayaat Tahrir Al Sham leader Ahmed Al-Shara, also known as Abu Muhammad Al-Jolani, commander in the operations department of the Syrian armed opposition, delivers a speech from inside the Umayyad Mosque after his troops declared their entry into the capital and the overthrow of Bashar Al-Assad, in Damascus, Syria, on December 8, 2024. Photo by Balkis Press/ABACAPRESS.COM PUBLICATIONxNOTxINxFRAxUK Copyright: xBalkisxPress/ABACAx

IMAGO / ABACAPRESS

Tichys Einblick: Der Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad kam für viele Beobachter unerwartet. Sie haben seit einiger Zeit auf die Zerbrechlichkeit seiner Herrschaft hingewiesen. Wie ist Assads Fall zu erklären?

Alfred Schlicht: Es gab zahlreiche innere Gegner – Islamisten, Drusen, Kurden, einen großen Teil der syrischen Sunniten, demokratische Kräfte. Dass die Assad-Dynastie, die über 50 Jahre an der Macht war, so lange überlebt hat, verdankt sie Iran, Russland und der Hisbollah. Ohne deren Unterstützung wäre das in weiten Teilen Syriens verhasste Regime, das auf der schiitischen Bevölkerungsgruppe der Aleviten beruht, längst gefallen. Nur durch diese massive Hilfe hat das System Assad den 2011 begonnenen und dann eskalierenden ‚arabischen Frühling‘ überstanden.

Welche Gruppen konkurrieren nun um die Macht in Syrien?

Neben der Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) gibt es weitere islamistische Gruppen. So hat der IS im Osten wieder an Terrain gewonnen. Die Kurden im Norden haben damit begonnen, ihren Machtbereich zu konsolidieren und auszubauen. Im Süden haben die Drusen ihre eigene Agenda. Christliche Gemeinschaften müssen sich Sorgen machen, wie die islamistischen Gruppen agieren werden. Ihre Lage war unter dem Assad-Regime zwar nicht gut, aber erträglich. Einige Orthodoxe haben russische Hilfe erhalten. Die Aleviten werden auch ohne Assad versuchen, sich eine Position im Land zu sichern und vor allem ihre Stammregion an der Mittelmeerküste im Nordwesten zu halten und sich gegen Racheakte zu schützen. Demokratische Kräfte gibt es auch, aber sie haben wenig militärisches Potential. Die Hauptstadt Damaskus jedenfalls ist unter Kontrolle der islamistischen Allianz unter der Führung der Haiʾat Tahrir asch-Scham, deren Führer Dschaulani sich derzeit eher gemäßigt gibt und auch sein ehemals ,islamistisches‘ Aussehen angepasst hat. Es gibt jedoch viel Hass: Man hat das gesehen bei der Zerstörung von Assad-Statuen und an der Verwüstung der iranischen Botschaft nach dem Fall von Damaskus und bei der Zerstörung des Assad-Palastes, eines historischen Zeugnisses von 50 Jahren Diktatur.

Könnte es zu einer Teilung des Landes kommen? Wie wird die Türkei in diesem Fall reagieren?

Eine faktische Aufteilung des Landes in verschiedene Machtbereiche haben wir bereits seit Jahren. Das wird wohl so bleiben. Es wird sich bald abzeichnen, dass keine der Gruppen ganz Syrien unter ihre Kontrolle bringen kann. Die Türkei wird weiterhin als Patin für die radikalen sunnitischen Gruppen im Norden fungieren. Sie will einerseits die Macht der Kurden begrenzen, andererseits in ganz Syrien – wo sie die sunnitische Mehrheit als natürlichen Verbündeten sieht – ganz im Sinne ihrer ‚osmanischen‘ Ideologie eine Vormacht-Rolle spielen.Verdrängen lässt sich Erdogan aus Syrien sicher nicht mehr. Die Kurden werden andererseits ihre Gebiete sicher nicht in einen syrischen Staat unter Erdogan-Ägide eingliedern. Darüber hinaus will Erdogan etwa drei Millionen syrische Flüchtlinge, die in seinem Land mehr und mehr Verstimmung schaffen, nach Syrien zurückbringen und braucht dafür die Kooperation syrischer Partner.

Hat auch Israel durch die Schwächung der Hisbollah zum Fall Assads beigetragen?

Durch den Krieg mit Israel ist die Hisbollah heute so geschwächt, dass sie nicht mehr, wie früher, in der Lage ist, substanzielle Bodentruppen nach Syrien an die Front zu werfen. Das gilt auch für den Iran, der durch die Konfrontation mit Israel in seinen Möglichkeiten eingeschränkt ist und in Syrien ja auch selbst israelische Schläge erlitten hat. Russland ist so intensiv mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt, dass auch hier die massive Hilfe, die Assad gebraucht hätte, nicht mehr geleistet werden konnte. Der Fall von Assad macht die Achse Hisbollah–Damaskus–Teheran zunichte. Dies könnte eine Erleichterung für Israel sein, doch sind die neuen Machthaber in Damaskus ebenfalls erklärte Feinde Israels.

Wie ist die Rolle Russlands zu werten?

Dass Russland nicht energischer eingegriffen hat, um seinen Alliierten Assad zu retten, mag damit zu tun haben, dass seine Kräfte weitgehend im Ukrainekrieg gebunden sind. Eine Rolle könnte aber auch spielen, dass Russland die Türkei nicht verstimmen will, die hinter dem erfolgreichen Coup in Syrien steckt. Denn Erdogan hilft den Russen, westliche Sanktionen zu umgehen und Erdgas zu exportieren. Für Russlands Reputation im globalen Süden ist der Fall von Assad allerdings schädlich. Er macht deutlich, dass die Alliierten Russlands nicht unbedingt auf Moskaus Hilfe zählen können, wenn sie sie brauchen. Eine Frage ist auch, ob Russland seine Militärstützpunkte an der syrischen Mittelmeerküste behalten kann.

Gibt es die Chance auf einen „geordneten Übergang“ der Macht?

Ein geordneter Übergang zu wohl organisierten Verhältnissen und zu einem friedlichen Neuanfang ist wenig wahrscheinlich. Zu verschieden sind die Gruppen im Land, zu gegensätzlich die Interessen und zu konträr die ideologischen Positionen. Es ist kaum eine Formel denkbar, die allen Akteuren gerecht würde. Auch ist die Gesprächskultur im Land nicht ausreichend entwickelt. Zielorientierte Debatten konnte es im ‚Familienbetrieb‘ Syrien kaum geben.

Wie sehen Sie die Freudenfeiern der hier lebenden Syrer? Stehen diese den dschihadistischen Gruppen nahe oder freuen sie sich schlicht, dass die Herrschaft Assads zu Ende ist?

Unter den Syrern in Deutschland gibt es bestimmt beide Gruppen: Regimegegner, die sich über den Sturz der verhassten Assad-Sippe freuen und über das Ende der Alevitendiktatur. Aber auch radikale Islamisten, die bei uns ja immer wieder ganz offen für ihre Ansichten demonstrieren können. Auch sunnitische Islamisten wurden ja unter Assad diskriminiert und konnten sich insofern berechtigt fühlen, bei uns um Asyl zu bitten.

Ermutigt durch die großzügige deutsche Anerkennungspraxis… Was bedeuten nun die Ereignisse für Deutschland? Können die Syrer nun in ihre Heimat zurückkehren? Werden sie?

In Deutschland hoffen viele, dass die Syrer jetzt in ihre Heimat zurückkehren, sich dort am Wiederaufbau beteiligen und an einem friedlichen Neuanfang mitwirken. Aber ich fürchte, die wenigsten werden kurz- oder mittelfristig nach Syrien zurückkehren. Dazu sind vor allem die Anreize, in Deutschland zu bleiben – man denke nur ans Bürgergeld! – zu stark. Auch die Option einer Einbürgerung ist unter der Ampel ja für viele Syrer erreichbarer geworden. Es ist sogar möglich, dass sich neue Flüchtlingsströme nach Deutschland – ins Land der offenen Grenzen – aufmachen. Kanzler Scholz hat den Fall des Assad-Regimes als gute Nachricht begrüßt. Und Außenministerin Baerbock gab der Hoffnung Ausdruck, dass nicht radikale Kräfte die Oberhand gewinnen.

Halten Sie die Syrer für demokratiefähig?

Die Syrer haben keinerlei Erfahrung mit wirklicher Demokratie. Sie müssten erst in einem längeren Prozess an gesellschaftliche Vielfalt, offene Diskussionen und Entscheidungsfindungen herangeführt werden, die nicht im Kontext von Cliquenwirtschaft, Einheitsparteien, Personenkult und Überwachungsstaat stattfinden. Um demokratiefähig zu werden, müssen die Syrer noch einen langen Lernprozess absolvieren. Es gibt keine wirklichen Parteien und keine wirkliche Zivilgesellschaft. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf. Dazu kommt die Frage, ob überhaupt alle Akteure auf der syrischen Bühne wirklich Demokratie wollen.


Alfred Schlicht ist Islamwissenschaftler und Orientalist, ehemaliger Diplomat (im Jemen, Jordanien und den USA) und Verfasser mehrerer Bücher zum Nahen Osten, u.a. „Die Araber und Europa“ (Kohlhammer, 2008), „Geschichte der arabischen Welt“ (Reclam, 2013) und „Gehört der Islam zu Deutschland? Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis“ (Kohlhammer, 2021).

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