Unsicherheit, dein Name sei Syrien! Nach der vermeintlichen Machtübernahme durch islamistische Rebellen frohlocken schon manche Politiker bei CDU/CSU, dass nun der subsidiäre Schutz für Flüchtlinge wegfalle, und die auf der Straße feiernden Exil-Syrer nun endlich in ihre Heimat zurückkehren könnten.
Unionsfraktionsvize Jens Spahn schlägt bereits Charterflüge vor: „Wie wäre es, wenn die Bundesregierung sagt: Jeder, der zurück will nach Syrien, für den chartern wir Maschinen, der bekommt ein Startgeld von 1.000 Euro.“ Das Bamf setzt die Bearbeitung aller offenen Asylanträge von Syrern aus. Die Lage habe sich, so der CDU-Politiker Alexander Throm „grundlegend“ geändert, es müsse jetzt geprüft werden, ob der Schutzstatus entfällt.
Der Migrationslobbyist Gerald Knaus findet sogar ganz neue Worte. „Mittelfristig – sollte Stabilität hergestellt werden – könnte das für die gesamte Flüchtlingssituation, auch in Europa, ein historischer Wendepunkt sein“, sagte Knaus dem „Stern“. Syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern hätten sofort die Chance zu sehen, ob es in ihrer Heimat wieder sicher ist. „Ist das so, werden auch Asylanträge in Deutschland und anderen europäischen Ländern zurückgehen.“ Und natürlich: weniger Asylanträge bedeuten, dass die AfD an Rückenwind verliert.
Diese Ansagen sind Populismus pur. Sie unterstellen, dass nur Assad entthront werden musste, und nun in Syrien Milch und Honig fließen – ein Land, über Jahre ausgemergelt von Bürgerkrieg, Mangel, Sanktionen und Hunger. Der Bürgerkrieg ist nicht vorbei. Und die neue Regierung speist sich aus Dschihadisten-Erben der Al-Quaida. Der Eindruck besteht, dass diejenigen, die das „Syrienproblem“ schon immer loswerden wollten, das aber nur nicht auszusprechen wagten, nun mit vorgeschobenen Gründen ein Problem im Handstreich lösen wollen, das man nicht im Handstreich lösen kann.
Im Gegenteil: Die Unsicherheiten sind größer denn je, wie die Zukunft Syriens ausschauen wird.
Erste Unsicherheit: Die Kurdenfrage
Denn die Anhänger dieser angebliche historischen Zäsur sind für die tatsächliche Situation blind. Das beginnt damit, dass Syrien immer noch ein geteiltes Land ist. Mit der Assad-Fraktion fällt zwar der bedeutendste Mitspieler weg. Neben verstreuten IS-Nestern gibt es aber weiterhin die im Nordosten operierenden kurdischen Milizen.
Die Kurden hatten sich bekanntlich schon gegen die Terroristen des Islamischen Staates gewehrt. Mit den dschihadistischen Rebellen haben die Kurden gleich zwei Probleme. Erstens, weil die kurdischen Autonomisten im Grenzgebiet Syrien-Türkei-Irak traditionell eher säkular eingestellt sind. Zweitens, weil die Unterstützung der „Rebellen“ maßgeblich aus der Türkei kommt.
Die Verhinderung kurdischer Autonomie, ob nun in der Türkei oder außerhalb, gehört zur Staatsräson Ankaras. Das ist einer der Gründe, weshalb sich die Türkei in Syrien eingemischt hat; und es ist einer der Gründe, warum sie auch im irakischen Norden nach Einfluss gierte. Die Kurden sind weiterhin ein Volk ohne Nationalstaat. Auch ohne Unabhängigkeit besteht die türkische Sorge, dass eine kurdische Teilrepublik im eigenen Land die Lust nach mehr Freiheiten schüren könnte. Ein weiterer Faktor: Zahlreiche Erdölfelder der Gegend stehen immer noch unter kurdischer Kontrolle.
Dass die Kurden im Nordosten kampflos kapitulieren und sich der neuen Regierung in Damaskus unterstellen werden, ist also unwahrscheinlich – außer, sie erhalten weitreichende Konzessionen, die wiederum die Türkei nur widerwillig abnicken würde. Für die kurdischen Milizen waren die einstigen Islamisten von Idlib, die ihre Herrschaft nun bis Damaskus ausgeweitet haben, lange Zeit nicht mehr als Erdogans Handpuppen. Das „neue Damaskus“ müsste beweisen, dass diese Zeiten vorbei sind.
Danach sieht es zum jetzigen Zeitpunkt nicht aus. Stattdessen hat die Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) zur Befreiung „ganz Syriens“ aufgerufen. Die islamistische HTS führt die „Rebellenallianz“ an. Zu den besetzten Gebieten zählen aber im engeren Sinne nicht nur der kurdische Nordosten und die letzten Rückzugsorte des IS, sondern auch die israelisch besetzten Golanhöhen. Unbestätigten Medienberichten zufolge hat die islamistisch-türkische Offensive gegen die Kurden bereits begonnen.
Zweite Unsicherheit: Die neue syrische Regierung
Wenn es um die Machtübernahme der HTS geht, kommt Afghanistan in Erinnerung. Auch dort hatten sich die Taliban bei ihrer blitzartigen Rückkehr zuerst als moderat ausgegeben. Statt Steinigungsliebhaber traten die freundlichen Mullahs in den Sozialen Netzwerken erfolgreich auf und stellten sich als modern und pragmatisch dar. Auf ähnliche Weise ist es den im Westen als „Rebellen“ bezeichneten Gruppen gelungen, auf Social Media eine erfolgreiche Kampagne der Selbstverharmlosung zu fahren.
Das jetzige Verhalten ist demnach folgerichtig. Bei Revolutionen finden üblicherweise keine sofortigen Säuberungen statt. Stattdessen regiert zuerst der Konsens, um die wacklige Macht zu festigen. So hat es bereits im Iran funktioniert, wo in einer politisch verschiedenfarbigen Anti-Schah-Koalition am Ende die Islamisten ihre Gegner ausrangierten und dann ihr wahres Gesicht zeigten. Dass die syrischen Islamisten sich derzeit etwa moderat gegenüber den Christen verhalten, und sich auch während ihres Vorstoßes milde inszenierten, dürfte mit ein Grund für den zügigen Erfolg gewesen sein.
Das muss aber nichts über die eigentlichen Ziele aussagen. Wenn etwa die Anführer ankündigten, dass es in Syrien seit Urzeiten Minderheiten gegeben hätte, und diese eines besonderen Schutzes bedürften, dann ist das ein treffendes Beispiel für die Kommunikation der HTS. In westlichen Ohren mag es Anklänge an Pluralismus und Minderheitenschutz geben, fromme Muslime dürften dagegen wissen, dass der Dhimmi-Status seine Rückkehr feiert.
Abu Mohammed al-Dschulani, der Anführer der HTS und im Westen bereits als der „Befreier“ bezeichnet, der Baschar al-Assad gestürzt hat, mag mit seiner schillernden Vita als Beispiel gekonnter Verstellung dienen. Seine Bewegung ist eine Abspaltung von Al-Quaida. Er trägt jetzt einen kürzeren Bart und ein Militärhemd statt Turban. Seit der Machtübernahme hat er seinen Kampfnamen abgelegt und trägt wieder seinen Zivilnamen Achmed al-Sharaa. Solche „Stories“ mögen westliche Medien; sie reagieren auf Mediengaukeleien, wie sie Papst Franziskus und Selenskyj schon angewandt haben. Inhalt verschwindet dann hinter Form.
Gegenüber CNN gab er am 6. Dezember ein Interview, bei dem er gekonnt zeigte, dass seine Organisation mit neuen wie alten Medien umgehen kann. Auch hier fällt ein zweideutiger Satz: „Eine Regierung sollte nicht an einer einzelnen Person hängen. Syrien verdient ein politisches System, das Institutionen hat.“
Dass der Islam in politischen Systemen deutlich mehr an Institutionen denn an Einzelpersonen hängt – nie spricht man von einem einzelnen Taliban-Führer, umso mehr von Konzepten wie der Scharia, wenn man nach Afghanistan blickt –, ist keine Neuheit. Freilich werden westliche Beobachter auch in einer solchen Aussage ein Bekenntnis gegen die moderne Diktatur sehen; was ja stimmt, denn Diktatoren in der Tradition Gaddafis, Husseins und Assads waren sämtlich westlich inspiriert und standen mit ihrem Personenkult und ihrer Machtzentrierung im Gegensatz zum religiös-tribalistischen Wesen, das im Orient bis zum Ersten Weltkrieg dominierte.
Mit Assads Sturz stirbt damit ein letzter Teil jenes Nahen Ostens, der einmal an säkularen Diktaturen ausgerichtet war, und deren prominentesten Figuren zwischen 1950 und 2000 agierten. Der laizistische Panarabismus mit seinen sozialistisch-autoritären Spielarten ist tot. An seine Stelle tritt aber nicht die Demokratie nach westlichem Vorbild, sondern islamistischer Fundamentalismus, tribalistische Partikularisierung oder – im schlimmsten Fall – blankes Chaos. Die neue Regierung will Israel angreifen, kann sich aber kaum sicher sein, das eigene Land komplett zu befrieden.
Dritte Unsicherheit: Der Iran
Nach Assad sitzt der größte Verlierer in Teheran. Der Iran hat in den letzten 20 Jahren an Macht im Nahen Osten gewonnen, wo allseits von einem neuen sunnitisch-schiitischen Gegensatz die Rede war, angeführt von Saudi-Arabien auf der einen und dem Iran auf der anderen Seite. Dass der Iran in diese Position gelangte, war dem Sturz eines Diktators zu verlangen: Mit dem Ende von Saddam Hussein verlor der Irak seine wichtige Rolle zur Erhaltung der Balance im Nahen Osten. Der Sturz von Assad ist in umgekehrter Weise das Ende iranischer Großmachtbestrebungen.
Denn mit dem Wegfall Husseins driftete der Irak in die Handlungsunfähigkeit. Dem Iran bot sich die Möglichkeit, die schiitische Mehrheitsbevölkerung des Zweistromlandes zu beeinflussen. Von Teheran über Bagdad und Damaskus nach Jerusalem – ein alter Traum der iranischen Revolution. Das Regime in Damaskus und die Hizbollah im libanesisch-israelischen Grenzgebiet bildeten eine Achse durch den gesamten Nahen Osten. Teheran konnte damit seinen Einfluss an mehreren Stellen geltend machen und eine Reihe von Stellvertreterkriegen anfachen oder auf lauer Flamme am Brodeln halten. Die Golfstaaten sahen sich in einer solchen Zwickmühle, dass sie sich Israel annäherten.
Damit begann eine langsame Isolation der Mullahs. Der Huthi-Konflikt im Jemen, wo der saudi-arabische Rivale seit Jahren einen von der Weltöffentlichkeit kaum bemerkten Krieg gegen iranisch-schiitische Verbündete führt, ist zwar immer noch nicht beendet. Nach dem Niedergang der Hizbollah und dem Wegfall Assads wird die Lage für den Iran allerdings merklich angespannter. Teheran hat Assad nicht fallen lassen; es hatte angesichts der Schwächung gar keine Möglichkeit, einzugreifen. Die Erosion iranischer Dominanz schreitet jeden Tag fort. Die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus, der ein erklärter Gegner des iranischen Regimes ist, dürfte die Mullahs in noch größere Not treiben.
Vierte Unsicherheit: Russland
Russland hat ähnlich wie der Iran im Nahen Osten erheblich an Einfluss eingebüßt, wenn auch die Folgen nicht so katastrophal sind wie für Teheran. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das Schicksal der russischen Basen in Syrien noch ungeklärt ist. Bei den Stützpunkten handelt es sich einerseits um die Marinebasis Tartus, die seit Sowjetzeiten besteht, und den Luftwaffenstützpunkt in Latakia (Khmeimim Air Base), den Russland seit 2015 betreibt.
Bereits jetzt hat das russische Prestige im Nahen Osten erheblichen Schaden genommen. Seit dem 19. Jahrhundert sieht sich Russland als Schutzmacht der orientalischen Christen und hat auch in der säkularen Sowjetzeit immer wieder Einfluss in der Region geltend gemacht – etwa über sozialistisch angehauchte Verbündete, die in Kairo oder Damaskus Fuß gefasst hatten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist diese Einflusszone merklich zusammengeschrumpft. Syrien war der letzte Brückenkopf. Moskau hatte deswegen in der Vergangenheit klargemacht, dass es bis zum Äußersten gehen würde, um Assad im Präsidentensessel zu halten. Nun ist in einer Woche dieser ganze Anspruch und auch das Renommee Russlands verpufft. Unter umgekehrten Vorzeichen: wieder ein Afghanistan-Déjà-vu, dieses Mal mit russischem statt amerikanischem Personal.
Der rasche Vorstoß der Islamisten und die Paralyse Moskaus haben bereits die Theorie genährt, in Damaskus fände eine saubere Wachablösung bevor. Demnach wäre der russische Preis für die Ostukraine der Verlust Syriens. Die geordnete Evakuierung Assads spricht dafür; er wird sich unter russischer Hand keinem Internationalen Strafgerichtshof stellen müssen, keinem syrischen Gericht und erst recht nicht einem aufgebrachten Mob. Das Schicksal Gaddafis und Husseins bleibt ihm erspart. Damit wahren auch die Russen ihr Gesicht.
Dagegen spricht allerdings der Verlust der oben erwähnten Basen. Barack Obama hat Wladimir Putin einmal provoziert, in dem er Russland zur bloßen Regionalmacht abkanzelte. Der Unterschied zur Groß- oder Weltmacht besteht in globaler Initiative. Genau diese Aufgabe haben die syrischen Basen. Sie gewähren der russischen Flotte und Luftwaffe, dass sie im Mittelmeerraum und Nahen Osten operativ bleiben können. Sie erleichtern als Knotenpunkt russischer Machtausübung auch das Geschäft der Söldnergruppe Wagner in Afrika.
Fallen Tartus und Latakia, dann fällt auch Russlands Großmachtanspruch. Russland hat demnach angekündigt, über die Zukunft beider Basen verhandeln zu wollen. Die Ereignisse überschlagen sich jedoch derzeit. So sollen bereits zahlreiche russische Transportflugzeuge auf dem Weg nach Latakia sein. Man plant offenbar die Evakuierung.
Fünfte Unsicherheit: Die Türkei
Was der türkische Präsident Recep Erdogan plant, ist derzeit noch unbekannt. Die letzten Wochen waren aus seiner Sicht ein voller Erfolg; man kann sogar davon ausgehen, dass die Türken selbst nicht mit dem derart schnellen Siegeszug gerechnet haben. Dass die Türkei seit Jahren eine von ihnen kontrollierte Pufferzone – unfreundlicher ausgedrückt: einen de facto Vasallenstaat – in Nordsyrien anstreben, ist kein Geheimnis. Dass dieser Damaskus einschließen würde, damit haben wohl selbst Optimisten in Ankara nicht gerechnet.
Die türkische Ambition in der Region hat mehrere Facetten. Die Einhegung und Kontrolle der Kurden wurde weiter oben erwähnt. Ein anderer Punkt sind die neo-osmanischen Ambitionen Erdogans. Das sind keine historischen Fantasien. In Libyen mischt sich die Türkei seit Jahren ein, um dort ihren Einfluss zu wahren; mit ein Grund dafür, warum dieses Bürgerkriegsland nicht zur Ruhe kommt. Syrien als Nachbarland ist dabei ein Schlüssel, um die eigene Macht im Nahen Osten auszuweiten. Beide Länder verband in den vergangenen Jahren eine intensive Rivalität, sowohl ideologisch als auch persönlich, als auch territorial. Die türkische Hatay-Region am Golf von Issos wird auf syrischen Atlanten bis heute als syrisch ausgezeichnet.
Die im Grunde historisch erledigte Hatay-Frage führt dabei zu einem nächsten Problembereich. Durch die Flucht zahlreicher Syrer wurde diese Gegend in vielen Teilen re-arabisiert. Nicht nur dort gelten die „syrischen Gäste“ mittlerweile als störende Untermieter. Die Schaffung eines syrischen Vasallenstaates dürfte in Erdogans Kalkül auch dazu dienen, um die mittlerweile drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei wieder zur Rückkehr zu zwingen. Der Aufruf der neuen syrischen Regierung an ihre Landsleute, nun wieder zurückzukehren, richtet sich wohl weniger gen Westen, denn vielmehr an die türkischen Syrienflüchtlinge. Es dürfte eine Bedingung für die umfangreiche Unterstützung gewesen sein.
Für Ankara ist aber trotz erfolgreichem Anfang die weitere Zukunft ungewiss. In den vergangenen Jahren schlugen Bemühungen fehl, den kurdischen Nordosten zu unterwerfen; ob dies jetzt mit vereinten syrisch-türkischen Vorstößen gelingt, ist noch nicht klar. Und vor allem könnte der überraschende Erfolg der Syrien-Offensive einen vermeintlichen Vasallen geschaffen haben, der aber mit jedem überproportionalen Machtzuwachs nach mehr Unabhängigkeit streben dürfte. Erdogan dürfte die Russen als störendes Element in seinem Vorhof losgeworden sein – doch zu welchem Preis?
Sechste Unsicherheit: Israel
Die israelischen Offensiven gegen die Hizbollah sind mitverantwortlich für den Zusammenbruch des syrischen Kartenhauses und die Erosion iranischer Macht. Obwohl das Land an gleich mehreren Fronten gebunden ist, hat die israelische Luftwaffe bereits Einsätze gegen syrische Ziele geflogen, wohl vor allem deswegen, um den neuen Machthabern in Damaskus in einer Art Katapult-Szenario so viel Waffenmaterial wie möglich zu zerstören.
Netanjahus Ankündigung, dass in Syrien eine historische Zäsur begonnen habe, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwar ein alter Rivale entfernt wurde, aber dafür ein neuer hinzugekommen ist. Eine direkte Grenze zwischen Israel und einem neuen islamistischen Staat wäre eine noch größere Bedrohung als das alte Assad-Regime. Fachleute spekulieren bereits über einen Bodeneinsatz israelischer Truppen bis nach Damaskus – das islamistische Regime wäre dann wieder so schnell vom Erdboden verschwunden, wie es gekommen war.
Denn auch Benjamin Netanjahu dürfte genau zugehört haben, dass in Damaskus nicht nur der Traum von der Rückeroberung der Golan-Höhen, sondern auch der Angriff auf israelisches Kernland auf der Tagesordnung steht. Israel könnte mit diesem Argument eine weitere Intervention starten. Ob das Land dazu noch die Kraft hat, ist eine andere Frage. Dass die Konfrontation zwischen Jerusalem und Damaskus unabwendbar sein wird, dürfte dagegen als sicher gelten. Dass Netanjahu angekündigt hat, mit den Kurden zusammenzuarbeiten, dürfte weiteren Zündstoff bedeuten.
Siebte Unsicherheit: Die USA
Die Ereignisse überschlagen sich in einem Intermezzo zwischen zwei US-Präsidentschaften. Donald Trump war bekanntermaßen kein Freund von Syrien-Interventionen und beließ es bei einigen Scharmützeln. Problematisch dürfte allerdings der kurdische Knoten auch für die US-Amerikaner werden. Die hatten sich nämlich mit diesen verbündet, nicht zuletzt, um die Ölquellen im kurdischen Territorium zu sichern. Eigentlich hatte Trump die Truppen schon in seiner ersten Amtszeit zurückziehen wollen – wurde aber vom Verteidigungsministerium überstimmt. Am Ende war die Kontrolle über die Ressourcen ausschlaggebend.
Wie nun aber mit der anrollenden syrisch-türkischen Offensive umgehen? Die US-Soldaten vor Ort sind reduziert worden, ihre Bedeutung im Konflikt noch unklar. Dass der Nato-Partner Türkei in der Region seit Jahrzehnten seine eigene Suppe kocht, dürfte auch Washington missfallen. Derzeit sprudeln die Quellen zugunsten der kurdischen Autonomie-Regierung. Ob die Profite demnächst nach Damaskus oder gar Ankara gehen, dürfte derzeit heiß debattiert werden in diversen Beraterstäben. Die USA konnten bisher gut damit leben, dass sie in neutrale Taschen flossen.
Nicht nur das Verhältnis zu Ankara, sondern auch zu Damaskus bleibt derzeit unklar. Trump hatte den Sturz Assads begrüßt. Bezeichnend ist, dass der neue Vizepräsident J. D. Vance sich kritisch zur Machtübernahme geäußert hat und bereits eine große Gefahr für die einheimischen Christen prophezeite. Reicht es Trumps Amerika, sich komplett aus Syrien zurückzuziehen?
Keine Unsicherheit: Die EU und Deutschland
Brüssel wie Berlin laufen den Entwicklungen hinterher. Obwohl Deutschland ein Gros syrischer Flüchtlinge aufgenommen hat, zeigte es sich heute wie die letzten Jahre tatenlos. Initiativen kamen aus Budapest und Rom, indes man in Berlin lieber mit den innenpolitischen Folgen der Massenflucht operierte. Wie wenig die deutsche Politik verstanden hat, was in Syrien passiert, zeigt sie nicht nur bei plötzlichem Jubelgeschrei oder Abschiebeforderungen. Denn für Syrien wird es vermutlich nicht besser, sondern schlimmer werden.
Während Merkel-Wasserträger das Bild inszenieren, dass die Zeit der Not vorbei sei, und nun alle Syrer nach Hause zurückkehren könnten – und damit zynisch behaupten, dass all die Flüchtlinge tatsächlich nur Gäste gewesen seien, die man nunmehr mit Fußtritt hinauswerfen kann –, wird die Wirklichkeit eher so aussehen, dass die Zukunft weitere Fluchtbewegungen bringen könnte. Wer allerdings Außenpolitik nur als Verlängerung der Innenpolitik begreift, der muss sich nicht wundern, dass er beim Bohren dicker Bretter außen vor bleibt.