Ganz haben die Briten das Faszinosum dieses Politikers noch immer nicht verstanden. Boris Johnson wird mit einem Felsbrocken verglichen, der an einem Abgrund zu liegen kam und scheinbar jeden Moment hinabstürzen kann: „Er bewegt sich nicht, aber man muss ihn anschauen. Man kann die Augen nicht von ihm abwenden.“ Auch bei Johnson genügt die Andeutung einer Bewegung, um die britische Öffentlichkeit in eine Mischung aus Erwartung und Grauen zu versetzen. Andere fühlen sich eher an das fragile Riesen-Ei Humpty-Dumpty erinnert, das von einer Mauer fiel und zerbrach und im Englischen einen tollpatschigen Menschen bezeichnet. Der Leitartikler der Boulevardzeitung Sun schloss seinen Vergleich allerdings damit ab, dass dieser „Humpty Dumpty mit Riesen-Ego“ immer noch gewinnen kann – wenn er denn antritt.
Am Samstag kehrte Johnson vorzeitig aus seinem Urlaub in der Dominikanischen Republik zurück. Einem engen Verbündeten hatte er zuvor gesagt: „Ich fliege zurück, Dudders. Wir machen das. Ich bin bereit dafür.“ Das reichte, um mehr als 50 Abgeordnete auf seine Seite zu bringen und die Medien in die besagte Erwartungshaltung zu bringen. Der Kampf um dem Tory-Vorsitz wird also vermutlich zwischen zwei klaren Antagonisten entschieden. Die dritte und bislang einzige offizielle Kandidatin Penny Mordaunt bleibt deutlich abgeschlagen mit 24 Unterstützern. Rund 160 Abgeordnete haben sich bisher nicht erklärt. Bis Montag um 14 Uhr müssen alle Kandidaten mindestens 100 Abgeordnete hinter sich gebracht haben.
Rishi Sunak hatte seine Kandidatur am Samstag noch nicht erklärt, erreichte aber die notwendige Unterstützerzahl schon am Mittag. Einige bekannte Namen reihen sich hinter ihm ein. Nicht nur der ehemalige Außen- und Justizminister Dominic Raab, der ihn schon bei der letzten Vorsitzendenwahl unterstützte, blieb Sunak treu. Auch Kemi Badenoch erklärte nun ihre Unterstützung für den Ex-Schatzkanzler, obwohl sie sich zugleich einen „großen Fan“ Johnsons nennt. Badenoch sieht die „einfacheren Zeiten“ des EU-Austritts verflogen und fordert einen Kandidaten von „geduldiger, ehrlicher, kompetenter, konservativer Tugend“. Man meint die Stimme von Badenochs Mentor Michael Gove zu erkennen, der schon einmal erklärte, dass Johnson nicht als Premierminister geeignet sei. Damals wurde Theresa May gewählt.
Ein subtileres Argument brachte der Thatcher-Biograph und Kolumnist Charles Moore vor. Es sei noch nicht der richtige Moment für ein Johnson-Comeback gekommen. Im Daily Telegraph schrieb Moore: „Boris könnte unter anderen Umständen zurückstürmen, mit einer Labour-Regierung in Auflösung und einer glanzlosen Tory-Opposition, die eine Erneuerung anstrebt. Ich glaube nicht, dass das im Moment funktioniert.“ Johnson solle „die Sache“ für den Moment „aussitzen“. Das würden ihm auch seine wahren Freunde und Fans empfehlen. Zu besonderer Vorsicht scheint der Parlamentsausschuss zu Partygate zu raten, vor dem noch Aussagen von Regierungsmitarbeitern, vielleicht auch von Johnson selbst zu erwarten sind. Das nannte auch Dominic Raab in der Times als Hauptargument gegen Johnson, den auch er einst unterstützte. Die „Seifenoper Partygate“ dürfe die Regierungsgeschäfte nicht noch einmal belasten.
Umfragen zeigen, dass derzeit alle drei konservativen Kandidaten gegen den Labour-Vorsitzenden Keir Starmer das Nachsehen haben, obwohl es natürlich auch im Königreich keine Direktwahl des Premiers gibt. Johnson erringt aber eine etwas stärkere Unterstützung der eigenen Leute als Sunak und Mordaunt, während er Starmer zu einigen Prozentpunkten mehr verhilft. Am engsten wäre der Abstand zwischen Starmer und Sunak. Aber auch die Polarisierung, die Johnson bewirkt, könnte sich zu Gunsten der konservativen Partei auswirken. Derzeit liegt Labour übrigens rund 30 Prozentpunkte vor den Konservativen. Jeder neue Vorsitzende sollte da nützen.
In seinem kurzen Antrittsschreiben vom Sonntagmorgen stellt sich Sunak, wie zu erwarten war, als Mann der Wirtschaft und Finanzheiland vor: Er wolle die Wirtschaft „in Ordnung bringen“, die Partei einigen und für das Land „liefern“. Sunak kann davon profitieren, dass seine Voraussagen über Truss’ Steuerentlastungen eingetreten sind. Sein Programm entspricht in etwa dem einer schwäbischen Hausfrau als britischer Premier. Eines muss man Sunak lassen: Er hat laut eigenem Erzählen von Anfang an finanzielle und wirtschaftspolitische Vorbehalte gegen die Lockdown-Politik gehabt und könnte insofern tatsächlich als ökonomisches Gewissen des Landes auftreten.
Und viele Sunak-Unterstützer haben schon vor Sunak selbst genau diesen Chor angestimmt. Sie stellen die wirtschaftspolitische Kompetenz des Ex-Schatzkanzlers in den Vordergrund und fordern, dass der neue Premierminister vor allem eine Antwort auf den Anstieg der Lebenshaltungskosten geben müsse. So sagte Ex-Außenminister Malcolm Rifkind (unter John Major) in der Times, in der derzeitigen Phase sei vor allem eine „kohärente Wirtschaftspolitik“ gefragt. Johnson habe in seiner Zeit als Premier nie größeres Interesse an der Wirtschaftspolitik gezeigt. Aus der Sicht des Brexit-Unterhändlers Lord Frost brächte eine neue Johnson-Ära das Risiko von „Chaos und Konfusion“ mit sich.
Der Mandatsgewinner von 2019 wäre zurück
Sechs amtierende Minister unterstützen Johnson, darunter Verteidigungsminister Ben Wallace, der eine eigene Kandidatur ausschloss, und Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg, einer der treuesten Johnson-Unterstützer. Rees-Mogg glaubt, dass die Rückkehr Johnsons, die Märkte definitiv beruhigen werde. Außerdem habe Johnson schon bewiesen, dass er die Flügel der Partei vereinen und Wahlen gewinnen kann. Mehr noch, mit Johnson käme der Politiker zurück, der 2019 das Mandat des britischen Volkes für fünf Jahre gewann: „Viele rufen nach Neuwahlen, weil, wie sie sagen, die Person, die die Wahlen gewonnen hat, nicht mehr an der Macht ist.“ Das könnte man durch eine erneute innerparteiliche Johnson-Wahl leicht ändern. Ben Wallace blieb grundsätzlich vorsichtig, wenn er sagte, er tendiere zu Johnson.
Für viele Unterstützer ist die Tatsache von Bedeutung, dass Johnson den EU-Austritt vollzogen hat und von ihm Führung in der neuen Epoche der britischen Unabhängigkeit erwartet wird. So sagte der Nordirland-Minister Chris Heaton-Harris, ebenfalls ein Unterstützer: „In einer Zeit wirtschaftlicher und internationaler Ungewissheit brauchen wir einen Anführer, der schon etwas für das britische Volk geleistet hat, der das Mandat nicht nur der konservativen Parteimitglieder, sondern auch des Landes hat.“ Zudem fürchte Labour Johnson am meisten von allen Kandidaten, weil er in der Lage sei, Wahlen zu gewinnen.
Zu den Johnson-Anhängern in der konservativen Fraktion gehört außerdem Priti Patel, die ebenfalls sein siegreiches Wahlprogramm von 2019 hervorhob, das immer noch umzusetzen sei. Am Montag wird Johnson mit der EU-kritischen European Research Group sprechen, zu der auch Rees-Mogg zählt. Mit ihren 92 Mitgliedern könnte die Gruppe ein wertvolles Stimmenreservoir für Johnson darstellen. Die Ex-Innenministerin Suella Braverman, ebenfalls Teil der Brexit-Rechten, hat sich allerdings inzwischen für Sunak erklärt: Jetzt sei nicht die Zeit für „Phantasien“. Bravermans Schwenk wird als bedeutsamer Erfolg für Sunak gewertet.
Eine Kluft wie ein roter Faden durch Johnsons politisches Wirken
Johnsons eigentliche Stärke liegt aber nicht in der Unterstützung durch einflussreiche Parteigrößen, sondern in seiner anhaltenden Popularität beim Wähler. Inzwischen halten 57 Prozent der konservativen Wähler (37 Prozent von allen Wählern) seinen Rückzug von diesem Sommer für einen Fehler. Zwei Drittel glauben laut dem Telegraph, dass ihm eine Wiederkehr an die Spitze der Regierung gelingen kann. Das Nadelöhr bleiben insofern die 100 Abgeordnetenstimmen, die Johnson bis Montag um 14 Uhr bekommen muss. Und erst wenn er sie gewonnen hat, wird Johnson seine Kandidatur erklären. Dann lautet die Wahl Sunak oder er. Sonst wird über den „Einheitskandidaten“ Sunak abgestimmt. Eine Stichwahl unter den Mitgliedern könnte Johnson aber immer noch gewinnen, auch wenn die konservativen Amtsträger in den Kommunen laut einer aktuellen Umfrage mit hauchdünnem Vorsprung für Sunak stimmen (48 zu 45 Prozent) – die Parteimitglieder gelten als Boris-näher.
Erneut zeigt sich damit eine Kluft, die sich wie ein roter Faden durch das politische Wirken Johnsons zieht: der Kontrast zwischen dem Parlament und dem britischen Volk, das in diesem Fall von den einfachen Parteimitgliedern repräsentiert wird. Es ist klar, wo Johnson hier steht. Es gibt nur ein paar Probleme, die auch wohlgesonnene Kommentatoren immer wieder benennen: Es gibt Erinnerungen an eine Regierung im Chaos, die von außen durch den Lockdown-Skandal angreifbar geworden ist, der noch immer nicht ganz aufgearbeitet wurde. Der neue Johnson wird es vermutlich mit einer kritischeren Fraktion zu tun haben, auch wenn viele sich erinnern werden, dass sie ihren Sitz auch ihm zu verdanken haben.
Ein Treffen zwischen Sunak und Johnson wird seit Samstag ungeduldig erwartet, könnte aber ausbleiben. Man will so einen anhaltenden Machtkampf in der Regierungsfraktion vermeiden. Aber wovon sollte so ein Treffen handeln? Zwischen Sunak und Johnson scheint jede Brücke abgebrochen. Aus der Tory-Fraktion hört man, wie tief verwurzelt, „viszeral“ ihr Hass aufeinander inzwischen ist: „Sie haben vollkommen verschiedene Perspektiven, vollkommen verschiedene Visionen für die Wirtschaft.“ Angesichts des Argumentbündels scheint es in der Tat unwahrscheinlich, dass einer von beiden noch einmal im Kabinett des anderen als Minister dienen könnte. Für Johnson wurden schon die Ämter des Innen- oder Außenministers vorgeschlagen. Johnson als Kleine-Boote-Einsammler für einen Premier Sunak? Das wäre wirklich kurios. Eher schon wirkt da das Außenamt logisch, aber da war Johnson schon.
Die Brexit-Gegner freuen sich schon über die Schleifung der Tories
Klar bleibt: Es wird keinen besseren Boris geben. Er wird genau derselbe sein, der er immer war. Eine Spur chaotisch, großzügig nach allen Seiten in schon unangebrachter Weise, aber auch ein Sprengsatz an vielen Gewissheiten des alten Establishments. Als Zugeständnis an diesen dauernden Geist der Dinge wird nun ein Verbleiben von Jeremy Hunt im Schatzkanzleramt von Johnson-Alliierten angeboten.
Tatsächlich war Johnsons vergangene Regierungszeit eine Zeit des Gleichgewichts. Weder wurden die Steuern maßlos erhöht, um Ausgabenwünsche zu befriedigen, noch stark gesenkt, um mehr Investitionen zu fördern. Man konnte Johnsons Politik als staatliche Industriepolitik geißeln, aber man konnte ihr nicht vorwerfen, dabei nicht einen Kompromiss mit dem alten Establishment der Konservativen geschlossen zu haben, das solchen Investitionen eher skeptisch gegenüberstand. Diesen Kompromiss wird Johnson vermutlich erneuern und so wiederum etwa in der Mitte der Partei zu stehen kommen – zwischen den neuen „Red Wall“-Abgeordneten im Norden und den Blue-Wallern im reicheren Süden.
Am Samstag füllten tausende Demonstranten die Straßen Londons. Es waren nicht die Anhänger des einen oder anderen Bewerbers um den konservativen Parteivorsitz, sondern Gegner von vermutlich allen Kandidaten. Denn der Brexit, das Akzeptieren des Referendums ist in der konservativen Partei noch immer ein allseits anerkannter Glaubenssatz. Auf den Straßen Londons fanden sich dagegen die Brexit-Gegner ein, die quasi eine Annullierung des Referendums fordern. Das wäre die patriotische Tat, wird in Verkennung der Wirtschaftsdaten behauptet, die keineswegs hergeben, dass dieser Austritt Großbritannien schwer geschadet hätte. So etwas ist ohnehin nicht leicht zu beweisen, denn wie die vergangenen Monate zeigten, gibt es zu viele Faktoren, die die Ereignisse und Ergebnisse auch beeinflusst haben dürften.
Doch es sind die alten Argumente, die von den EU-Befürwortern angeführt werden: das leichtere Reisen, der Binnenmarkt, die Verbundenheit mit den anderen Europäern. Die könnte ein Premier Sunak oder Johnson aber auch anders herstellen. Johnson war offen für alternative Foren wie die Europäische Politische Gemeinschaft, die einen „politischen Kranz“ um die Europäische Union bilden, in dem Probleme gelöst werden. Denn scheinbar unlösbare Probleme lösen, gordische Knoten mehr oder minder durchschlagen – das wird als eine Hauptkompetenz Johnsons angesehen, dessen erster Vorname übrigens Alexander ist.